Lade Inhalt...

Programmwortschatz einer höfischen Dichtersprache

«hof/hövescheit», «mâze», «tugent», «zuht», «êre» und «muot» in den höfischen Epen um 1200

von Nina Bartsch (Autor:in)
©2014 Dissertation 432 Seiten
Reihe: Deutsche Sprachgeschichte, Band 4

Zusammenfassung

Diese Arbeit versteht sich als Beitrag zur Diskussion um die sogenannte höfische Dichtersprache. Den Ansatzpunkt für die Untersuchung bildet dabei die Analyse des oft als gruppenspezifisch verstandenen Wortschatzes. Die Programmwörter hövescheit, mâze, tugent, zuht, êre und muot dieses Wortschatzes entwerfen in ihrer unterschiedlichen sprachlichen Verwendung das für den literarischen Handlungsraum hof gültige Regelwerk und dessen Grenzen. Durch die empirische Analyse der sprachlichen Verwendung der einzelnen Programmwörter und deren konzeptioneller Verknüpfung im Sinne eines Programmwortschatzes in der höfischen Epik um 1200 wird eine bisher bestehende Forschungslücke gefüllt und so eine Basis für weiterführende Forschungsfragen geschaffen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Forschungsüberblick
  • 1.1. Die frühe Forschung: das 19. und beginnende 20. Jahrhundert
  • 1.2. Die Frage der Terminologie
  • 1.3. Die höfische Dichtersprache im Kontext von Kultur, Gesellschaft und Sprache
  • 1.4. Exkurs: Heinrich von Veldeke und die höfische Dichtersprache
  • 2. Forschungsvorhaben
  • 2.1. ,Die’ höfische Dichtersprache im Spiegel der Forschung
  • 2.1.1. Parameter der Begriffsbestimmung
  • 2.1.2. Der Wortschatz als Charakteristikum, einer’ höfischen Dichtersprache…
  • 2.1.3. Zusammenfassung: Desiderata der Forschung
  • 2.2. Erschließung (historischer) Wortschätze
  • 2.3. Forschungsfrage und Untersuchungsgegenstand
  • 2.4. Perspektivierung der Ergebnisse
  • 3. Empirischer Teil
  • 3.1. hof
  • 3.1.1. Stand der Forschung
  • 3.1.2. Heinrich von Veldeke: Eneasroman
  • 3.1.3. Hartmann von Aue: Iwein
  • 3.1.4. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde
  • 3.1.5. Wolfram von Eschenbach: Parzival
  • 3.1.6. Nibelungenlied
  • 3.1.7. Exkurs: courtoise bei Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach
  • 3.1.8. Fazit
  • 3.1.8.1. Semantische Konzepte
  • 3.1.8.2. Sprachliche Konzepte
  • 3.2. mâze
  • 3.2.1. Stand der Forschung
  • 3.2.2. Heinrich von Veldeke: Eneasroman
  • 3.2.3. Hartmann von Aue: Iwein
  • 3.2.4. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde
  • 3.2.5. Wolfram von Eschenbach: Parzival
  • 3.2.6. Nibelungenlied
  • 3.2.7 Fazit
  • 3.2.7.1. Semantische Konzepte
  • 3.2.7.2. Sprachliche Konzepte
  • 3.3. tugent
  • 3.3.1. Stand der Forschung
  • 3.3.2. Heinrich von Veldeke: Eneasroman
  • 3.3.3. Hartmann von Aue: Iwein
  • 3.3.4. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde
  • 3.3.5. Wolfram von Eschenbach: Parzival
  • 3.3.6. Nibelungenlied
  • 3.3.7. Fazit
  • 3.3.7.1. Semantische Konzepte
  • 3.3.7.2. Sprachliche Konzepte
  • 3.4. zuht
  • 3.4.1. Stand der Forschung
  • 3.4.2. Heinrich von Veldeke: Eneasroman
  • 3.4.3. Hartmann von Aue: Iwein
  • 3.4.4. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde
  • 3.4.5. Wolfram von Eschenbach: Parzival
  • 3.4.6. Nibelungenlied
  • 3.4.7. Fazit
  • 3.4.7.1. Semantische Konzepte
  • 3.4.7.2. Sprachliche Konzepte
  • 3.5. êre
  • 3.5.1. Stand der Forschung
  • 3.5.2. Heinrich von Veldeke: Eneasroman
  • 3.5.3. Hartmann von Aue: Iwein
  • 3.5.4. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde
  • 3.5.5. Wolfram von Eschenbach: Parzival
  • 3.5.6. Nibelungenlied
  • 3.5.7. Zusammenfassung
  • 3.5.7.1. Semantische Konzepte
  • 3.5.7.2. Sprachliche Konzepte
  • 3.6. muot
  • 3.6.1. Stand der Forschung
  • 3.6.2. Heinrich von Veldeke: Eneasroman
  • 3.6.3. Hartmann von Aue: Iwein
  • 3.6.4. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde
  • 3.6.5. Wolfram von Eschenbach: Parzival
  • 3.6.6. Nibelungenlied
  • 3.6.7. Fazit
  • 3.6.7.1. Semantische Konzepte
  • 3.6.7.2. Sprachliche Konzepte
  • 4. Ausblick
  • 5. Literatur
  • Reihenübersicht

← 10 | 11 → 1. Forschungsüberblick

Zu der sogenannten höfischen Dichtersprache1 oder vielleicht unverfänglicher formuliert der Sprache der höfischen Dichter ist viel gesagt und über ihren Charakter noch häufiger kontrovers diskutiert worden.2

Um die gesamte Forschung angemessen darstellen und perspektivieren zu können, erscheint eine weitgehend chronologische Darstellung und deren thematische Organisation unter Berücksichtigung der verschiedenen wissenschaftlich und ideologisch3 begründeten Ansichten auf den Untersuchungsgegenstand die einzig sinnvolle zu sein. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass ein Zeitraum von knapp 200 Jahren Forschungsgeschichte zugänglich gemacht werden soll, in deren Verlauf ganz unterschiedliche Perspektiven auf einen nur schwer fassbaren Gegenstand entwickelt wurden, die jeweils nur in der Kontextualisierung größerer geistesgeschichtlicher Strömungen und wissenschaftlicher Neuorientierungen verständlich werden.

