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Wissenstexturen

Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen

von Gunhild Berg (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband VIII, 300 Seiten

Zusammenfassung

Literarische Gattungen sind Wissensformate und -praktiken. Sie form(ul)ieren, organisieren, strukturieren, kurzum: texturieren Wissen. Der Band geht der Frage nach, welches Wissen Gattungen mithilfe der ihnen eigenen Texturen wie arrangieren. Welches Gattungswissen wird tradiert? Welche extratextuellen Objekte, Muster oder Bilder wirken in literarischen Gattungen? Die Beiträge analysieren etablierte ebenso wie originelle, kurzlebige Gattungen des späten 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Entstehung und Veränderung epistemische Brüche markieren. Dazu zählen Idylle, Novelle, Fragment, Rhapsodie, Ansicht, Porträt, Denkmal, Galerie, Panorama, Guckkasten, Daguerreotypie, Zukunftsbild, Experimentalroman, Studie, Dialogroman und Tatsachenroman.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Literarische Gattungen als Wissenstexturen. Zur Einleitung und zur Konzeption des Bandes
  • Sektion A: Texträumliche Wissensschauen
  • Gattungswissen: Die Idylle als Gnoseotop
  • Das wissenschaftliche Gebirgspanorama und panoramatisches Schreiben um 1800
  • Porträts, gerahmt und ungerahmt. „Ansichten“ von Natur und Volkswirtschaft im 19. Jahrhunder
  • HLiterarische „Genrebilder“. Visualisierung von Großstadt bei Rellstab, Glaßbrenner und Beta
  • Sektion B: Zeitwissen: Texturierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
  • Porträts, Denkmäler, Galerien. Zur Genese bildhafter Denkfiguren in der Biographik um 1800
  • Fie Novelle – eine autarke Gattung? Zur Relevanz medienhistorischer, anthropologischer und epistemologischer Kontexte für die Gattungskonstitution im 19. Jahrhundert
  • Wissen vom (Un)Reinen: Zum diskursiven Zusammenspiel von Idylle und Moderne
  • Die Gattung ‚Zukunftsbild‘, 1871-1900. Literarisierung und Politisierung von Zukunftswissen
  • Sektion C: Literarische Organisationen des Faktischen
  • Das Fragment in der Aufklärung
  • Der Dialog(roman) als anthropologische und poetologische Erzählform der Spätaufklärung – Johann Jakob Engel und August Gottlieb Meißner
  • Rhapsodisches Wissen.Die Rhapsodie als Organisationsform von Wissen um 1800
  • Der deutschsprachige Experimentalroman. Begriff und Wissenstextur einer (nicht)existenten Gattung narrativer „Studien“
  • Der Tatsachenroman und seine Vorgeschichte
  • Autorinnen und Autoren

← vi | vii → Vorwort

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf einen Workshop zurück, der im März 2013 am Zukunftskolleg der Universität Konstanz im Rahmen des von der Herausgeberin geleiteten DFG-Projekts „‚Versuch‘ und ‚Experiment‘. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960)“ stattfand. In der Konzeption und der Vorbereitung des Workshops war Nicole Rettig (Konstanz) während ihrer Projektmitarbeit sehr engagiert. Ich danke ihr sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre konstruktive Kooperation, die sich in den Aufsätzen nun niederschlägt. Mein besonderer Dank gilt Hans Adler (Madison, WI) für seine Perspektiven erweiternden Beiträge und Rainer Godel (Halle/ Saale) für seine ungebrochene Anteilnahme und seine stets hilfreiche Kritik an diesem Projekt. Für ihr Interesse an diesem Thema und die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte“ danke ich Ralf Klausnitzer und Lutz Danneberg. Die Redaktion der Beiträge hat Hanna Vielberg (Konstanz) mit aller Sorgfalt übernommen. Die Drucklegung wurde aus Mitteln des Zukunftskollegs der Universität Konstanz gefördert.

