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GEISTESwissenschaften – IdeenGESCHICHTE

Festschrift für Helmut Reinalter zum 70. Geburtstag

von Josef Wallmannsberger (Band-Herausgeber:in)
©2013 Andere 274 Seiten

Zusammenfassung

Theorien der Geisteswissenschaften und Ideengeschichte definieren zentrale Momente des gelehrten Lebenswerks von Helmut Reinalter, dessen leitendes wissenschaftliches Motiv in der konsequenten Vernetzung rigoroser fachbasierter Forschung mit transdisziplinären Perspektivierungen und geistesgeschichtlichen Genealogien gefunden werden kann. Die Beiträge der Festschrift zum 70. Geburtstag des Jubilars situieren sich in diesem spezifischen Problemkontext, Innovationen und Impulse des Œuvres von Helmut Reinalter aufnehmend, kontrastierend und kontrapunktierend, im Sinne eines kritischen Dialogs in aufklärerischer Absicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Ein Grandseigneur der Aufklärenden Enzyklopädistik: Josef Wallmannsberger
  • Freimaurertum und Kirche: Hans Küng
  • Die Rolle der Geisteswissenschaften im Konzept der Wissenschaften: Friedrich G. Wallner, Andreas Schulz
  • Einleitung
  • Die traditionelle Auffassung von Wissenschaft und ihre Unzulänglichkeit für ein angemessenes Verständnis der Geisteswissenschaften
  • Zwei Hauptthesen des Konstruktiven Realismus
  • Verfremdung – durch Interpretation zur Erkenntnis
  • Die Antwort des Konstruktiven Realismus auf die vier traditionellen Auffassungen über Wissenschaft
  • Ad. 1. Die Objekte würden durch das Subjekt abgebildet
  • Ad. 2. Die Gültigkeit wissenschaftlicher Sätze sei überpersonal, überkulturell und überzeitlich
  • Ad. 3. Die Methodenfrage sei geklärt zugunsten der quantitativen Methode
  • Ad. 4. Die Frage der Interdisziplinarität sei nachgelagert
  • Die Naturwissenschaften im Konstruktiven Realismus
  • Die fundamentale Bedeutung der Geisteswissenschaften im Konstruktiven Realismus
  • Die Geisteswissenschaften als Verfremdungswissenschaften
  • Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – Unmittelbarkeit und Vermittlung?
  • Zusammenfassung
  • Literatur
  • Über die Autoren
  • Auch eine Dialektik der Aufklärung. Drei Figuren des Einspruchs. Ein Telegramm an und für Helmut Reinalter: Wolfgang Müller-Funk
  • 1. Novalis oder Das ästhetische Dilemma der Aufklärung
  • 2. Lichtenberg oder Das ethische Dilemma der Aufklärung
  • 3. Herder oder das kulturelle Dilemma der Aufklärung
  • Legitimation durch Reflexivität (Am Beispiel der reflexiven Semiologie de Saussures): Dimitri Ginev
  • I
  • II
  • III
  • IV
  • V
  • Literatur
  • Digital Humanities Latento: Sentenzenkommentare zu geisteswissenschaftlichen Konvolutionen: Josef Wallmannsberger
  • 1. Einleitung
  • 2. Das Manifeste des Digital Humanities für Generalstände der Geisteswissenschaften
  • 3. The Digital Humanities Manifesto
  • 4. Finituden
  • Literatur
  • Religionsphänomenologie als Religionstheorie: Johann Figl
  • 1. Theoretische Grundannahmen der „klassischen“ Religionsphänomenologie
  • 1.1 Methodische Voraussetzungen der Religionsphänomenologie
  • 1.2 Bemerkungen zum Verständnis der Religion bei bedeutenden Religionsphänomenologen
  • 2. Neue religionsphänomenologische Ansätze
  • 2.1 Neustil- bzw. Angewandte Religionsphänomenologie
  • 2.2 Theoriefähigkeit religionsphänomenologischer Termini
  • 3. Transformation religionsphänomenologischer Anliegen – der Objektbereich der Religionswissenschaft
  • Carl von Clausewitz: „Vom Kriege“. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Nachaufklärung: Peter J. Brenner
  • Einleitung
  • Clausewitz – Kind einer Umbruchszeit
  • Der Krieg als „Chamäleon“
  • Die Wendung zur Wirklichkeit
  • Denkbewegungen: Die methodische Erfassung des Krieges
  • Entscheiden und Handeln: Reduktion von Komplexität
  • Ausblick
  • Von Sonnenfels zu Metternich/zu Gentz?: Die Bewertung der Französischen Revolution zwischen Spätaufklärung und Restauration: die Habsburgmonarchie, 1790–1830: Franz Leander Fillafer
  • II. Sonnenfels und sein Umfeld in den 1790er Jahren
  • III. Restauration und Vormärz
  • IV. Zusammenfassung
  • Starcks Bibliothek. Für eine realistische Ideengeschichte: Claus Oberhauser
  • Realistische Ideengeschichte
  • Starcks Bibliothek
  • Kirchengeschichte
  • Netzwerk Starck
  • Werbung und Zirkulation
  • Inhalt der Bibliothek
  • Nachwehen
  • Fazit
  • Der „Stone of Destiny“ und die Debatten über die politische Autonomie Schottlands in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Jörg Rogge
  • I
  • II
  • III
  • IV
  • V
  • Parrhesia und demokratische Partizipation Michel Foucaults Spätwerk als politische Philosophie: Hans-Martin Schönherr-Mann
  • 1. Foucault als politischer Philosoph?
  • 2. Parrhesia zwischen Interventionismus und Selbstregierung
  • 3. Parrhesia als kritisches und riskantes Geschäft
  • 4. Parrhesia als Beratung des Monarchen
  • 5. Politische und philosophische Parrhesia
  • 6. Parrhesiastische Philosophie als Lebensform
  • 7. Der antike Kynismus als parrhesiastische Lebensform
  • 8. Der moderne Revolutionär als Parrhesiast und Märtyrer
  • 9. Die parrhesia in der Demokratie
  • 10. Die partizipatorische parrhesia
  • 11. Die parrhesiastisch erzwungene Demokratie
  • Vom Fördernden und Hemmenden geschichtlichen Wissens nach Nietzsche: Rainer Thurnher
  • Idee und Wille des Menschen zur Gesundheit: Felix Unger
  • Europäische Medizin
  • Gebiet der Medizin
  • Wandel des Paradigmas
  • Maschinenmedizin
  • Wesen der Menschen
  • Arzt-Patienten-Verhältnis
  • Probleme des Arztes
  • Ausblick
  • Literatur
  • Schriftenverzeichnis – Helmut Reinalter seit 2010
  • I. Monographien ab 2010
  • II. Handbücher, Sammelbände, Quelleneditionen, Reihen
  • III. Aufsätze
  • Curriculum Vitae: Helmut Reinalter