Ein erstes Hindernis für eine strukturierte Darstellung der Forschungsliteratur ergibt sich bereits in dem Problem der angemessenen Begrifflichkeit und daran anknüpfend in der Frage des eigentlichen Gegenstandes der wissenschaftlichen Diskussion und dessen konkreter Benennung. Versuchen die Protagonisten der Diskussion den Beweis der Existenz einer höfischen Dichtersprache, einer Gemeinsprache, einer Kunstsprache, einer Literatursprache oder eines Funktiolektes zu führen? Alle diese Termini oder eben die bewusste Meidung eines Terminus durch begriffliche Umschreibung lassen sich innerhalb der fast 200-jährigen Forschungsdebatte finden. In einigen Fällen liegt der unterschiedlichen Benennung eine semantische Differenzierung zugrunde, in einigen Fällen referieren sie auf Identisches.

← 11 | 12 → Allen Ansätzen zur Begriffsbestimmung und der Definition des dahinterliegenden Gegenstandes der Beschäftigung ist der Bezug zu den Ursprüngen der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bei Jacob Grimm4 und Karl Lachmann5gemein. Jeglicher Beitrag zur Diskussion ist bestrebt, diese frühesten Überlegungen zu stützen6 oder in Opposition7 zu ihnen zu treten. Erst im 20. Jahrhundert vollzieht sich die gedankliche und argumentative Trennung von diesen lange anerkannten Autoritäten und ermöglicht eine weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzung unter anderer Perspektivierung.

Der Beginn der Diskussion und deren Ausformung für die anschließenden Jahrzehnte steht allerdings eindeutig unter dem Eindruck dieser Autoritäten; dies wird deutlich, wenn Grimm formuliert:

„Im zwölften, dreizehntenjahrh. waltet am Rhein und an der Donau, von Tyrol bis nach Hessen schon eine allgemeine sprache, derer sich alle dichter bedienen; in ihr sind die älteren mundarten verschwommen und aufgelöst, nur noch einzelnen Wörtern oder formen klebt landschaftliches an.“ 8

Die Argumentation Lachmanns weist in die gleiche Richtung:

„Denn wir sind uns doch eins, daß die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, bis auf wenig mundartliche Einzelheiten, ein bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch redeten, während ungebildete Schreiber sich andere Formen der gemeinen Sprache, theils ältere, theils verderbte, erlaubten.“ 9

In diesen beiden Aussagen werden gleich mehrere Rahmenbedingungen deutlich, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sprache der höfischen Dichtung im 12. und 13. Jahrhundert maßgeblich prägen: Der hier erstmals formulierte Gegensatz zwischen den Mundarten des Mittelhochdeutschen und einer allgemeinen, nicht nur geschriebenen, sondern auch gesprochenen hochdeutschen ← 12 | 13 → Sprache der gesellschaftlichen Eliten, zu denen die Höfe und die Dichter zählen, gilt als allgemein gesetzt. Die Mundarten werden damit zu einer negativen Folie für all das, was unter der Sprache der höfischen Dichtung subsumiert wird. Besonders die Vermeidung all dessen, was als mundartlich verstanden werden kann, gilt in der Folge als Kennzeichen einer gewählteren und damit höfischen Sprache, wie sie besonders in der Epik immer wieder anhand unterschiedlichster analytischer Verfahren festgestellt wird. Dementsprechend konzentrieren sich viele der folgenden Ausführungen auf die sprachliche Analyse der mittelhochdeutschen Epik in dem Bemühen, eben jene skizzierte Vermeidung mundartlicher Formen nachzuweisen.10 Des Weiteren wird die Rolle der Schreiber und ihr Einfluss eindeutig bestimmt, wenn Lachmann davon ausgeht, dass verderbte, das heißt besonders mundartliche oder unhöfische Formen auf eben diese Schreiber und nicht auf die Autoren selbst zurückzuführen sind. Erst Hermann Paul tritt dieser bis dahin weitgehend anerkannten Meinung, die auch lange Zeit die Methoden der Editionspraxis der frühen Mediävistik bestimmte, entgegen, wenn er 1873 die Frage aufwirft, inwiefern ein Mensch im Mittelalter als ungebildet zu gelten habe, wenn er des Schreibens mächtig sei.11

Erst im Rahmen der weiteren Auseinandersetzung tritt die Analyse des Wortschatzes der höfischen Epik in das Interesse der wissenschaftlichen Betätigung, zumeist unter der Fragestellung, welche Kategorien von höfisch und unhöfisch sich als Parameter der sprachlichen Qualität eines Werkes im Bereich des Lexeminventars definieren lassen und immer im Zusammenhang mit der Bestimmung der dialektalen Ausprägung des verwendeten Wortschatzes.

Allen Überlegungen gemein ist das Interesse an dem Faszinosum der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts und die Annahme vorhandener sprachlicher, stilistischer und ästhetischer Gemeinsamkeiten, die als Alleinstellungsmerkmale im Spiegel späterer Literatur empfunden, aber nicht immer nachgewiesen werden können.

