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Die soufflierte Stimme: Text, Theater, Medien

Aufsätze 1979-2012

von Helga Finter (Autor:in)
©2014 Sammelband 592 Seiten

Zusammenfassung

Ist die Stimme nur Toninstrument für Sprache oder ist ihr Klang selbst signifikant? Wer spricht, was singt in einer Stimme? Welche Rolle spielt ihre Theatralisierung für Subjekt-, Körper- und Sprachkonzepte? Wie schafft Stimme Präsenz? Wie eine Signatur? Wie wird ein Ursprung der Stimme, wie Audiovision dramatisiert? Welchen Einfluss hat der Einsatz von Mikrofon, Lautsprecher, Sound-Design? Was bewirken Aufzeichnungstechnologien? Welche Rolle haben akusmatische Stimmen? Was kennzeichnet eine Ethik der Stimme, eine Stimm-Politik? Wie verhält sich die poetische zur Autorenstimme? Auf solche Fragen antwortet dieser Band mit Analysen der Praxis von (experimentellem) Theater, Oper, Tanz, Medien, wie auch von poetisch strukturierten Texten, die performativ eine Ästhetik der Stimme entwerfen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I. Das Interesse an/der Stimme
  • Die soufflierte Stimme.
  • Sinntriften vom Dialog zum Polylog.
  • Interview mit Richard Foreman: Hören + sehen – wohin das alles zielt
  • Das Kameraauge des postmodernen Theaters
  • Die Theatralisierung der Stimme im Experimentaltheater
  • II. Textstimmen (1)
  • Die Videoschrift eines Atems: Philippe Sollers, Schriftsteller
  • Die Passionen der unmöglichen Leidenschaft: Eine Annäherung an die Welt der Marguerite Duras
  • Vom Theater des Wortes, das fehlt
  • Das Lachen Don Giovannis.
  • Die Theatermaschine des heiligen Antonius
  • III. Szenische Schrift und ihre Stimmen
  • Ein Raum für das Wort.
  • Pier Paolos Pasolinis Utopie eines Theaters der Poesie zwischen Kopf und Leib
  • ... eine Maschine, die die Bewegung des Denkens schriebe? Zu Gedächtnis und szenischer Schrift im zeitgenössischen Theater
  • IV. Theorie (1)
  • Audiovision.
  • Theater als Lichtspiel des Unsichtbaren
  • Der Körper und seine (vokalen) Doubles: Zur Dekonstruktion von Weiblichkeit auf der Bühne
  • Dioptrik des Körpers: Mit den Augen hören
  • V. Dem Unmöglichen Stimme geben
  • Das Reale, der Körper und die soufflierten Stimmen: Artaud heute
  • Das Theater und die Pest der Familie: Artauds Wort-Ton-Theater der Cenci
  • Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen: Georges Bataille und das Theater des Buches
  • Georges Batailles unsichtbarer Film: Das Szenario La Maison brûlée
  • VI. Theater, Film und Medien: akusmatische Stimmen
  • Musik für Augen und Ohren: Godard, das neue Theater und der moderne Text
  • Cyberraum versus Theaterraum.
  • Der (leere) Raum zwischen Hören und Sehen.
  • VII. Theorie (2): Intervokalität, Stimmkörperbilder
  • Intervokalität auf der Bühne: Gestohlene Stimme(n), gestohlene(r) Körper
  • Stimmkörperbilder.
  • VIII. Sprechen, deklamieren, singen
  • Was singt? Macht des Wortes, Macht der Stimme
  • Sprechen, deklamieren, singen.
  • Komik des Sprachkörpers: Corneilles Le Menteur und die Komik des Verses
  • Don Giovannis Körper
  • Der imaginäre Körper: Text, Klang und Stimme in Heiner Goebbels Theater
  • IX. Textstimmen (2): Ethik des Sprechens
  • Menschwerden.
  • Mit den Ohren sprechen: Heiner Müller liest
  • Ubu spricht.
  • Unmögliche Räume.
  • Dante lesen als Performance.
  • Einsatz des Dramas, Einsatz der Stimme im Theater der italienischen Renaissance
  • Ut musica poesis?
  • X. Epilog
  • Nach dem Diskurs.
  • Quellenverzeichnis
  • Index