Ein Grandseigneur der Aufklärenden Enzyklopädistik

gibt uns im Jahr 2013 die willkommene Gelegenheit zur akademischen und gelehrt-persönlichen Feier seiner Septuagenarien, der terminologische Manierismus soll hier ausnahmsweise erlaubt sein, denn die Vorstellung, dass Helmut Reinalter in der Chronologie konventioneller Observanz den 70. Geburtstag begeht, übersteigt eben diese vollends, geradezu eklatant, wenn man den Vorzug geniesst, den Jubilar mit Elan, Verve und bisweilen auch mit jugendlichem Übermut in seinem Cafe Central-Salon bei der zugleich intellektuellen und entrepreneurischen Ideenproduktion und Projektjonglage erleben zu können.

Die in Kakanien clichehaft doch zu naheliegende Figur des Cafehausdenkers führte freilich komplett in die Irre, denn die gesellige und fröhlich-wissenschaftliche Dimension der Gelehrtenpersönlichkeit kommt in die angemessene Balance erst mit einem über Jahrzehnte anhaltenden stachanovesken Arbeitsfuror in den Bergwerken der Archive und den Maschinenräumen internationaler Grossprojekte, die in der Komplexität des Managements auch industrielle Kalibrierungen annehmen können: In diesem Sinne erscheint Helmut Reinalter als eine sehr unösterreichische Interpretation gelehrter Existenz, die Dialektik von rigoroser Arbeitsethik und einem unbedingten Willen, sich als öffenticher Intellektueller beim Schwitzen nicht zusehen zu lassen, sondern Eleganz und Leichtigkeit in die akademischen Incontri zu bringen, findet ein sehr harmonisches Echo in den geistigen und unternehmerischen Bravourmeistern der aufklärerischen Enzyklopädistik, ein Diderot, unablässig Netzwerke knüpfend mit Gedanken- und Geldgebern, in der Begegnung mit intriganten Hofagenten ebenso souverän wie in der Bazaristik mit gierigen Druckern, innovativ und kritisch in der Analyse, bei aller historischen Differenzierung ließe sich hier eine Korrespondenz zum Jubilar finden. Eine List der Idee(ngeschichte) findet sich ja gerade auch darin, dass Helmut Reinalter in der gegenwärtigen Periode der Universitätsentwicklung, in der die Konfabulation der „unternehmerischen Hochschulen“ auf einen Maskenball mit den abgelegten McKinsey-bauen Gehröcken von vor zwanzig Jahren hinausläuft, Institutionen kritischer Gelehrsamkeit durch Privatisierungsvolten ins Spiel bringt, die in den Exceltableaux des real existierenden universitären Administrationismus in die Hände der Deletanten fallen. ← 9 | 10 →