Umso erstaunlicher erscheint die gesamte Forschungskontroverse und das in ihrem Zusammenhang entstandene umfangreiche Schriftgut, wenn man sich die Kurzlebigkeit und die fehlende Nachwirkung ihres Gegenstandes vor Augen führt. Bereits die mittelhochdeutsche Literatur des ausgehenden 13. Jahrhunderts wird hinsichtlich ihrer sprachlichen Gestaltung und ihres Inhaltes häufig nicht mehr zu den Werken der höfischen Dichtersprache im engeren Sinne gezählt. Die Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts zeichnet sich weitestgehend durch einen sehr viel ← 13 | 14 → stärker werdenden Einfluss der verschiedenen Mundarten aus, sodass schon zu diesem Zeitpunkt in keinem Fall mehr von einer einheitlichen Literatursprache die Rede sein kann.12 Darüber hinaus steht die Sprache der mittelhochdeutschen Dichtung, unabhängig davon, wie sie ihren charakteristischen Erscheinungen und Gemeinsamkeiten nach zu beschreiben ist, in keinem konstitutiven Zusammenhang zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Diese geht wohl eher auf die veränderten literarischen Bedingungen und Bedürfnisse des 15. Jahrhunderts mit seinen politischen und kulturellen Neuerungen zurück. So argumentieren sowohl Konrad Burdach13 als auch Friedrich Kluge14 übereinstimmend Ende des 19. Jahrhunderts. Kluge geht sogar so weit, zu sagen, dass die Beschäftigung mit der neuhochdeutschen Sprachgeschichte in einem nicht spezifisch grammatischen Sinn das Interesse und die Arbeit des Philologen in einem sehr viel stärkeren Maße fordern solle als die Auseinandersetzung mit der mittelhochdeutschen Literaturspräche der höfischen Dichter.15 Vermutet man in Schwaben das Zentrum und den Entstehungsort der höfischen Dichtersprache, so war dessen literarische Hegemonie, die ihm zur Zeit der höfischen Dichtung zukam, bereits um 1500 gebrochen, sodass selbst der schwäbische Wortschatz keinen Bestand mehr hat und dem mitteldeutschen Wortschatz weichen muss.16 Eine davon stellenweise abweichende Perspektive entwickelt Renward Brandstetter in seiner Rezeption der neuhochdeutschen Schriftsprache der Stadt und Landschaft Luzern.17 Brandstetter nennt das, was in Luzern und Umgebung bis zum Aufkommen des Neuhochdeutschen geschrieben wurde, Luzerner Kanzleisprache. In seinen Ausführungen gelangt er zu dem Ergebnis, dass hier kein Unterschied zwischen amtlicher und nichtamtlicher Sprache bestanden habe. Dementsprechend schlussfolgert Brandstetter, dass die höfische Dichtersprache keine Literatursprache im engeren Sinne gewesen sei, sondern eine wirkliche Schriftsprache, in der auch Prosa und lokale Urkunden abgefasst wurden. Gerade deswegen sei sie aber sehr wohl in einem engeren Konnex zur neuhochdeutschen Schriftsprache zu sehen, da sie sich nicht auflöse und in den Mundarten aufgehe, sondern sich das Neuhochdeutsche aus den lokalen Fort ← 14 | 15 → setzungen der mittelhochdeutschen Schriftsprache ergeben habe. Andreas Heusler fügt den Ausführungen Brandstetters hinzu, dass dessen Ergebnisse ohne Weiteres Gültigkeit für den gesamten alemannischen Sprachraum beanspruchen können und schon um 1250 mit dem Beginn der volkssprachigen Aufzeichnung der Urkunden nicht Mundart, sondern mittelhochdeutsche Schriftsprache geschrieben wurde.18

1.1. Die frühe Forschung: das 19. und beginnende 20. Jahrhundert

Die frühe Forschung zur höfischen Dichtersprache konzentriert sich hauptsächlich auf exemplarische oder vergleichende Untersuchungen zur Reimpraxis der einzelnen Dichter und zu sprachlichen Analysen einzelner Texte der höfischen Epik. Dabei wird diesen frühen Fragestellungen in der Retrospektive häufig vorgeworfen, dass viele der Untersuchungen im Bereich der Lautlehre und Morphologie eigentlich nur die Orthographie thematisieren und von dort aus unzulässige und verallgemeinernde Rückschlüsse ziehen würden. Davon unabhängig, versuchen diese Ausführungen den Charakter der höfischen Dichtersprache als überregionale, über den einzelnen Mundarten stehende, Sprachnorm zu bestimmen. Dieser Sprachnorm wird in der Regel eine Orientierung am oberdeutschen oder genauer am alemannischen Sprachraum zugesprochen. Dies geschieht zumeist durch den Nachweis der Vermeidung dialektaler Formen, besonders im Reim. Im Rahmen dieser Herangehensweise ergeben sich weitere Fragestellungen und Probleme unterschiedlicher Art und Gewichtung. Ein Problem, das immer wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, ist die Frage nach der Qualität der Editionen und nach sinnvollen Editionsprinzipien. Die unterschiedlichen Standpunkte stehen im Spannungsfeld zwischen der Gewährleistung eines lesbaren Textes und einer möglichst handschriftengetreuen Wiedergabe des Textes in seinenjeweiligen Besonderheiten. Die Forschung ist sich darüber bewusst, dass die Relevanz und Korrektheit der Ergebnisse ihrer Untersuchungen maßgeblich von den Ausgaben abhängen und eine beständige Reflexion der Prinzipien des Edierens notwendig ist. An der Frage der den einzelnen Ausführungen zugrunde liegenden Editionen entzündet sich immer wieder Kritik; Ergebnisse werden angreifbar und in der Folge ohne detaillierte Argumentation falsifiziert. Ein weiterer Aspekt, der immer ← 15 | 16 → wieder thematisiert wird, ist die Frage nach dem Vorhandensein bzw. der Bedeutung eines deutschen Nationalgefühls im Mittelalter, das sowohl zu einer erhöhten volkssprachlichen Literaturproduktion als auch zur Entstehung einer deutschen Gemeinsprache beigetragen haben soll. Häufig wird die höfische Dichtersprache als ein Ausdruck dieses nationalen Gefühls betrachtet, dem bereits im 8. Jahrhundert durch Karl den Großen der Weg bereitet wurde. Auch dieser Blickwinkel ist in der Retrospektive sicherlich differenzierter zu betrachten und ein Stück weit der Staatswerdung Deutschlands im 19. Jahrhundert geschuldet.