Innsbruck, im August 2014Gunhild Berg

← viii | 1 → Gunhild Berg

Literarische Gattungen als Wissenstexturen.Zur Einleitung und zur Konzeption des Bandes

Gattungen sind eine Aussageweise und damit eine Organisationsform von Wissen.1 Mit dieser These folgt der vorliegende Band den Forschungen zu einer Poetologie des Wissens, der zufolge Form und Aussageweise die Bedingungen und Möglichkeiten des überhaupt Sag- bzw. Schreibbaren und damit das Wissbare bestimmen.2 Eine solche wissenspoetologische Untersuchung begreift das Auftauchen nicht nur neuer, sondern aller Wissensobjekte „zugleich als Form ihrer Inszenierung“.3 Derartiges inszenatorisches Potenzial bietet die historisch variierende Formensprache kommunikativer, fiktionaler wie nichtfiktionaler Gattungen. Sie bieten Programme der Darbietung bzw. Darstellung, die Aussageweisen formieren. Indem sich ein Text einer bestimmten Gattung einschreibt oder eine neue Gattung erschreibt, schließt er nicht nur andere Realisationsformen aus, sondern weckt er auch spezielle Erwartungen, determiniert er sowohl Inhalt und Form seiner Aussage als auch seine Anschlussfähigkeit.4

Gefragt wird in diesem Band demgemäß nicht danach, wie das Wissen einer Epoche in Gattungen kommt oder welches Wissen literarische Gattungen verbreiten, sondern danach, welches Wissen Gattungen ihrer Form nach repräsentieren, welches sich historisch wandelnde Wissen ihren Strukturen und Strukturierungsleistungen inhärent ist. Denn Wahl und Ausstellung der literarischen Form reflektieren immer auch die Bedingungen des ihnen zugrundeliegenden Wissens.

Eine wissenspoetologische Untersuchung von historischen Gattungen geht daher davon aus,

← 1 | 2 → […] daß jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert, und sie interessiert sich demnach für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellungen diktiert, in denen er seine performative Kraft sichert.5

An drei zentrale Aspekte dieser These Joseph Vogls schließen die folgenden kursorischen Überlegungen an: 1. an das Wissen über „Regeln und Verfahren“ der Repräsentation, 2. an die spezifischen Darstellungsformen, unter denen hier Gattungen verstanden und untersucht werden, 3. an die performative via ästhetische Kraft dieser generischen Programme, die kognitives Verständnis oder sogar epistemische Evidenz sichern kann und soll.

1 Diskursives Regelwissen

Erkenntnis- und Repräsentationsweisen präfigurieren ein Untersuchungsfeld, wobei sie Wahrnehmungsinhalte und damit epistemische Dinge, mögliche Objekte des Wissens und Zugangsweisen zu ihnen sanktionieren, andere ausschließen und so das Wissbare grundlegend determinieren.6 Mikroskop, Panoramen, Daguerreotypien beispielsweise präformieren, indem sie Wirklichkeitsausschnitte zurichten, die Wahrnehmungsweisen akademischer Forschung und wissenschaftlicher Disziplinen. Als generische Repräsentationsweisen eines solchen Wissens wirken sie indes auch als epistemologische Regularien, die über szientifische Untersuchungen hinausreichende diskursive und nichtdiskursive Praktiken strukturieren und demzufolge auch reglementieren.

Die Regeln und Verfahren der Aussagenbildung stellen selbst wieder implizit ein Wissen dar, nämlich ein Wissen über die Verfahren, mit denen Wissen strukturiert wird. Neben einem deklarativen Wissen, d. h. dem propositionalen Wissensgehalt einer Wissensordnung, wird hierfür in erster Linie deren prozedurales und strategisches Wissen relevant.7 Ein solches Verfahrenswissen über Reglements und Strukturierungen manifestiert sich in diskursiven wie generischen Formationen und ihren Texturen, die Wissen selektieren, strukturieren und restringieren. Indem Gattungen als Aussageweisen mit ihrer Form(ul)ierung Wissen zu allererst herstellen, lassen sie es erscheinen, sind Gattungen also Wissensformate und Wissenspraktiken.8 Zugleich fungiert dieses Reglement als ← 2 | 3 → Legitimierungsstrategie. Als epistemologisches Korsett leitet und stützt es einen Geltungsanspruch, den die Gattungsstrukturen festigen. Die Entscheidung für bestimmte Genres und Diskursarten organisiert Wissensfelder nicht nur, sondern begründet sie auch,9 kann sie also er-schreiben, neu entwickeln, sie konsolidieren und legitimieren. Gattungen können daher als Form und Teil eines Geltungsanspruchs verstanden werden, mit dem die Wahrheit eines propositionalen Gehalts einer bestimmten Aussage nicht nur behauptet, sondern zugleich begründet und gefestigt wird.10 Gattungstexturen stabilisieren Wissensansprüche.