Die Leistungen, Impulse und Innovationen des Jubilars in den Disziplinen der Historischen Wissenschaften und dann auch noch spezifisch in der Geistesgeschichte der Aufklärung bildeten den Fokus von zwei Festschriften, der nun vorliegende Band widmet sich einem essentiellen, die disziplinären Grenzen prinzipiell transzendierenden Aspekt des Lebenswerks, namentlich der stets intendierten Perspektivierung der einzelfachorientierten Forschung in den weiteren Kontexten transdisziplinärer und ideengeschichtlich konturierter Theorien der Geisteswissenschaften als gesellschaftlich relevantes und brisantes Phänomen.

Die intellektuelle Fragmentierung und hypernervöse MTV-Schnittdramaturgie der Bologna-Geisterbahnen im paneuropäischen Universitätsraum machen überdeutlich, dass Helmut Reinalters Insistenz auf thematische, methodologische und epistemologische Vernetzungen mit Blick auf übergreifende Theorien der Geisteswissenschaften schlechterdings unverzichtbar ist: in diesem Sinne dürfen wir noch auf ein breites Spektrum an Anregungen und Interventionen aus den auklärerischen Scriptorien des Jubilars hoffen: Ad multos annos!

Josef Wallmannsberger ← 10 | 11 →

Freimaurertum und Kirche

Hans Küng

Helmut Reinalter zum 70. Geburtstag gewidmet: Er hat das doppelte Verdienst, das Weltethos in freimaurerischen Kreisen verständlich gemacht und umgekehrt das Freimaurertum in zeitgemäßer Form außerhalb der Logenmauern bekannt gemacht zu haben. Zwischen Weltethos und freimaurerischem Ethos gibt es viele Verbindungen. Meine hier folgende Dankesrede zur Verleihung des Freimaurer-Kulturpreises am 18. Mai 2007 in Köln erläutert dies.

Jahrzehntelang musste ich das Missverständnis dementieren, dass ich Jesuit sei. Zwar bin ich an der Päpstlichen Universität Gregoriana und im Collegium Germanicum von Jesuiten ausgebildet worden und bin bis heute dankbar dafür. Aber ich bin niemals Jesuit geworden. Ich musste sogar einen feierlichen Eid ablegen, nicht in die Gesellschaft Jesu einzutreten, sondern in meine Heimatdiözese Basel zurückzukehren. Aber nun werde ich wohl noch Jahre dementieren müssen, ich sei Freimaurer geworden, was nun einmal für manche konservative Katholiken noch immer eine höchst verdächtige Angelegenheit ist und Munition für ihre gelegentlichen Attacken zu sein verspricht.

Umgekehrt hatten auch Sie als Freimaurer unter Verschwörungstheorien, Diffamierungskampagnen und direkten Angriffen zu leiden. Und Sie haben noch so viel dementieren können, dass Sie keine Religion und keine Antikirche sein wollen: In bestimmten Kreisen wird man die alten Vorurteile und Legenden wiederholen. Authentische Freimaurer-Veröffentlichungen sind da oft so wenig gefragt wie die authentischen Evangelien, wenn es um Jesus von Nazaret und die Ursprünge des Christentums geht; auch da orientieren sich manche Zeitgenossen lieber an Phantastereien, wie sie jüngst noch der Roman »Da Vinci Code« populistisch verbreitet hat.