Die Diskussion um die Existenz und den Charakter einer Sprache der höfischen Dichtung, insbesondere der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, wird durch Grimm eröffnet. In seiner Vorrede zur Deutschen Grammatik legt er die Maßstäbe der weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung inhaltlich, thematisch und formal fest, indem er nicht nur die Existenz einer höfischen Dichtersprache – wie im bereits Zitierten deutlich wurde – als gesetzt sieht, sondern auch deren wichtigste Vertreter benennt und deren Leistung besonders in ihrer Stilistik und im Bau ihrer Reime verortet.19 Als die herausragenden Epiker des 13. Jahrhunderts sieht Grimm Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, deren Werken er einen besonders hôhen Wert zuschreibt: Wolframs Poesie sei unerschöpflich, die Hartmanns sanft und gemäßigt und die Gottfrieds zart gehalten.20Auch wird bereits hier die zukünftige Position Heinrichs von Veldeke innerhalb der germanistischen Forschung deutlich umrissen, wenn Grimm ernste Bedenken darüber äußert, ob Veldeke wirklich zu den hochdeutschen Dichtern zu zählen sei, da es ihm nicht gelinge, sich von der Mundart seiner Heimat zu distanzieren.21 ← 16 | 17 → Hier wird ein Werk unter nur einer spezifischen Fragestellung perspektiviert, die im Folgenden immer wieder zum Gegenstand verschiedener Untersuchungen wird.22 Auch die erst im späten 20. Jahrhundert revidierte Bewertung der sogenannten nachklassischen Epik als Ausdruck der Stagnation oder des Verfalls der höfischen Sprachkultur, speziell durch das Epigonentum ihrer Autoren und das Verfallen in mundartlichere Formen, wird in der Vorrede deutlich. Grimm spricht in diesem Zusammenhang von einer stufenweisen Vergröberung der vorherigen Sprachregeln und dem Verfallen in landschaftlich gemeine Mundarten.23

Übereinstimmend mit Grimm argumentiert Lachmann. Seiner Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts für Vorlesungen und zum Schulgebrauch24 legt Lachmann die schon bei Grimm skizzierten Vorstellungen über die Existenz einer höfischen Dichtersprache zugrunde. Die Lektüreempfehlungen begründen dabei keinen Kanon im engeren Sinne, denn Lachmann beschränkt sich bei seiner Auswahl keineswegs auf die Epen der klassischen Blütezeit, sondern versucht ein breites Textsortenfeld auch über diesen begrenzten Zeitraum hinausgehend abzudecken. Des Weiteren ist es sein Prinzip, nicht die schönsten, sondern eben die bezeichnendsten Stellen der jeweiligen Einzelbzw. Gesamtwerke auszuwählen.25 Allerdings stehen die schon bei Grimm gelobten Epiker des 13. Jahrhunderts im Mittelpunkt seiner Auswahl, womit sie in dem Sinne Kanon werden, dass sie in der Folge zu den festgelegten Lehrtexten einer germanistischen bzw. mediävistischen Ausbildung werden. Jedwede wissenschaftliche Auseinandersetzung kann über die, in diesem Sinne kanonischen Texte hinausgehen, darf sie aber nicht außer Acht lassen. Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke gehört aufgrund seiner mundartlichen Prägung zu den von Lachmann ausgeschlossenen Texten26, womit der schon bei Grimm deutlich gewordene ← 17 | 18 → problematische Umgang mit diesem Text noch einmal offensichtlich wird.27 Von Interesse ist auch darzustellen, welche Beweggründe Lachmann im Einzelnen zu seiner Auswahl veranlassen, da man genau diesen in der Forschungsliteratur immer wieder begegnet und sie nur sicher einordnen kann, wenn man sich ihres Ursprungs bewusst ist: Lachmann schreibt dem Epos Gottfrieds zumindest für den gewählten Abschnitt eine gehaltene und verständig geschmückte Darstellungsweise zu, die allerdings in Opposition zu der Üppigkeit und Gotteslästerung des Hauptteiles der unsittlichen Erzählung steht.28 Wolframs Parzival gesteht er den größten Raum in seiner Auswahl zu und begründet dies mit der Beschreibung seines Werkes als „kühnes sprachgewaltiges Ringen mit der reichsten Gedankenfülle, in der das Volksmässige eigenthümlich wird".29 Im Gegensatz zum Parzival wird dem Willehalm nur ein kurzer Abschnitt zugebilligt, dies begründet Lachmann mit der Komplexität des unvollständigen Werkes und seiner Ähnlichkeit zum Parzival. Hartmanns Armer Heinrich wird besonders wegen seiner wohl bedachten Ausführlichkeit und des Sinns für das Volksmäßige gelobt, den Iwein hat Lachmann in seine Auswahl aufgenommen, da in ihm die für Hartmann kennzeichnende sinnreiche Höfischheit deutlich wird“.30 Zuletzt stellt Lachmann eine Beziehung zwischen den einzelnen Werken her, auf die ebenfalls häufig zurückgegriffen wird, wenn er feststellt, dass Wolfram an der Spitze stehe und deutlich zu erkennen sei, dass er seinen Vorgänger Hartmann um ein Vielfaches überboten und übertroffen habe.31

Als Konsequenz aus den Ausführungen Grimms und Lachmanns gilt die Existenz einer höfischen Dichtersprache unter den deutschen Philologen lange Zeit als anerkannte Tatsache. In der Folge geht es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumeist darum, das Wesen dieser Sprache genauer zu bestimmen oder zumindest die bei Grimm und Lachmann entwickelte These, es habe sich bei dieser Dichtersprache um eine tatsächlich an den deutschen Höfen gesprochene hochdeutsche Literatursprache gehandelt, zu widerlegen.

Einen ersten Versuch der näheren Bestimmung unternimmt Franz Pfeiffer32, indem er versucht nachzuweisen, dass dialektale Besonderheiten in der ← 18 | 19 → geschriebenen Sprache weiter Bestand haben und dass das Schwäbisch-Alemannische aufgrund seiner Rückständigkeit nicht die Grundlage einer Schriftund Dichtersprache sein könne.33 Aufgrund einer Analyse des Vokalismus gelangt Pfeiffer zu dem Ergebnis, dass sich keine Anpassung an die Gegebenheiten des Schwäbisch-Alemannischen finden lassen.34 Pfeiffers Argumentation folgt jedoch nicht dem Ziel, die Existenz einer höfischen Dichtersprache generell infrage zu stellen, vielmehr gelangt er in seiner Ausführung zu dem Schluss, dass lediglich die bisher angenommenen Gemeinsamkeiten auf Grundlage falscher Annahmen geschlossen wurden. Vielmehr sieht er es als bewiesen an, dass die Gemeinsamkeiten im Bereich der Flexionsund Ableitungssilben in der Verbalund Nominalflexion begründet liegen, und das Wesen der höfischen Dichtersprache somit hauptsächlich in der Abschwächung der Nebensilbenvokale und einer weitgehend einheitlichen Flexion bestehe.35 Pfeiffer kontextualisiert seine Ergebnisse, indem er bekennt, lediglich eine alt bekannte Tatsache an den richtigen Platz gestellt zu haben. Die Strahlkraft der mittelhochdeutschen Epiker, wie z.B. Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg, führt Pfeiffer dementsprechend nicht auf ihre jeweilige Mundart, sondern auf den literarischen Wert ihrer Werke zurück. Pfeiffer führt hier eine Beweiskette, die in ihrem Ergebnis fraglich erscheinen darf, die im Folgenden jedoch als vorbildgebend zu verstehen ist. Viele der nachfolgenden Untersuchungen verfahren ähnlich, indem im Rahmen einer vergleichenden Analyse z.B. einzelne Bereiche oder Phänomene der Lautlehre, der Morphologie, der Syntax und zum Ende des 19. im Übergang zum 20. Jahrhundert besonders die Reimpraxis untersucht werden.