Vorwort

Die junge Frau kleidet ein mit Zikaden und Zungen übersätes Gewand aus schillerndem Stoff, ihr Mund ist weit geöffnet. Auf ihrem Haupt nistet eine Schwalbe, die aufrecht im Nest steht und singt. Auf ihrer rechten Hand trägt sie eine Krähe. So bestimmt Cesare Ripas Bilderlehre, seine Iconologia1 in der Ausgabe von 1618, die Attribute einer allegorischen Figur, der Loquacità, Personifikation von „Beredsamkeit“ oder „Geschwätzigkeit“. Gesäumt von Schwalbengezwitscher und Krähenkreischen, von Zikadenschlag und fremden Zungen, ertönt, wie auf dem beigefügten Holzschnitt2 der geöffnete Mund der Figur andeutet, eine aus fremden Quellen gespeiste Stimme. Von Vögeln, Insekten oder fremden Zungen eingeflößt, sind Sprech- oder Gesangsstimme hier dem Animalischen nahe, Glück (die Schwalbe) oder Unheil (die Krähe) an- und herbeirufend. Diese von fremden Stimmen ein- und vorgegebene Stimme ist vom Körper getrennt, doch zugleich konturiert sie diesen, wie ein Gewand. So verdichtet die Darstellung der Loquacità zugleich das Bild einer soufflierten Stimme, weshalb sie als figura für den Umschlag dieses Bandes gewählt wurde.

Sänger haben schon immer gewusst, dass ihre Stimme nicht ihr Eigen ist, auch wissen sie um deren Fragilität, weshalb sie sie pflegen und hegen – „hätscheln wie eine Gemahlin“, sagte jüngst der Tenor Roberto Alagna in einem Interview.3 Womit er nicht nur auf die Trennung der Stimme vom Körper hinwies, sondern auch den Status der Stimme als Objekt des Begehrens anzeigte.

Was für die Gesangsstimme offensichtlich scheint, bleibt oft für die Sprechstimme noch verborgen: Die Tatsache, dass man spricht, wird vergessen, wie Jacques Lacan notiert,4 hinter dem, was gesagt wird, und in dem, was gehört wird. Die Materialität der Stimme wird vom Gesagten absorbiert. Doch spricht jemand, wird zugleich, selbst wenn die Stimme nicht als solche vernommen wird, auch ein Bild dessen, der spricht, projiziert. Es beeinflusst unbewusst das, was bewusst gehört wird oder gehört werden kann.

Die erste vom Kind vernommene Stimme kommt von außen, um eine innere Stimme zu werden, die ihm seinen ersten (Klang-)Körper gibt, der noch nicht von dem der Mutter getrennt ist. Diese innere Stimme kann weiterhin als äußere wahrgenommen werden: Manche folgen ihr bis in den Wahn, andere weisen sie zurück, um sie mit einer eigenen Stimme zu überdecken, wenn sie beispielsweise im Dunkeln singen. Um eine Stimme zu hören, muss sie als getrennt wahrgenommen werden; nur wenn sie als von einem Anderen herrührend anerkannt ist, kann eine eigene Stimme verlautet werden.5 Die Stimme ist Sache des Begehrens und der Übertragung. Das Verhältnis zu ihr knüpft sich in der Psychogene ← 9 | 10 → se. Man kann seine Stimme ‚bewohnen‘ wie ein Haus, ohne jedoch dessen Herr zu sein. Man kann sie auch als fremd, als auferlegt empfinden. Man kann sie annehmen oder aber fremde Stimmen suchen – in anderen Sprachen, im Gesang, in der Musik, in der Literatur, der Dichtung, im Theater.

Die Stimme ist ohne festen Ort, sie ist atopisch: sie schafft einen Klangraum zwischen Körper und Sprache.6 Sinnlich und physisch, vom Begehren und der Sprache geprägt, ruft sie die paradoxe Wahrnehmung hervor, einem Körper zu entspringen und zugleich an eine Sprache gebunden zu sein. Weder Instrument noch Medium, ist die Stimme von allen Seiten ein- und vorgegeben: Der Atem der Stimme haucht den Worten Leben ein, doch spricht die Stimme auch das Subjekt, wenn sie es als transzendentales Subjekt nichtet, um es vokal projizieren zu können. Die Stimme ist vielfach, sie ändert sich während eines Lebens, sie schwankt mit der Stimmung, modifiziert sich, wenn sie gesprochen oder gesungen wird, wenn sie andere Sprachen spricht. Die Stimme schafft einen Klangkörper, sie projiziert und bildet multiple Körper, wenn sie simultan eine Vielfalt von Stimmen als Intervokalität verlauten lässt. Ephemer, doch auch durch Aufzeichnung konservierbar, ist sie die Signatur eines singulären Timbres und eines persönlichen Melos, die heute teilweise – mit viel Aufwand – digital simuliert werden können. Sie ist Angelpunkt einer Theatralität, die Repräsentationen hervorruft, unterstreicht, verneint oder verschiebt. Sie evoziert Abwesendes, ruft das Reale (Lacan),7 das Unmögliche auf den Plan. Sie schafft Utopien von Klangkörpern, von physischen Körpern, von Sprachkörpern.