Doch die noch immer bestehenden Vorurteile kommen natürlich nicht von ungefähr, sondern haben einen ernsthaften historischen Hintergrund. Und das ist die lange Konfliktgeschichte zwischen dem Freimaurertum und besonders der römisch-katholischen Kirche. Eine unbestreitbare Tatsache ist erstens: Das moderne Freimaurertum hat, bei allen Symbolen und Riten aus den mittelalterlichen Bauhütten, seinen eigentlichen Ursprung in der Aufklärung des 18. Jh. (Gründung der Großloge von London 1717) und ist den aufklärerischen Idealen der Humanität und Toleranz verpflichtet.

Und eine unbestreitbare Tatsache ist zweitens: Gerade die römisch-katholische Kirche – wiewohl viele frühmoderne Naturwissenschaftler, Philosophen und auch ← 11 | 12 → Aufklärer keineswegs unchristlich waren – steht vom 17. Jh. an in einer systematischen Opposition zur Aufklärung:

Zur modernen Philosophie: die Fälle Giordano Brunos (1600 verbrannt) und René Descartes;

zur modernen Naturwissenschaft: der Fall Galilei (1633 verurteilt) und später der Fall Darwin;

zur modernen Staats- und Gesellschaftstheorie mit den Folgen, die zur Französischen Revolution (1789) führten.

Auf dem Index der für Katholiken verbotenen Bücher stand schließlich der Großteil der repräsentativen Geister der europäischen Moderne: neben zahllosen Theologen und Kirchenkritikern und den Begründern der modernen Naturwissenschaft auch Kants »Kritik der reinen Vernunft«, selbstverständlich Rousseau und Voltaire. Dazu kommen Diderot und d’Alembert mit ihrer Enzyklopädie, große Historiker, selbst Ranke, und schließlich eine Elite der modernen Literatur: Heine und Lenau, Victor Hugo, Dumas und Flaubert, Leopardi und d’Annunzio …

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass bereits 21 Jahre nach der Gründung der englischen Großloge, im Jahre 1738, Papst Klemens XII. in der Bulle »In eminenti« die Freimaurerei verurteilte, was durch mehrere päpstliche Verurteilungen durch die nächsten 200 Jahre bestätigt wird. Die moderne Welt war nun einmal weitgehend ohne und gegen die Kirche Roms entstanden. Und die Freimaurer stehen selbstverständlich überall auf der Seite der Moderne.

Der dramatische Konflikt erreicht seinen politischen Höhepunkt in der Französischen Revolution, deren Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« samt der Menschenrechtserklärung von 1789 von Rom von Anfang an radikal verworfen wird. In der Zeit der Restauration meint man, das mittelalterlich-gegenreformatorische Lehr- und Machtgefüge wieder herstellen zu können. Der 1864 von Pius IX. veröffentlichte »Syllabus (Sammlung)« der modernen Irrtümer wird allenthalben als eine generelle Kampfansage an die Moderne angesehen. Mit Pantheismus und Rationalismus, Liberalismus und Sozialismus werden als Feinde auch die Geheimbünde genannt, (womit selbstverständlich nicht etwa das Opus Dei gemeint war, ein wirklicher Geheimbund, der ja erst im Dunstkreis des Franco-Faschismus gegründet wurde). Nein, da war natürlich in erster Linie das Freimaurertum gemeint, das kein Geheimbund ist, freilich auf Verschwiegenheit wert legt. Und das war nun im 19. Jh. besonders in Frankreich und Italien verständlicherweise radikal antiklerikal. Der nach einer systematischen »antimodernistischen“ Kampagne 1917 veröffentlichte Codex Iuris Canonici, das Gesetzbuch der katholischen Kirche, belegt denn auch die Mitgliedschaft in einer freimaurerischen Vereinigung mit der Strafe der Exkommunikation.

Nun liegt es mir natürlich ferne, durch diese kurz skizzierte Konfliktgeschichte eine einseitige Schuldzuwendung vorzunehmen. Auch die Aufklärung ← 12 | 13 → hat ihre Schatten. Die katholische Kirche war Hauptopfer der Französischen Revolution: Verlust nicht nur ihres gesamten Grundbesitzes, sondern auch eines erheblichen Teils ihres Klerus. Und es bilden sich in Frankreich mehr als anderswo zwei gegensätzliche verfeindete Kulturen aus. Auf der einen Seite eine militante republikanisch-laizistische Kultur der liberalen, später auch sozialistischen freidenkerischen Anhänger von Aufklärung und Fortschritt. Auf der anderen Seite eine tief eingewurzelte katholisch-konservative, klerikale Gegen- oder Subkultur. Die Gegensätze dieser beiden Kulturen flackern an politischen Streitpunkten auch heute immer wieder auf: etwa im Schulstreit, oder im Streit um die Erwähnung des Gottesnamens und des Christentums in der Präambel der europäischen Verfassung. Aber im 20. Jh. ist man sich nach den zwei Weltkriegen immer mehr der »Dialektik der Aufklärung« bewusst geworden, und man hat die fatale Kehrseite moderner Leitbegriffe wie Vernunft, Fortschritt und Nation erkannt. Und insofern hat sich sowohl in der katholischen Kirche als auch in der Freimaurerei ein Wandel vollzogen.