Noch vehementer als Pfeiffer versucht Paul das bisherige Verständnis dessen, was unter einer höfischen Dichtersprache zu verstehen sei, zu hinterfragen und auf eine neue Basis zu stellen.36 Paul geht davon aus, dass, wenn es österreichische und thüringische Dichter waren, die die Sprache beeinflussten, diese ganz anders hätte gestaltet werden müssen. Dies wird dadurch gestützt, dass man inzwischen die Nichtigkeit des Einflusses der Hohenstaufen erkannt habe und nach anderen Gründen zur Entstehung einer Schriftsprache suchen müsse.37 Er folgt Pfeiffer zwar in Teilen seiner Argumentation, zweifelt jedoch an deren Ergebnissen. So stellt er infrage, inwiefern man noch von einer mittelhochdeutschen Dichtersprache sprechen kann, deren hauptsächliches Kennzeichen in der Abschwächung der Nebensilben bestehe, womit auch das Niederdeutsche unter dieser hochdeutschen Dichtersprache subsumiert werden könne.38 Im Rahmen seiner Beweisführung verfährt Paul vorerst anders als Pfeiffer: Auf Grundlage der Analyse ausgewählter Textstellen der höfischen Literatur, die häufig angeführt werden, wenn es darum geht, die Existenz einer gemeinsamen Schriftsprache zu beweisen, tritt Paul mittels einer anderen Lesart erfolgreich den Gegenbeweis an.39 Paul stellt sich dem bisherigen Forschungsstand allerdings nicht in allen Punkten entgegen; er spricht Grimms und Lachmanns Aussagen insofern eine Berechtigung zu, als dass erstens eine nach Einheit strebende Schriftsprache innerhalb des oberdeutschen Sprachgebietes durchaus möglich gewesen sein könne und zweitens die mundartlichen Verschiedenheiten in den Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts bei Weitem nicht so bedeutend seien wie in den Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts.40Darüber hinaus gibt Paul zu bedenken, dass sich weitere Spuren einer Literatursprache im Bereich der Lexik nachweisen lassen. Aber auch hier schließt Paul sich nicht der gängigen Forschungsmeinung an und modifiziert die Vorstellung der ← 20 | 21 → Verwendung bzw. Meidung sogenannter höfischer bzw. unhöfischer Wörter und setzt dem die Auffassung entgegen, dass es den Dichtern lediglich gelungen sei, ihre Sprache von altertümlichen, nicht aber von dialektalen Wörtern, frei zu halten. Das sei Hartmann am besten gelungen, während Gottfried und Wolfram darüber hinaus gehen und eine bestimmte Manier ausbilden.41 Abschließend kann Paul nur drei Faktoren bestimmen, die das gemeinsame Wesen der höfischen Dichtersprache ausmachen, dazu zählen für ihn, in Anlehnung an Pfeiffer, ein bestimmter Lautstand und bestimmte Eigentümlichkeiten der Flexion sowie ein bestimmter Umfang des Vokabulars.

Eine ganz andere Position nimmt Karl Müllenhoff in seiner Vorrede zu den Denkmälern der deutschen Poesie und Prosa ein.42 Unterschiedliche Versuche Müllenhoffs hier formulierte Thesen zu entkräften, bilden ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Ausführungen. Deren Bestreben ist es zumeist, die Existenz der höfischen Dichtersprache zu widerlegen bzw. ihren Charakter als überregional gültige Schriftsprache zu hinterfragen und damit ihre Bedeutung auf eine nur zeitlich begrenzte Literatursprache ohne Auswirkungen auf das Entstehen der deutschen Gemeinsprache zu beschränken. Müllenhoff stellt die Person Karls des Großen an den Beginn der Aufzeichnung volkssprachlicher Literatur. Die politische Einheit des Reiches unter Karl dem Großen muss, seiner Meinung nach, Vereinheitlichungstendenzen innerhalb der Sprache und der Schrift mit sich gebracht haben. Durch die politische Bedeutung und die Lage in der Mitte des Reiches muss dem Fränkischen die Rolle als verbindendes Element zugekommen sein. Daraus entwickelte sich die sogenannte karlingische Hofsprache, die nach allen Seiten ausstrahlte, deren innere Geschlossenheit sich jedoch noch nicht mit dem späteren Mittelhochdeutsch vergleichen lasse. Im 11. Jahrhundert musste das Fränkische dann mit dem Wechsel des Kaisergeschlechtes seine Vorrangstellung behaupten. Müllenhoff geht dabei von einer wechselseitigen Beeinflussung aus, allerdings hatte das Hochfränkische einen größeren Einfluss auf die Entwicklung der oberdeutschen Hofsprache und bestimmte so maßgeblich die literarische Blütezeit im 12. und 13. Jahrhundert. Müllenhoff konstruiert ein sprachliches Ideal, dem die Alemannen am nächsten kamen, Hartmanns von Aue feinste Ausbildung des Mittelhochdeutschen zeige seine Sonderstellung innerhalb der mittelhochdeutschen höfischen Literatur.