Die Arten und Weisen der narrativ entfalteten Texturen bergen einen wissenspoetisch evozierten Erkenntnismehrwert, der das Erkenntnispotenzial der literarischen Form sowohl ausstellt als auch reflektieren lässt. Die lesbar gemachten Strukturen des Wissens sind folglich auch dazu geeignet, Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen im Sinne eines Wissens über Wissensstrukturen einzuüben. Denn dem Begriffs- und Sprachsystem vergleichbar wirken Gattungen als Mittel der Internalisierung „beliebiger institutionell festgesetzter Begründungs- und Auslegungszusammenhänge“, die Erfahrungen typisieren, sie Kategorien zuteilen und in einen intersubjektiv (mit)teilbaren „Wissensvorrat“ einspeisen.11 Dass Gattungen „konventionalisierte Wirklichkeitsstrukturierungen“ seien,12 lässt sich nun spezifizieren: Gattungen sind konventionalisierte Wissensstrukturierungen.

Das Interesse des Bandes richtet sich folglich sehr viel weniger auf die Abbildung eines Wissensbereichs in Gattungen als vielmehr auf literarische Gattungen als Konstituenten von Wissen. Insofern Gattungen Wissen strukturieren, sind sie Ordnungshypothesen in der Wissenskonstruktion, weshalb ihr Wandel epochale Korrekturen in den hypothetischen Grundannahmen menschlichen Wissens indiziert. Wissenswandel, so darf folglich angenommen werden, korrespondiert Gattungswandel.

2 Generische Wissenstexturen

Was aber sind Gattungen? In der jüngeren Gattungsforschung bietet Klaus W. Hempfers Definition der Gattung als konstruierte Textgruppen unterschiedlichen ← 3 | 4 → Allgemeinheitsgrades ein breit anschlussfähiges Gattungsverständnis.13 Rüdiger Zymner fasst verschiedene neuere Positionen der Gattungsforschung zusammen, wenn er Gattungen als „Konstrukte oder Konventionen, darin aber zugleich auch historisch-soziale Institutionen“ versteht.14 Seine Beschreibung dieser „Organisationsformen von Sprachverwendung“ betont die Regelhaftigkeit und Beständigkeit der generischen „Sinngebungsmuster, die eine ordnende, stabilisierende und auch entlastende Funktion haben.“15 Die unterschiedlichen Dimensionen der Regulierungsfunktionen von Gattungen integriert der von Marion Gymnich und Birgit Neumann entwickelte „Kompaktbegriff Gattung“, der „die textuelle (inhaltliche wie formale) Dimension, die individuell-kognitive Dimension, die kulturell-historische Dimension und die funktionale Dimension“ von (literarischen) Gattungen vereint.16 Den disziplinär unterschiedlich ausgerichteten Gattungskonzeptionen zufolge sind Gattungen diskursiv relevant, nicht allein, weil sie verschiedene thematische Diskussionsfelder miteinander verknüpfen können, sondern vielmehr, weil sie an der Formierung thematisch übergreifender, diskursrelevanter Aussageweisen mitwirken; und auch systemtheoretisch, weil sie Komplexität reduzieren und Kontingenzen entgegenwirken, indem sie eine kommunikative Textur als Operanten (strukturelle Kopplung) in und zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen zur Verfügung stellen. Sie sind kognitionspsychologisch relevant, weil sie das Verständnis von zu schreibenden wie von geschriebenen Texten vorstrukturieren, und feldtheoretisch, weil sie nicht nur hermeneutische, sondern auch sozioökonomische Erwartungen bündeln können.