Erfreulich ist deshalb: in den 1960er Jahren hat die katholische Kirche unter dem Impuls von Papst Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Joseph Ratzinger und ich haben als die beiden jüngsten Konzilstheologen daran teilgenommen) die beiden Paradigmenwechsel, den der Reformation und den der Aufklärung, weithin nachgeholt – wenn auch nicht konsequent, vielmehr mit zahlreichen Halbheiten und faulen Kompromissen. Doch immerhin bekennt sich nun auch die katholische Kirche gegen alle früheren päpstlichen Lehräußerungen in aller Form zu Religionsfreiheit und Toleranz, zu den Menschenrechten, zur Ökumene der christlichen Kirchen, zu einer neuen Einstellung zum Judentum, zum Islam und den anderen Weltreligionen, ja zur säkularen Welt überhaupt.

Kein Wunder, dass diese positive Entwicklung auch die Einstellung zum Freimaurertum verändert hat. Zwar wurde den Konzilsvätern schon in der Ersten Konzilssession mehr als eine Hetzschrift über die sogenannte »jüdisch-freimaurerische Verschwörung« in Haus geschickt. Doch konnte dies alles die Verabschiedung der Dekrete über die Religionsfreiheit und über die Juden nicht verhindern. Ja, es gab sogar eine Konzilsintervention zugunsten des Freimaurertums – durch einen mexikanischen Freund von mir, den Bischof von Guernavaca Sergio Méndez Arceo. Sie fand zwar keinen Niederschlag in den Konzilsdokumenten, doch wurde faktisch das Tor geöffnet für erste offizielle Gespräche zwischen dem Freimaurerbund und dem römischen »Sekretariat für die Nichtglaubenden«. Die Ergebnisse sind in der »Lichtenauer Erklärung“ (Schloss Lichtenau in Oberösterreich) vom 5. Juli 1970 festgehalten. Manche Missverständnisse werden ausgeräumt und es wird klargestellt: der Bund der Freimaurer sei keine neue Religion und keine Antikirche, vielmehr eine dogmenfreie ethische Gemeinschaft, der Glaubens- und Gewissensfreiheit verpflichtet; die päpstlichen ← 13 | 14 → Bullen gegen die Freimaurer hätten nur historische Bedeutung, ebenso die Verurteilungen durch das Kirchenrecht.

Zehn Jahre später aber meint die Deutsche Bischofskonferenz so etwas wie eine »Unvereinbarkeitserklärung« abgeben zu müssen: wegen Relativismus und Subjektivismus im Religionsverständnis der Freimaurer, deistischem Gottesbild, Ritualen mit sakramentsähnlichem Charakter … Doch beachten Sie das Datum: der 12. Mai 1980: das war ziemlich genau ein Monat nach dem Abschluss der viermonatigen Auseinandersetzungen um die Lehrbefugnis des von Ihnen Ausgezeichneten an der Universität Tübingen, die zwischen der Woche vor Weihnachten 1979 und der Osterwoche 1980 zweifellos ein ungünstiges Klima schufen für die zur selben Zeit tagende Dialoggruppe der Bischofskonferenz und der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD). Diese wiesen denn auch zurecht die »aufgestellte Behauptung, die Zugehörigkeit zum Freimaurerbund stelle ›die Grundlagen der christlichen Existenz in Frage‹ als Anmaßung zurück«. Doch die Haltung der Deutschen Bischofskonferenz blieb auch in dieser Frage umstritten.