Nach dem Abschluss einer Studie über die ‚befreiten Worte‘ Filippo Tommaso Marinettis, der in seiner visuellen Poesie das Italienische in die Aggressions- und Gewaltlust der Klänge und Geräusche eines Maschinenkörpers gezwungen hatte,8 hatte ich vor mehr als dreißig Jahren begonnen, die ersten Texte zur Stimme zu schreiben. Damals, am Ende der siebziger Jahre, stand die Stimme selbst unter Verdacht – die Kritik des Logozentrismus (Jacques Derrida) verdammte sie als die Instanz, welche die Schrift verdeckte. Einzelne Stimmexperimente im Theater waren dagegen auf ihre Potentialitäten ausgerichtet, Körperlichkeit auszustellen; ihre Rhetorik durch die Exploration der Stimmtechniken erforschend, wie beispielsweise das Roy Hart Theater, zielten sie darauf ab, Stimme von der Wortsprache und der Schrift zu trennen, um sie in der Physis zwischen Geräusch und Schrei zu verankern.

Die Auseinandersetzung mit dem modernen poetischen Text einerseits und mit dem neuen amerikanischen Theater andererseits schürte den Zweifel an der Aporie eines Dualismus zwischen einer allein für die Augen bestimmten Schrift und einer rein körperlichen Stimme. Denn die doppelte Erfahrung von modernem Text und neuem amerikanischen Theater hatte mir auch eine bis dahin verkannte Qualität der Stimme offenbart: ihre sowohl vom Körper – den vokalen ← 10 | 11 → Körpermodellen – als auch von der Sprache – den phonischen und syntaktischen Aspekten – soufflierte Verfasstheit.9 Schon Jacques Derrida10 hatte im Zusammenhang mit Artaud dessen Konzeption einer parole soufflée, einer „soufflierten Rede“, analysiert: Für Artaud ist das Sprechen von fremder Rede eingegeben der Sprechende wird ‚gesprochen‘, weshalb er ebenfalls als transzendentales Subjekt „souffliert“, im Sinne von ‚weggeblasen‘, ist. Doch nicht erst die Rede, schon die Stimme ist souffliert, wie ebenfalls Artauds schmerzliche Erfahrung gezeigt hat und die Psychoanalyse zeigen wird: Ihre Souffleure sind in der Psy-chogenese Mutter- und Vaterstimmen, die Klangfarben und Tonführung der Stimme inspirieren; nach ihnen formt sich eine singuläre Stimme, die später soziale Stimmmodelle weiter beeinflussen werden. So hat die Stimme wie die Rede ebenfalls auch die Funktion, durch Nichtung des transzendentalen Subjekts die Projektion eines subjektiven Raums zu ermöglichen: Der Atem der Stimme haucht den Worten Leben ein und souffliert zugleich das Subjekt, damit es sich vokal projizieren kann. Diese soufflierte Qualität der Stimme begründet ihre sakrale und rituelle Funktion im Theater der Anfänge: Die im Ritual durch Gesang verlautete Stimme des Gottes oder toten Helden wird auf die Maske des Spielers übertragen, um ihr, zusammen mit der Bewegung, Leben einzuhauchen, sie zu „animieren“.11 Unter diesen Umständen lässt der Schauspieler eine von anderen soufflierte Stimme mit dem soufflierten Wort verlauten, um die Toten, wie zum Beispiel im japanischen Bunraku, auf der Bühne auferstehen zu lassen. Hierher rührt die differentielle Stimme sakraler wie auch theatraler Ereignisse. Die soufflierte Verfasstheit der Stimme stellte somit ihren Ursprungsmythos ebenso zur Disposition wie den einer primär die Augen ansprechenden Schrift.