Die wissenspoetologische Gewichtung ihrer epistemischen Relevanz marginalisiert also nicht die kulturelle, soziale und kognitive Funktion von Gattungen als „literarisch-sozialen Institutionen“, „Bedürfnissynthesen“ gegenüber historischen Problemlagen oder kognitiven Schemata.17 Denn sobald generische ← 4 | 5 → Ordnungseinheiten aktiviert werden, werden Annahmen geweckt und „ stabile Muster der selektiven Wahrnehmung und Bewertung von Informationen in Gang“ gesetzt.18

Neben der integrativen Konzeption von Gattungen als verschieden relationierten Merkmalsbündeln reklamieren Gymnich und Neumann die Notwendigkeit, Gattungen „in ihrer historischen Kontextualität, […] in ihrer Interaktion […] zu koexistierenden Gattungen und synchronen Medien zu untersuchen und dabei die Themen, Verfahren und Motive zu bestimmen, die sich als strukturierende Prinzipien durch ein Spektrum von Texten bzw. Medien ziehen“.19 Solchen „strukturierenden Prinzipien“ entspricht Wilhelm Voßkamps Beschreibung der „dominanten Strukturen“ von Gattungen, die sich herauskristallisieren, stabilisieren und verfestigen.20

Aufgrund der spezifischen Literarizität dieser Wissen ordnenden Strukturen werden diese hier „Texturen“ genannt. Gemeint sind damit die texturierten Formierungen, kurz: Vertextungen von Wissen in fiktionalen wie nichtfiktionalen Literaturen. Der Begriff „Texturen“ profitiert dabei wesentlich von der Konzeption Moritz Baßlers, der nachdrücklich auf die in ihrem scheinbaren Bedeutungsverzicht Bedeutung tragenden Formaspekte, auf die syntagmatischen, im Unterschied zu den paradigmatischen Strukturelementen nicht austauschbaren Texturelemente des literarischen Textes aufmerksam gemacht hat.21

Gattungen bergen mithin ein Wissen, das hier als Wissenstexturen, nämlich als in Gattungsmustern textlich manifeste Wissensstrukturierungen, im Fokus steht. Das Kompositum Wissenstextur ist dabei mit Bedacht mehrdeutig: Es meint sowohl das Wissen über innerliterarische, generische Strukturmuster als auch das Wissen über die außerliterarische Referenzialität, das gattungsspezifische Textschemata konstituieren oder initiieren können, und ebenso eine Kombination von beiden Bedeutungsdimensionen, die dann entweder auf eine in eine literarische Gattung transformierte außerliterarische Wissensreferenz abzielen kann oder auf eine literarischen und nichtliterarischen Gattungsgrenzen ← 5 | 6 → vorausliegende gemeinsame Wissensrelation, die in sowohl fiktionalen wie auch nichtfiktionalen Gattungen wirkt.

Das in der Gattung referenzierte Verhältnis von inner- zu außerliterarischen Wissensrelationen kann nicht a priori bestimmt werden. Denn die Wahl der Gattung begründet die Organisation von Wissensfeldern, und vice versa greifen „elementare Figuren modernen Funktionswissens […] tief in die Fragen der Erzählweise und der narrativen Struktur[en]“ ein, wie Vogl am modernen Roman exemplifiziert.22 Wissensordnungen in Wissensfeldern und literarische wie nichtliterarische Wissenstexturen bedingen einander wechselseitig.

Gattungen sind ein signifikanter Artikulationstyp, der auf implizitem Regelwissen basiert, innerliterarisches Wissen konstruiert und außerliterarisches Wissen spezifisch literarisch inszeniert.23 Der propositionale Gehalt des Wissens, das sie texturieren, ist also inner- wie außerliterarisch diskursiviert:24 Das intraliterarische Gattungswissen eines Textes kann auf Wissen aus Poetiken, Gattungslehren, Musterbüchern oder kulturell tradierten Gattungsschemata referieren oder ein der Gattungsstruktur inhärentes Wissen sein, das durch den einzelnen Text als Gattungsvertreter aktualisiert wird. Der Einzeltext bedient sich dabei eines Gattungswissens, das einen Erwartungshorizont aufbaut, den seine Aktualisierung dieses Wissens auch in der Bestätigung des Gattungswissens durch seine performative Erweiterung nicht unverändert lässt. Einer klassischen poetischen Theorievorstellung gemäß ist dieses Wissen für etablierte literarische Gattungen theoretisch immer abrufbar, auch wenn propositionaler Gehalt, Relevanz und Status dieses Wissens historisch variieren. Das extraliterarische Gattungswissen eines Textes kann auf Propositionen ebenso wie auf Denk- oder Wahrnehmungsmodi oder auf Objekte der außersprachlichen Wirklichkeit rekurrieren (z. B. das „Panorama“, der „Guckkasten“ oder die „Skizze“).