Drei Jahre später zeichnet sich in der römisch-katholischen Kirche eine veränderte Position ab. Die 1983 veröffentlichte nachkonziliare Neufassung des Codex Iuris Canonici erwähnt die Freimaurerei nicht mehr. Damit ist auch die 1917 angedrohte Exkommunikation aufgehoben. Ein moralisch begründetes Verbot einer Mitgliedschaft im Freimaurerbund freilich bleibt bestehen und wird in der »Declaratio de associationibus massonicis« (26.11.1983) der römischen Glaubenskongregation unter dem Vorsitz von Kardinal Ratzinger, dem jetzigen Papst Benedikt XVI., für die Weltkirche bekräftigt. Aber, so hatte der Jesuit Richard Sebott schon 1981 in der katholischen Zeitschrift »Stimmen der Zeit« geschrieben »Es könnte durchaus sein, dass der Katholik, der in eine Freimaurerloge eintritt, ›bona fide‹ handelt, also der Meinung ist, mit seinem Eintritt in die Loge nichts Böses zu tun.«

Katholische Autoritäten, die das Freimaurertum aburteilen, sollten bedenken, dass katholische Kirche und Freimaurertum ähnliche Probleme der Modernisierung haben: Hier wie dort die Diskussion, ob den hohen Idealen die real existierende Gemeinschaft genügend entspricht;

ob man mehr den mystischen oder mehr den aufklärerischen Aspekt der eigenen Gemeinschaft betonen soll;

ob man in den Riten mehr das Geheimnis oder die Öffentlichkeit pflegen soll,

ob man mehr die gleiche Würde der Mitglieder oder mehr die Hierarchie betonen soll.

Dazu natürlich die Rolle der Frauen, die nicht nur in der Kirche, sondern auch im Freimaurertum ein Problem ist. Doch ob eine als Männerbund gegründete ← 14 | 15 → Gemeinschaft Frauen aufnehmen soll oder ein Frauenklub Männer, darüber lässt sich füglich und trefflich diskutieren. Undiskutabel aber erscheint mir, dass eine Kirche, die von Anfang an als eine Glaubensgemeinschaft von Männern und Frauen gegründet war, in der auch Frauen leitende Funktionen wahrnahmen, die Frau in den kirchlichen Diensten immer mehr zurückdrängte und schließlich von allen höheren Ämtern ausschloss. In einem Punkt hat das Freimaurertum freilich notorisch weniger Schwierigkeiten: die Zölibatsfrage stellt sich nicht; auch die hohen Grade dürfen verheiratet sein.

Mit vielen anderen in allen christlichen Kirchen teile ich die Überzeugung, dass ein Christ Freimaurer sein kann und ein Freimaurer Christ. Besonders in den USA, in Italien und Österreich sind die Zugehörigkeit zu Kirche und Freimaurertum alltägliche Praxis. Hier und da gehören auch herausragende Vertreter der römisch-katholischen Kirche dem Bund an. Und gerade dass der Freimaurerbund als solcher dogmenfrei sein will, ermöglicht die Mitgliedschaft ja sowohl Angehörigen eines religiösen Glaubens als auch Vertretern anderer Weltanschauungen, solange sie tolerant und den Idealen der Menschlichkeit verpflichtet sind.

Und so freue ich mich denn aufrichtig über diesen Kulturpreis, der noch mehr als meiner Person der Sache gilt, der ich diene. Ich bin mir wohlbewusst, in einer Reihe sehr honoriger Preisträger zu stehen, von denen ich Fritz Pleitgen, Golo Mann, Siegfried Lenz und Karl-Heinz Böhm, Yehudi Menuhin und Lew Kopelew persönlich kennenlernen und hochschätzen durfte. Menuhin hat sich von Anfang an mehr als jede andere internationale Persönlichkeit für ein Weltethos eingesetzt und Kopelew ebenfalls die Idee tatkräftig unterstützt: Bewusstmachung gemeinsamer ethischer Standards in der einen Menschheit. Einer der berühmtesten Freimaurer spielt für mich eine besonders wichtige Rolle. Der spanische König hat mir übrigens eine Ehrencathedra in der Europäischen Akademie von Yuste verliehen, die dessen Namen trägt: Mozart!

Details

Seiten
274
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783653038712
ISBN (ePUB)
9783653994230
ISBN (MOBI)
9783653994223
ISBN (Hardcover)
9783631646052
DOI
10.3726/978-3-653-03871-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (November)
Schlagworte
Grundlagendiskussion Histrorie Kulturwissenschaft Entwicklungen der Geistesgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2013. 274 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Josef Wallmannsberger (Band-Herausgeber:in)

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