Beim Zusammenstellen meiner Schriften zur Stimme für eine Buchpublikation stellte sich erneut die oft an mich gerichtete Frage des ‚Warum?‘ eines über so viele Jahre anhaltenden Forschungsinteresses. Das Interesse für einen Gegenstand ist geleitet vom unbewussten Begehren dessen, der es verfolgt. Doch wird dieses vom Forscher für gewöhnlich ausgeklammert.12 Dagegen legt eine Reflexion über die Stimme zugleich auch implizit eine Analyse des Begehrens nahe, da die Stimme und das Verhältnis zur Vokalität das Subjekt knüpfen, es projizieren und ihm einen Körper geben. Die in zwei Sprachen – der deutschen Muttersprache und der französischen Wahlsprache – erfolgten Recherchen hatten in einem ständigen Dialog zwischen beiden erlaubt, die Studienobjekte ebenso wie die theoretischen Einsichten nicht nur zu alternieren, sondern auch gegenseitig zu vertiefen und auf die Probe zu stellen. Das anfängliche Vorhaben, die Texte gemeinsam in beiden Sprachen in der chronologischen Folge zu publizieren, erwies sich schnell wegen der Seltenheit zweisprachiger Leser als nicht praktikabel, und so musste ich mir das utopische Ansinnen eines Unternehmens eingestehen, das mit meiner eigenen Zweisprachigkeit zugleich die Motivation eines ← 11 | 12 → Begehrens nach einer anderen Stimme ins Spiel brachte. Neben diesem Band, der die deutschen Texte zur Stimme sammelt, erscheint so separat ein Band mit den französischen Schriften zur Stimme unter dem Titel: Le corps de l’audible.13

Sicher spielen bei dieser Recherche auch autobiographische Elemente eine Rolle, so die elektive Zweisprachigkeit, bedingt durch einen Kontext, der von den Nachwehen einer nationalen Faszination für eine extreme Stimme und deren mörderischen Folgen geprägt war. Der Kontrast einerseits zwischen Stimmen der Nachkriegszeit, in denen noch in der Öffentlichkeit der tausendjährige Sprechduktus oder auf den Bühnen ein Echo des ‚Reichskanzleistils‘ (Fritz Kortner) nachklang, und andererseits den Stimmen der Dichtung und vor allem des französischen modernen Textes hat ebenso zur Sensibilisierung für das Stimmphänomen beigetragen, wie später dann die Konfrontation mit einem Theater, das die Stimme selbst zum Drehpunkt einer Dramatisierung und Theatralisierang zu einem Zeitpunkt machte, als dieses sich allein durch neue visuelle Bilder zu erneuern glaubte.

Die einzelnen Sektionen des Bandes schlagen weitere Antworten für das Interesse an der Stimme ausgehend von deren jeweiligem ‚Interesse‘ vor: Die Beiträge zur ersten Sektion siedeln das Interesse an der Stimme zwischen Sprechstimme und Gesang, zwischen Textstimme und Performerstimme, zwischen Bild und Ton an und zeigen sie als das Element, das die Figur auf der Bühne ebenso erst hervorbringt wie sie erst die Ausbildung von Repräsentationen für den Zuschauer ermöglicht. Theoretische Beiträge wechseln sodann mit solchen ab, die den Stimmen der Schrift und der szenischen Schrift von Theater oder Medien gewidmet sind. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass theoretische Reflexion durch die Erfahrung und Anschauung künstlerischer Praxis motiviert sei, während künstlerische Praxis selbst als Denken in actu, das die theoretische Analyse antizipiert, verstanden wird.

Ausgehend von der Erfahrung poetisch strukturierter Texte, der Praxis von Theater, Oper, Tanz und Medien, vertiefen und erweitern diese Schriften Fragen, die zuerst ein neues Theater mir gestellt hatte: Ist die Stimme ein Instrument, wie dies die Linguistik behauptet, oder ein vokaler Text? Welche Rolle spielen dabei der Ton und der Klang? Welches sind die Wirkungen ihrer Semiotisierung und die Funktionen vokaler Theatralisierung für die Konzeptionen des Subjekts, des Körpers und der Sprache? Wie wird der Ursprung der Stimme dramatisiert? Welche Funktion hat die vokale Theatralisierung? Und welchen Einfluss hat der Einsatz von Mikrophon, Lautsprechern und Sound Design? Wie schafft die Stimme Präsenz? Was ist ihre Singularität, ihre Signatur? Was bewirken aufgezeichnete oder digitalisierte Stimmen? Wozu dienen akusmatische Stimmen ohne sichtbare Quelle, worauf weist ihre Verwendung im heutigen Theater hin? Welche Ethik der Stimme ist im Hinblick auf Text oder Körper ← 12 | 13 → denkbar? Hat die Stimme einen politischen Impakt? Wie lesen Autoren ihre Texte und warum?