Gattungen bergen also ein den Arten und Referenzsystemen nach vielfältiges Wissen, das sie selbst über sich produzieren und transportieren.25 Diese diskursive ← 6 | 7 → Interrelation des Gattungswissens bedeutet für den einzelnen Text keine schlichte Vermittlungs- im Sinne einer Transportaufgabe solchen Wissens, sondern seine Präsentation, die dieses Wissen in der textlichen Aussageweise mitkon stituiert. Gattungen fungieren als Form und Medium der Wissenstexturierung.

3 Das Beispiel paratextueller Gattungssignale

Generische Wissenstexturen transformieren inner- wie außerliterarische Wissensstrukturen, -ordnungen und -elemente und stehen daher in einem transitiven „wissenskulturellen Komplementär- und Konkurrenzverhältnis“26 zu anderen Gattungen, Medien und Diskursarten. Seine Zugehörigkeit zu intra- oder extraliterarischen Wahrnehmungsmustern oder -schemata flaggt ein Text mit Gattungssignalen aus. Dazu zählen u. a. paratextuelle Signale wie Begriffe, typographische Gestaltung und feste Eröffnungsformeln.

Dass Gattungssignale inner- wie außerliterarische Ordnungskonventionen aufrufen, stellt dabei eine Möglichkeit dar, nichtliterarisches Wissen in den Text zu bringen bzw. dieses Wissen an seine Interpretation heranzutragen. Ein solcher Rekurs organisiert das im Text verhandelte Wissen und trägt – aus Lesersicht – zum Wissen über die Ordnung des im Text offerierten ‚Sinns‘ bei. Peritextuell gesetzte Gattungsbegriffe beispielsweise machen die außer- und/oder innerliterarische Wissensrelation, die der Text aufbaut, explizit. Dafür ist der gewählte Terminus selbst wesentlich, denn synonyme wie antonyme Bezeichnungen für Gattungen präfigurieren verschiedentliche innertextliche Strukturmuster. Dadurch rubrizieren sie den Text nach verbindlichen Kriterien und dienen „als heuristische Größen zur Klassifikation und Ordnung von Texten“.27 Mit ihrer Begrifflichkeit verknüpfen Gattungstermini außer- mit innerliterarischem Wissen. Insofern der Gattungsterminus selbst zum inkorporierten Textbestandteil wird, ist er Wissenstextur.

Indem sie textliche Repräsentationsweisen selektieren, Rezeptionserwartungen steuern und inner- wie außerliterarisches Wissen auf einzelne literarische Texte anwendbar werden lassen, regulieren generische Wissenstexturen die Produktion und Rezeption von Texten. Sie wecken Schemata der Informationsverarbeitung, aktivieren und modifizieren Regelwissen. Positiv gesprochen, reduzieren sie Komplexität und kanalisieren sie Kontingenz. Dadurch präselegieren sie die Möglichkeiten, einen literarischen Text zu verstehen, und präjudizieren den Rezeptionsprozess. Negativ gesprochen, disponieren generische ← 7 | 8 → Wissenstexturen eine bestimmte Auffassungsweise und limitieren die Auffassungsmöglichkeiten des Textes.

Gattungsnamen steuern und beschränken überdies nicht nur die Rezeption des einzelnen Textes, ihre Verwendung trachtet überdies nach inner- wie außerliterarischem Prestige, das in verschiedenen historischen und diskursiven Kontexten unterschiedlich groß sein kann. Mit der terminologisch im Paratext ausgestellten Zuordnung eines Textes zu einer Gattung profitiert der einzelne Text dabei von der Wirkmächtigkeit der Worte, die nicht allein über einen Begriff oder eine Idee wirken, sondern auch über die ihrem Wortkörper inhärente, niemals konnotationsfreie Ausstrahlungskraft, kurz: über das symbolische Kapital des Worts.28 Dass das begrifflich okkupierte Renommee literatursoziologisch, ästhetisch wie epistemisch wirkt, bestätigen historische Konjunkturen, zu denen Autoren mit ihrer Gattungswahl elitäre und/ oder avantgardistische Distinktionen suchen oder der Literaturmarkt Moden werbewirksamer paratextueller Gattungsbezeichnung lanciert.29 Hinzu kommt, dass das performative Ausagieren einer texturierten Wissensordnung eine Evidenz birgt, die über die syntagmatische Gestalt des Textes hinausreicht, indem sie zusätzlich auch die Glaubwürdigkeit und die Ansprüche textexterner Wissensordnungen adaptiert und für die Argumentation wie Überzeugungskraft des Textes reklamiert.