Eine weitere Arbeit, die zeigt, in welchem Rahmen die Beschäftigung mit der mittelhochdeutschen Dichtersprache steht und wo sich Anknüpfungspunkte zu weiterführenden Fragestellungen und Forschungsbereichen finden lassen, ist Wilhelm Braunes Ausführung zur Kenntnis des Fränkischen und der hochdeutschen ← 21 | 22 → Lautverschiebung.43 Braune versucht, auf Grundlage der Untersuchung einer aus Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts bestehenden Textsammlung, die internen Dialektgrenzen des Fränkischen näher zu differenzieren und weist seine Thesen auch an einigen Literaturdenkmälern nach. Im Rahmen seiner Argumentation gerät er in Konflikt mit Müllenhoffs Auffassung einer fränkischen Hofsprache, die dieser als „spräche des höheren lebens"44 beschreibt. Braune kann Müllenhoff nicht folgen, inwiefern die Bedürfnisse der herrschenden Eliten sich von denen der anderen Menschen hinsichtlich ihrer geistigen Interessen so sehr unterschieden haben sollen, dass es zur Ausformung zweier unterschiedlicher Sprachen (Sprache des höheren Lebens und Sprache des gemeinen Mannes) gekommen sein soll. Er unterstellt Müllenhoff auf Grundlage der irrigen Annahme einer vorauszusetzenden Kultiviertheit der zu besprechenden Gegenstände zu dieser Aussage gekommen zu sein.45 Braune gelingt die Widerlegung Müllenhoffs auch in Bezug auf weitere literarische Denkmäler, die er als Hilfestellung heranzieht.46

Einen ganz anderen Ansatz zur Bestimmung des Wesens einer höfischen Dichtersprache, der wieder stärker an Grimm und Lachmann anschließt, wählt Heinrich Rückert.47 Er setzt das Entstehen der höfischen Dichtersprache in einen engen Kontext zur Herausbildung des deutschen Rittertums in Anlehnung an das französische Vorbild und die politischen Entwicklungen im deutschen Kaiserreich. Dieses fasst er als politische Einheit im engeren Sinne auf, da durch die politische Einigung mit der Beendigung des Konfliktes zwischen Staufern und Weifen nach der Mitte des 12. Jahrhunderts eine „veränderte Seelenstimmung“ 48 herrsche. Rückert setzt die Existenz einer lebendigen Volkssprache und einer Literatursprache voraus, die ← 22 | 23 → als deutlich voneinander getrennt zu verstehen sind. Er geht so weit, zu sagen, dass die Sprecher der von ihm angenommenen Literatursprache die Volkssprache nicht einmal mehr verstanden haben.49 Den Beginn der ritterlichen Dichtung setzt Rückert mit Heinrichs von Veldeke Eneasroman an, obwohl er ihm aus Betrachtung seiner Sprache keine so umfassende Bedeutung zusprechen möchte. Jedoch sieht er maßgebliche Neuerungen hinsichtlich des Inhaltes, der Verwendung des Wortschatzes, der Syntax und des Stils der Rede, sodass er ihn dennoch an den Beginn der höfischen Dichtung im engeren Sinne setzt. Hartmann von Aue wird als sein Nachfolger bezeichnet.50 Sein Mittelhochdeutsch wird von Rückert als mustergültig aufgefasst, seine Reime als Ausdruck der verfeinerten gesellschaftlichen Konvention. Dennoch konstatiert auch Rückert, dass die Literatursprache nicht auf mundartliche Formen verzichtet: Alle Werke dieser Epoche weisen eine mundartliche Prägung auf, die jedoch nicht den Wert der Dichtung an sich mindert. Wolfram wird als der größte der mittelhochdeutschen Dichter gesehen, auch wenn Gottfrieds Kritik an ihm als durchaus gerechtfertigt bezeichnet wird. Rückert setzt die Werke der vier aufgeführten Epiker in Opposition zu den später entstandenen und, seiner Meinung nach, qualitativ weniger wertvollen Texten. Die Auflösung der mittelhochdeutschen Literatursprache setzt Rückert wiederum in den Kontext kultureller Entwicklungen, hier mit der sinkenden Bedeutung des Adels im späten Mittelalter. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rückert mit seinen Ausführungen nicht das sich selbst gesetzte Ziel erreicht, das Wesen der mittelhochdeutschen Literatursprache näher zu bestimmen. Vielmehr beschränkt er sich auf die Reproduktion der bestehenden Forschungsergebnisse.

In einer ähnlichen Art und Weise sind die Ausführungen von Adolf Socin zu sehen, der sich ebenfalls weitgehend der Argumentation Lachmanns anschließt und die Existenz einer höfischen Dichtersprache anhand der poetischen Technik einzelner Dichter nachzuweisen versucht, woran sich für ihn wiederum die Hervorhebung der individuellen Dichterpersönlichkeit knüpft.51 Die Orientierung an Lachmann wird deutlich in Socins Annahme, dass es sich bei der höfischen Dichtersprache nicht nur um eine reine Literatursprache, sondern auch um eine wirklich gesprochene Sprache handele.52 Dem Sprachideal, das die Dichter zu ← 23 | 24 → erreichen suchten, kamen die Alemannen dabei am nächsten.53 Socin geht ebenfalls auf den literarischen Austausch der Dichter untereinander ein, der für ihn konstituierend für die sprachliche Weiterentwicklung der höfischen Kunstpoesie ist. Zur Bestätigung führt Socin die bereits bei Paul thematisierten Zitate Albrechts von Halberstadt und Ebernants von Erfurt an und zieht aus ihnen die zu Pauls Ergebnissen konträr stehenden Schlüsse, dass in ihnen der Beweis einer höfischen Dichtersprache und deren zeitgenössischer Akzeptanz zu erkennen sei. Im Weiteren argumentiert Socin im Sinne des bisher Dargestellten und geht in wesentlichen Punkten sowohl mit den Ansichten Müllenhoffs, Pfeiffers als auch Rückerts konform und gelangt dementsprechend zu den gleichen Resultaten.