Die Schriften dieses Bandes gehen diese Fragen, ausgehend von der Auseinandersetzung mit Texten, mit theatralen Produktionen und Musiktheater ebenso wie mit Medien, an. Der Weg zur Vertiefung dieser Fragen ist vom jeweiligen historischen Kontext geprägt: So stehen zuerst die aus der Theatralisierung der Stimme hervorgegangenen Konzeptionen des Subjekts mit ihrer stimmlichen Projektion im Zentrum. Dies führt dazu, zuerst auf die durch Klang und Rhythmus hervorgehobene Körperlichkeit der Stimme gegenüber den Verfahren abzuheben, die den Ton und die Sprachrhetorik unterstreichen. Sodann wird der Typ des auf der Bühne manifestierten Vokalkörpers wie auch seine Intervokalität, das Zitieren und die Montage mehrerer Stimmen, hinterfragt. Diese theoretischen Annäherungen werden die Anfangsthese einer Atopie und Vielfalt der Stimme sowie Thesen zur Theatralisierung ihres Ursprungs präzisieren: Oszillierend zwischen der Utopie einer ersten Körperstimme einerseits und der Stimme eines Anderen, des Symbolischen, andererseits, kann so jegliche Stimmäußerung als Präsentation einer Repräsentation des Verhältnisses zur Sprache und somit als „Echo des Subjekts“14 verstanden werden.

Diese theoretische Reflexion hat von Anfang an das Denken der Psychoanalyse – Guy Rosolato, Denis Vasse, Jacques Lacan – und der Psychosemiotik – Julia Kristeva, Roland Barthes – berücksichtigt. Angesichts der Entwicklung der zeitgenössischen theatralen Genres findet sie zu einer Konzeption der Stimme, die als Manifestation und Modulation, aber auch als Verdrängung, Negation und Verwerfung einer doppelten pulsion invocante, eines doppelten invokatorischen Triebes verstanden wird. Der Begriff der pulsion invocante wurde von Jacques Lacan eingeführt, um die Wirkung der Stimme als Objekt a des Begehrens zu fassen, in gleicher Weise wie der Blick, den er als skopischen Trieb (pulsion scopique) theoretisiert hatte.15 Lacan bestimmt vier Triebe – den analen, den oralen, den skopischen und den Invokanztrieb – als maßgebend für eine erste Strukturierung der Psyche des Kindes, ausgehend von einem Mangel oder einer Trennung vom Objekt, das so zum Objekt a des Begehrens werden kann. Für Lacan ist der Trieb nicht angeboren, wie es das deutsche Wort nahelegt, sondern erst Wirkung der Einbettung des infans in die Sprache: Der Trieb ist für ihn „das, von der Tatsache, dass es ein Sprechen gibt, bewirkte Echo im Körper“.16 Der Invokanztrieb, dessen Objekt a die Stimme ist, weist auf zwei Formen der Trennung von der Stimme hin: Obgleich Lacan die Wichtigkeit der mütterlichen Stimme als ersten Anderen unterstreicht – von ihr hat das Kind sich zu trennen, indem es sie als von ihm getrennt anerkennt –,17 hat er vor allem in seinen seltenen Äußerungen zur Stimme auf die Rolle des Anderen der Sprache, das heißt auf der väterlichen bzw. göttlichen Stimme, insistiert, die den Horizont der pul ← 13 | 14 → sion invocante darstellt.18 Die Psychoanalytiker, die in seinem Gefolge, ausgehend von der Klinik, die von ihm nur in Ansätzen formulierte Theorie der Stimme systematisierten und erweiterten – Denis Vasse, Didier Anzieu –,19 verstanden sie dagegen vor allem als Anrufung des Imaginären einer ersten mütterlichen Stimme. Die Erfahrung eines neuen Theaters und vor allem der Dichtung bzw. des poetisch strukturierten Textes zeigt hingegen, dass poetische und szenische Schrift diese Aporie überwinden können. Ihre Stimmen rufen nämlich einen doppelten Anderen – den der ersten verlorenen Stimme und den einer Utopie des Symbolischen – an- und ab. Deren Invokation modulieren sie so vor einem doppelten Horizont: Theater wird zum Ort, in dem sowohl der Stimme des Körpers als auch der Stimme der Sprache ein Raum gegeben wird. Doch beide Stimmen sind auch Stimm-Utopień, die das Theater insofern erprobt, als es zwei unmögliche Stimmen, die verlorene imaginäre und die unmögliche Stimme des Anderen, in einer Polyphonie zu einem heterotopen Klangraum verbindet.