Generische Wissenstexturen bestimmen also die Rezeption von Texten, und zwar sowohl im literatursoziologischen Sinne, dem zufolge das (sozioökonomische) Ansehen einer Gattung ihre Verkaufszahlen (mit)bestimmt, als auch im epistemischen Sinne, dem zufolge die Adaption renommierter Argumentationsmuster und Wissensformate die evidentiellen Effekte steigert, sowie im ästhetischen Sinne, dem zufolge der Bruch mit ästhetischen Konventionen und Erwartungen zu Bewunderung, Unverständnis oder Ablehnung führen kann. Die ästhetische Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Form bzw. Gattung ist daher mehrfach relevant, da sie nicht nur wissenspoetologisch eine epistemologische Entscheidung darstellt, sondern überdies eine bestimmte Erwartungshaltung an ein Prestige weckt, das sich mit der diskursiven wie generischen Wissensordnung verbindet, der sich der Text zuschreibt.

← 8 | 9 → 4 Historische Konjunkturen. Zur Konzeption des Bandes

Die Beiträge des Bandes analysieren dieses Wissen, das Gattungen über sich selbst produzieren, indem es das einzelne einer Gattung zugehörige Werk texturiert und performativ ausagiert. Sie richten sich demzufolge nicht auf allgemeine Probleme der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie. Vielmehr konzentrieren sie sich mithilfe konkreter literaturwissenschaftlicher Analysen auf historische Problemlagen im Rahmen der Gattungsgeschichtsschreibung. An der Position und Funktion konkreter Gattungen im historischen Wissensgefüge zeigen sie deren spezifisch formal evozierte, epistemische Leistungsfähigkeit. Bei den historischen Wissensordnungen geht es also weniger um ‚ganze‘ historische Wissenssysteme als räumlich, hierarchisch und anderweitig strukturierte (Diskurs-)Formationen, in die sich literarische Gattungen einfügen (als Experimentalsysteme, Hypothesenmaschinen, populärwissenschaftliche Distributionsformen u. a.) oder zu denen sie äquivalente Gattungssysteme darstellen können (als literarische in Analogie etwa zu biologischen Systemen),30 als vielmehr um die historisch konkrete Interaktion und Interrelation von textlich-literarischen mit außerliterarischen Wissensstrukturen als in ihrer Zeit epistemologisch relevanten Formen und Aussagemodi von Wissen.

Die Analysen des Bandes konzentrieren sich auf den Zeitraum vom späten 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit gegenstandsbedingten Konjunkturen um 1790/ 1800, 1840/ 1850 und 1880/ 1890.31 Denn in Zeiten der Normpoetik spielen Prozesse der Veränderung sicherlich eine geringere Rolle als Prozesse der Bestätigung. Doch nach dem Autoritätsverlust der Regelpoetiken führte die Öffnung literarischer Gattungen für nichtliterarische Ordnungsmuster zu neuen, oft programmatisch postulierten Gattungen, die vorbildlich, „normbildend“ wirkten wie A. G. Meißners „Kriminalerzählungen“ oder sich nicht durchsetzen konnten wie sein „Dialogroman“.