Der weitere Verlauf der Forschung knüpft hier an und wird facettenreicher, da nun nicht mehr allein auf die Standpunkte Lachmanns und Grimms, sondern zusätzlich auf die aller bisher Beteiligten, Bezug genommen wird. Die Debatte entspannt sich zu einer umfassenden Diskussion, in deren Verlauf nicht immer sachlich, sondern auch polemisch argumentiert wird. Dabei stehen sich weiterhin grundlegend zwei Meinungen gegenüber: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die das Wesen der höfischen Dichtersprache in dem literarischen Wert der einzelnen Werke sehen, der häufig – so wie z.B. bei Socin – unter dem Begriff Kunstpoesie subsumiert wird. Diese Kunstpoesie spiegelt sich nicht nur im Inhalt der Werke wider, der so gut wie nie thematisiert wird, sondern in der artifiziellen sprachlichen Gestaltung, die sich in einer weitgehenden Vermeidung all dessen, das als mundartlich bezeichnet wird, zeigt. Diesem Standpunkt liegt auch immer die Annahme zugrunde, dass es sich bei der höfischen Dichtersprache nicht nur um eine geschriebene, sondern tatsächlich gesprochene hochdeutsche Sprache der höfischen Gesellschaft handelt. Auf der anderen Seite wird der Standpunkt vertreten, dass das verbindende Element der Sprache der einzelnen Werke der höfischen Literatur sehr viel differenzierter betrachtet werden muss. Es wird die Annahme zugrunde gelegt, dass Gemeinsamkeiten auf sprachlicher Ebene vorhanden sind, diese aber nicht oder zumindest nicht nur in der Vermeidung mundartlicher Formen begründet liegen. Diese Ansätze thematisieren schmaler zugeschnittene Fragestellungen und untersuchen vergleichend einzelne lautliche und flexivische Besonderheiten, Eigenheiten im Bereich der verwendetenWortbildungsprodukte, den Wortschatz und zunehmend auch die Reimpraxis der einzelnen Autoren und Werke. Die Vertreter dieses Ansatzes bestreiten in aller Regel, dass es sich bei der höfischen Dichtersprache um eine gesprochene Sprache handele und begrenzen sie zumeist auf eine Literatursprache. Die Existenz einer höfischen Dichterbzw. Literatursprache wird jedoch auf beiden Seiten als gegeben hingenommen.

← 24 | 25 → Otto Behaghel vertritt in seinen Ausführungen zur Frage nach einer mittelhochdeutschen Schriftsprache den zweiten dieser beiden Standpunkte.54 Er konzentriert sich in seiner Argumentation auf die Analyse lautlicher und flexivischer Merkmale, insbesondere im Bereich der Endsilbenvokale, und kommt zu dem Ergebnis, dass es wohl bei der Annahme einer mittelhochdeutschen Schriftsprache sein Bewenden haben müsse. Für nachfolgende Untersuchungen konstatiert Behaghel, dass Urkunden die einzige zuverlässige Basis der Forschung sind, da sie als Vergleichsgrundlage einen weitaus unverfälschteren Sprachstand widerspiegeln als epische Texte. Die so gewonnenen Ergebnisse müssen dann mit dem verglichen werden, was die Reime und der innere Bau des Verses für die Sprache der höfischen Dichtung erschließen lassen. Die wichtigste Erkenntnis Behaghels liegt in dem Ergebnis, dass die höfischen Dichter die im Alemannischen erhaltenen vollen Endsilbenvokale weitgehend meiden.

Friedrich Kauffmann55 nimmt direkt kommentierend Bezug auf Behaghel und führt dessen Gedanken auf einer ähnlichen Quellengrundlage fort, wobei die Analyse der Orthographie bei ihm noch stärker fokussiert wird als bei Behaghel, obwohl Kauffmann selbst sagt, dass es fraglich ist, ob die Orthographie der Schreiber mit den Veränderungen im Lautstand überhaupt Schritt gehalten haben kann.56Nach der Analyse der Urkunden, die in Anlehnung an Behaghel erfolgt, unternimmt Kauffmann eine weitere Beschäftigung mit den Literaturdenkmälern, bei der sich für ihn ein ähnliches Bild ergibt, da auch hier Doppelformen auftreten. Allerdings verkehrt er den kausalen Zusammenhang, den Behaghel aufgestellt hat und setzt die Doppelformen in den Literaturdenkmälern und nicht die der Urkunden als die primären an. Er versucht damit, Behaghels Aussage, dass von einer ← 25 | 26 → Literatursprache aufgrund dieser sekundären Doppelformen der höfischen Dichtung eben nicht die Rede sein könnte, zu entkräften.57

Kritik und Lob zu Hermann Fischers Geschichte des Mittelhochdeutschen58zeigen weitere Einblicke in die Suche nach den für die höfische Dichtersprache konstituierenden Faktoren, so z.B. in der Rezension Ferdinand Wredes.59 Wrede wirft Fischer vor, fehlerhaft und zu wenig transparent auf einer unzureichenden Quellengrundlage gearbeitet zu haben. Darüber hinaus habe er versäumt, die einzige richtige Schlussfolgerung zu ziehen, die sein Material bietet und die den Beweis der höfischen Dichtersprache erbracht hätte. Wrede bezieht sich hier auf die bei Fischer erfolgte Auswertung der Reime Wolframs auf -ege bzw. -ej. Hier übersieht Fischer, dass aus dem Nebeneinander dieser beiden Formen im Reim des Dichters nur eine sinnvolle Schlussfolgerung gezogen werden könne, nämlich, dass Wolfram sich einerseits einer Form bedient, die er aus seiner eigenen bairischen Mundart kennt (-ege) und andererseits einer Form, die seiner Mundart fremd ist (-ej). Dies lässt sich für Wrede nur damit erklären, dass die nicht mundartlichen Formen „einer gemeinsprachlichen, litterarischen oder Journalistischen‘ convenienz [entstammen], allgemeiner, jedoch unklarer: sie entstammen der Schriftsprache“.60

In Wredes Kritik an Fischer wird ein gradueller Perspektivwechsel der anschließenden Fragestellungen und Analyseverfahren innerhalb der Forschungsdiskussion deutlich: Es erfolgt nun erstens eine höhere Konzentration auf die Analyse der Reimpraxis und zweitens wird eine größere Fokussierung auf einzelne Dichter und ihren Sprachgebrauch offensichtlich.