Von Anfang an haben szenische Praxis und Schrift die Überlegungen der vorliegenden Aufsätze informiert, korrigiert und präzisiert. Das neue amerikanische Theater und Bühnenexperimente mit poetischen oder (post)dramatischen Texten, die neue Vokalpraktiken verlauten ließen, Musiktheater und Oper, aber auch Figurentheater und der szenische Einsatz neuer Technologien werden in Betracht gezogen. Zusammen mit dem poetischen Text haben diese Praktiken erlaubt, die Funktion der Stimme auf der Bühne wie auch die von Texten als grundlegend für die Theatralität zu bestimmen: Ihre Dialektik von Präsenz und Absenz, die Transkodierung von Visuellem und Auditivem sind der Angelpunkt, der beim Hörer oder Leser mental Repräsentationen aufscheinen lässt, die er in auditiven, visuellen oder audiovisuellen Bildern konkretisiert, um so eine mentale Repräsentation dessen, was er gehört und gesehen hat, auszubilden.

So präzisiert sich auch eine politische Funktion der Stimme: Diejenige historischer Rhetoriken ist Tribut einer Körperpolitik. Dagegen gilt es heute vor allem, Strategien einer Ethik des Worts und der Stimme auf der Bühne zu entwickeln. Im aktuellen Kontext einer Rundumbeschallung durch Musik, die den öffentlichen Raum in ein anästhesierendes Klang- und Geräuschbad taucht, mögen Stimme(n) des Textes, vokale Signatur ebenso wie differentielle Stimme(n) die Antworten auf die sonore Homogenisierung und die Biopolitik der Gesellschaft des Spektakels sein. Eine solche Ethik der Stimme und des Worts beinhaltet, die Stimme des Anderen der Sprache anzuerkennen, der wir – trotz ihrer sich den Stimmen der Eltern und sozialer Modelle verdankenden Textur – eine eigene, von einem anrufenden Begehren signierte Stimme leihen. So können wir nicht nur uns als Subjekte manifestieren, sondern auch genießen, ephemer zu existieren. ← 14 | 15 →

Die Stimme ist souffliert, sie verliert sich im Raum zwischen Körper und Sprache, doch projiziert sie auch einen Körper, den sie formt, schafft und verändert, indem sie uns verändert. Sie bewirkt, dass Worte zu anderen sprechen und gehört werden können. Auch vermag sie, zu uns in anderer Weise zu sprechen. Daher ist ihr Reich immer auch von Souveränität geprägt. Doch ist diese Souveränität nicht mehr die einer immanenten Macht oder einer Transzendenz, die jene legitimiert, sondern die unendliche Kraft eines begehrenden Subjekts, das die Trauerarbeit an der Trennung von der Stimme vollzieht, ohne hingegen aufzuhören, mit ihr deren Überschreitung an- und aufzurufen. Obwohl heute aufzuzeichnen und technisch zu modifizieren, bindet die Stimme uns an das Reale, an den Tod. Doch überlebt sie auch in der Schrift, die eine unmögliche Stimme nahelegt, die utopische Stimme des Körpers und utopische Stimme der Sprache vereint. Ihr potentielles (inneres) Verlauten durch andere, in der Lektüre und in performativen szenischen Praktiken, macht die Stimme mächtig, zugleich aber auch als Einsprache befreiend.