Aber gerade bei ‚neuen‘ literarischen Gattungen, die nicht an ein etabliertes Gattungswissen anschließen können, stellt sich das Problem verschärft, wie sie verstanden werden können, woher sie das ihren Gattungsregeln eigene Wissen beziehen, das den Lektüreprozess eines Textes regelt.32 Ein Indiz dafür bieten die ← 9 | 10 → Paratexte literarischer Werke, die häufig anzeigen, welcher literarischen oder extraliterarischen Konvention sich ein Text zuordnet. Wie stark Gattungsbegriffe Lesererwartungen provozieren und damit das Textverständnis ihrer Leser präjudizieren, illustriert folgende Anekdote, die Johann Heinrich Merck 1781 über seinen Freund und Kollegen, den Mediziner August Gottlieb Richter, mitteilte: Richter habe ihm

redlich eingestand[en], wie er in seiner LeseGesellschafft, da ihm der Meßcatalogus präsentirt worden, sich Woldmarn eine Seltenheit aus der Naturgeschichte, in ganzem Ernst, als ein seltenes Produkt der Naturgeschichte ausgezeichnet habe u. sehr betroffen gewesen seye, als man ihm einen Roman gebracht habe, wo er nichts von verstanden hätte.33

Denn was Richter erhielt, war Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar, der 1779 erstmals erschienen war.34 Merck erklärt die falsche Erwartung Richters folgendermaßen:

Der Mann ist ein Mediciner, u. hat von Nichts als Zoologie, u. Anatomie Begriff. Als ich mich näher erkundigte, so kam die Sache heraus, daß er glaubte, es seye eins von den Thieren, denen Buffon so gerne neue Nahrung [Nahmen?; G. B.] giebt, eine Art von Faulthier, oder Affe.35

Die paratextuelle Referenz auf die „Naturgeschichte“ setzt bei Richter eine konkrete Gattungserwartung frei, der er sein disziplinenspezifisch biologisches Wissen zugrunde legt. Seine Erwartung wird jedoch enttäuscht, da der Roman zwar ein in der Naturgeschichte virulentes Thema adaptiert, aber spezifisch literarisch ausagiert.36 Mehr noch, es macht ihn sogar „betroffen“, es irritiert ihn, dass die ihm geläufige Wissensordnung den ihm vorliegenden Text nicht prädeterminiert, weshalb er dem eigenen Eingeständnis nach von dem ganzen Buche „nichts“ versteht.

Das Beispiel Woldemar zeigt, wie voraussetzungsreich das Verständnis literarischer Texte und Gattungen ist. Die spezifisch literarische, generische Wissenstextur setzt den Rahmen, aus dem heraus die Form und darüber der Inhalt des Textes verständlich werden sollen. Nicht immer misslingt dies wie im Falle Richters gänzlich. Doch deutlich wird, wie schwer es neuen Gattungsmustern ← 10 | 11 → und -begriffen fallen muss, Anschlussfähigkeit herzustellen. Wenn die Gattungsbezeichnung eines Textes aber selbst dann, wenn sie originell ist, verstanden werden kann – und darauf deutet die einstimmige Heiterkeit des zeitgenössischen Anekdotenerzählers und seines Publikums hin –, dann wohl nur in der Kombination von naturwissenschaftlicher und literarischer Wissensordnung oder vor einem beiden vorausliegenden gemeinsamen Horizont.

Texte schreiben sich Wissensschemata oder Ordnungsmustern ein – sowohl in extraliterarische, diskurs- oder disziplinenübergreifende Ordnungsgenera als auch in intraliterarische Gattungstraditionen. So erleben ältere Gattungen neue Konjunktur(en), wie die „Idylle“ im 18., die „Novelle“ im 19. Jahrhundert und der „soziale Roman“ im Vormärz und im Naturalismus. Dieser Rekurs auf ein literarisch traditionsreiches Formeninventar schreibt poetologisch scheinbar fixierte Gattungen fort. Aber sogar dann, wenn ein Text vorgibt, sich an bereits etablierten Gattungstraditionen zu orientieren, modifiziert die performative Kraft des Einzeltextes das Gattungswissen, zumal unter den Bedingungen eines unvermeidlich veränderten kulturellen Kontextes.

Die Flut neuer Gattungen, die im späten 18. Jahrhundert auf den Markt drängten, spricht nicht nur für frühkapitalistische Vermarktungsstrategien eines angehend autonomen Literatursystems, sondern zeigt vielmehr auch einen epistemischen Bruch. Das in seiner Unüberschaubarkeit als nicht mehr in Gänze erfassbar begriffene Wissen wird textlich in Gattungen handhabbar zu machen gesucht, und zwar nicht schlicht durch Reduktion oder Simplifizierung, sondern durch textspezifische Transformationen: Durch „Abbreviatur, […] Anordnung und Strukturierung“ sind Gattungen „Instanzen“, die „gewissermaßen die Rahmenbedingungen für solche Sinngebung“ setzen.37 Gattungswissen aus Regelwissen und Textsignalen trägt also zur Bewältigung von Text und Wissen gezielt bei. Es wird zu dessen Strukturmerkmal und verweist zugleich auf die Grenzen des Darstellbaren wie des Wissbaren.