Diese Verschiebung zeigt sich wiederum auch in Ausführungen, die sich nicht unmittelbar mit dem Gegenstand der höfischen Dichtersprache auseinandersetzen, so z.B. bei Karl Bohnenberger.61 Er beschreibt die verschiedene mundartliche Ausprägung von mhd. ā dezidiert auf Grundlage eines umfangreichen Urkundenkorpus und verallgemeinert die gefundenen Ergebnisse bewusst zurückhaltend. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Fehlen mundartlicher Einflüsse keine Besonderheit der epischen Literatur sei und selbst die Dichter des 14. Jahrhunderts noch gemieden haben, den bereits durchgesetzten Diphthong von ā trotz lautlicher Nähe mit dem ← 26 | 27 → von mittelhochdeutsch ou bzw. von mittelhochdeutsch ō zu reimen.62 Aufgrund dieser Beobachtung zieht Bohnenberger zwei Schlüsse, mit denen er die Ergebnisse vieler noch folgender Reimuntersuchungen der mittelhochdeutschen Epik infrage stellt: Zum einen ist es für ihn selbstverständlich, dass die Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts hinsichtlich der Vermeidung mundartlicher Formen im Reim kaum anders verfahren haben werden, als die des 14. Jahrhunderts und darin also kein spezifisches Kennzeichen einer höfischen Dichtersprache zu erkennen sei. Und zum anderen bewertet er es damit als wissenschaftlich nicht tragbar, Rückschlüsse auf Grundlage des Fehlens mundartlicher Formen im Reim zu ziehen.63

Zu einer ganz anderen Auffassung und damit auch zu ganz anderen Ergebnissen gelangt Konrad Zwierzina in seiner groß angelegten Studie zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs.64 Zwierzinas Untersuchungen beziehen sich dabei nur auf die Verwendung von Formen und deren Klassifizierung als mundartlich oder nicht-mundartlich im Reim. Wenn er über das Versinnere spricht, wird dies dezidiert geäußert und gemäß seiner Theorie, nur den Reimgebrauch zu untersuchen, gar nicht oder als nur wenig relevant bewertet. Zwierzina geht davon aus, dass der höfischen Dichtersprache eine ältere volkstümlich traditionellere Dichtersprache zugrunde liege, zu der diese in Opposition trete.65 Als Kennzeichen der höfischen Dichtersprache definiert Zwierzina das Streben der Dichter nach einem sprachlichen Ideal. Dieses wird jedoch als unerreichbar dargestellt; die besondere Kunstfertigkeit der höfischen Dichter liegt darin, ihm besonders nahe zu kommen. Wichtigstes Kennzeichen dieses Ideals ist die Vermeidung mundartlicher, unhöfischer oder archaischer Formen.66 Überall dort, wo eine größere Abweichung zwischen dem konstruierten Ideal und dem tatsächlichen Sprachgebrauch des Dichters ← 27 | 28 → vorliegt, setzt Zwierzina eine längere Arbeitspause bzw. -unterbrechung an, in deren Folge es nach Wiederaufnahme der Arbeit zu Rückfällen in bereits überwundene Archaismen oder Dialektizismen komme. Zwierzina erläutert seine Thesen unter anderem auf Grundlage der Verwendung der Partikel sân in Wolframs Parzival. Zwierzina stellt fest, dass Wolfram sân in den ersten acht Büchern des Parzivals 86mal in den Reim stellt, in den Büchern IX bis XVI nur fünfmal, im ganzen Willehalm findet sich sân insgesamt nur zweimal im Reim. Zwierzina schlussfolgert daraus, dass Wolfram sân zu reimen nicht nur absichtlich und bewusst, sondern auch sorgfältig und durchaus nicht mühelos zu vermeiden gesucht hat. Zwierzina lässt offen, ob sân nicht auch, im Sinne Jänickes und Müllenhoffs, als altertümliche Form interpretiert werden kann, schließt sich aber eher der Meinung Pfeiffers an, sie als dialektal zu bewerten. Unabhängig davon wird deren Vermeidung im Reim als eine Annäherung Wolframs an die moderne Sprache der höfischen Kreise, an die vom Publikum damals für die moderne ritterliche Dichtung geforderte moderne Form gesehen.67 Im Rahmen seiner Argumentation zeigt Zwierzina hier ein methodisch neues Vorgehen, indem er das Wesen der Dichtersprache nicht positiv durch Gemeinsamkeiten zu bestimmen sucht, sondern negativ aus dem Fehlen bestimmter Kennzeichen schlussfolgert: Als Wolfram aufhörte sân zu reimen, wählte er nicht die Form eines anderen Dichters, sondern gab die Form gänzlich auf. Seine Konzession an die Dichtersprache ist somit eine rein negative.68 Die Annahme, dass Wolfram damit für ein überregionales Publikum schreibe69, liegt in diesem Zusammenhang nicht fern, wie Zwierzina an weiteren ähnlich gelagerten Beispielen nachzuweisen sucht.70 In Bezug auf den Wortschatz ← 28 | 29 → der höfischen Dichter Hartmann und Wolfram geht Zwierzina davon aus, dass die höfischen Dichter Anschluss an die tatsächlich gesprochene Sprache suchten und deswegen Wörter, die nicht mehr benutzt wurden, vermieden, da sie als unhöfisch empfunden wurden.71 Dasselbe gilt für die formelhaften, gewöhnlicher Rede fremden Wortstellungen und -Verbindungen, wie z.B. degen mwre oder küener wîgant. Diese Wendungen benutzen nur noch schlechte Dichter. Hartmann als Dichter mit höfischer Technik verzichtet auf dergleichen.72 Da Zwierzina alle Abweichungen im Reimgebrauch einzelner Werke auf längere Arbeitsunterbrechungen zurückführt, stellt er fest, dass sich Wolframs Sprachgebrauch mit dem neunten Buch des Parzivals ändert. Zwischen Buch VIII und IX liegt seiner Meinung nach ebenso die Grenze zweier unterschiedlicher Diktionsarten begründet.73

Details

Seiten
432
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653039191
ISBN (ePUB)
9783653994155
ISBN (MOBI)
9783653994148
ISBN (Hardcover)
9783631646090
DOI
10.3726/978-3-653-03919-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Historische Semantik Frame-Semantik historischer Wortschatz Programmwort
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 432 S., 38 Tab., 17 Graf.

Biographische Angaben

Nina Bartsch (Autor:in)

Nina Bartsch studierte Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Bochum. Sie ist an derselben Universität Lehrkraft für besondere Aufgaben.

Zurück

Titel: Programmwortschatz einer höfischen Dichtersprache
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
434 Seiten