Die Welt- und Erdgeschichte verkörpert um 1800 beispielhaft dieses Problem der wachsenden Menge des Wissens und der Nichtüberschaubarkeit des Ganzen. Gattungsrepräsentationen der Biographie und der geologisch-geographischen Beschreibung erfordern einen fixen Referenz- oder erhöhten Standpunkt, um überhaupt etwas aus dieser Fülle wahrnehmen und erfassen zu können. Denn die anthropologische, psychophysische Reaktion auf dieses erkenntnispraktische Problem ist das Schwindelgefühl, das sich beim Blick auf das Ganze des Weltgeschehens wie der alpinen Bergketten einstellt. Für diese ← 11 | 12 → wissensgeschichtliche Situation bezeichnend sind daher literarische Gattungen, die Übersicht oder gar Ordnung herzustellen versprechen wie das „Panorama“, die „Galerie“ oder die „Ansichten“, wohingegen andere Gattungen Partialität, Kontingenz und Vorläufigkeit markieren wie die „Rhapsodie“, das „Fragment“ oder die „Skizze“. Dabei handelt es sich um Ordnungsraster und Formate, die wissensgeschichtlich präsent sind und zum einen eben Architekturen, Räume, musikalische oder bildende Kunstwerke strukturieren, zum anderen aber auch literarische Gattungen und Texte. Mit den Bezeichnungen artikulieren die Texte „Bedürfnissynthesen“38 aus außerliterarischen Repräsentationsweisen von Wissen und literarischer Aussageform. Extratextuelle Referenzrahmen wie die mit bestimmten extraliterarischen Themen, Begriffen, Objekten, Mustern oder Bildern bereits assoziierten Aussage-, Darstellungs- oder Inszenierungsweisen beeinflussen daher literarische Formen, Gattungsstrukturen, kurzum: Texturen.

5 Zum Zusammenhang der Beiträge

Der Sammelband vereint eng korrespondierende Einzelbeiträge, deren Anordnung sich an drei Dimensionen des Wissens orientiert, die im Zeitraum der Untersuchungen in der Folge der kantischen Urteilskritik nicht nur erkenntnistheoretisch diskutiert, sondern auch Erkenntnis bzw. ihre Repräsentation strukturierend manifest werden. Diese drei Dimensionen sind die Anschauungsformen von A) Raum und B) Zeit sowie C) die Selbstreflexionen der Gattungen über das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität. Diese Dimensionen umfassen dabei auch A) Erkenntnis erweiternde Strategien verräumlichter Anschaulichkeit als „Wissensschauen“ und B) mediale Konstruktions- bzw. Texturierungsleistungen des Wissens von der Zeit und den Zeiten. Spezifisch literale Texturierungen des Wissens zeigen C) die labile Grenzziehung zwischen Faktualem und Fiktionalem, d. h. die Konstruiertheit, ja Ununterscheidbarkeit von empirisch oder naturwissenschaftlich vermeintlich exakten Fakta in ihrer sprachlich-textlichen, generisch texturierten Repräsentation.

Details

Seiten
VIII, 300
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653037685
ISBN (ePUB)
9783653994612
ISBN (MOBI)
9783653994605
ISBN (Hardcover)
9783631645703
DOI
10.3726/978-3-653-03768-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Wissensgeschichte Wissenspoetologie Gattungstheorie Wissenschaftsgeschichte Gattungsgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. VIII, 300 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Gunhild Berg (Band-Herausgeber:in)

Gunhild Berg studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Kunstgeschichte in Halle-Wittenberg und Wien. Sie ist Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, Fellow am Zukunftskolleg der Universität Konstanz und Leiterin des DFG-Projekts «Versuch» und «Experiment». Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaften und Literatur (1700-1960).

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Titel: Wissenstexturen
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