Abschließend ein Dank all jenen, die in den Anfängen diese Recherchen ermutigt haben und deren Stimme heute in ihren Texten und in meinem Gedächtnis weiterlebt: Michel de Certeau, René Payant, Philippe Lacoue-Labarthe, Brunella Eruli. All denen, zu zahlreich, um sie hier im Einzelnen namentlich zu nennen, die mir durch Einladungen zu Tagungen oder zu Buchprojekten Gelegenheit gaben, meine Überlegungen zur Stimme dazulegen, zu überprüfen, weiterzuführen und zu vertiefen, sei hier ebenfalls mein Dank ausgesprochen. Auch meinen Kollegen am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Heiner Goebbels und Gerald Siegmund, wie auch den Studierenden der Seminare, mit denen der Austausch über ihre künstlerischen Forschungen neue Horizonte geöffnet hatten, bleibe ich dankbar verbunden. Ein besonderer Dank gilt Serena Schranz, die mit großer Sensibilität und fachlicher Kompetenz das Manuskript eingerichtet, gegengelesen und den Index erstellt hat. Der Druck wurde unterstützt mit meiner Professur zugewiesenen Forschungsgeldern der Universität, auf die ich nach meinem Ausscheiden noch zurückgreifen durfte. Die letzte Danksagung gilt all den Verlagen und Zeitschriften, die mir den erneuten Abdruck meiner Aufsätze in diesem Band erlaubten.20 Die hier versammelten Aufsätze werden in ihrer ursprünglichen Länge wiedergeben, weshalb Wiederholungen unvermeidlich waren. Auch wurde bei Vorträgen der Sprachduktus der Sprechsituation nicht geändert. Hingegen wurden die Texte zur besseren Leserlichkeit überarbeitet, ergänzt und gegebenenfalls korrigiert, sowie mit einigen unveröffentlichten Texten angereichert.

Dezember 2013 ← 15 | 16 →

Anmerkungen

1Nova Iconologia di Cesare Ripa Perugino, Cavalier de SS. Mauritio & Lazzaro, Padua, Pietro Paolo Tozzi, 1618, III, 612. Nachdruck in zwei Bänden: Cesare Ripa, Iconologia, gekürzte Ausgabe (Edizione pratica), hrsg. v. Piero Buscoli, mit einem Vorwort v. Mario Praz, Turin 1986, hier Bd. 2, S. 283–284.

2Ebd., S. 284.

3Vgl. Interview von Valérie Robert mit Roberto Alagna, „Je traite ma voix comme une épouse“, in: Version Femina 601, 2013, S. 15.

4Jacques Lacan, „l’Étourdit“, Scilicet 4, 1973, S. 5: „Qu’on dise reste oublié derrière ce qui se dit dans ce qui s’entend.“

5Vgl. Jean Michel Vivès, La Voix sur le divan. Musique sacrée, opéra, techno, Paris 2012, S. 35–46.

6Vgl. Guy Rosolato, „La voix entre corps et langage“, in: Revue Française de Psychanalyse, t. XXXVIII, 1, 1974, S. 77–94.

7Vgl. J. Lacan, Le Séminaire Livre IV: La relation à l’objet (1956–1957), Paris 1994, S. 30–33.

8Vgl. Semiotik des Avantgardetextes. Gesellschaftliche und poetische Erfahrung im italienischen Futurismus, Stuttgart 1980.

9Hier war insbesondere die Erfahrung mit Artaud wichtig, dem der zweite Band meines Der subjektive Raum, Tübingen 1990, gewidmet ist.

10Vgl. Jacques Derrida, „La parole soufflée“, in: Ders.: L’Écriture et la différence, Paris 1967, S. 253–292; dt. „Die soufflierte Rede“ in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1972/76, S. 259–301.

11Vgl. zum Begriff der Animation, Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.

12Vgl. J. Lacan, Le Séminaire Livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964), Paris 1973, S. 11–14.

13Die französischen Texte zur Stimme erscheinen gleichzeitig in dem Band: Le Corps de l’audible. Écrits français sur la voix 1979–2012, Frankfurt/Main 2014.

14Vgl. Philippe Lacoue–Labarthe, „L’écho du sujet“, in: Ders., Le Sujet de la philosophie. Typographies I, Paris 1979, S. 217–303.

15Vgl. J. Lacan, Le Séminaire Livre XI, S. 63–109.

16Vgl. J. Lacan, Le Séminaire Livre XXII: Le sinthome (1975–1976), Paris 2005, S. 17.

17Vgl. J. Lacan, Le Séminaire Livre IV, S. 44–68.

18Vgl. J. Lacan, Le Séminaire, Livre III: Les Psychoses (1955–1956), Paris 1981, S. 11–54.; Ders., Le Séminaire Livre X: L’angoisse (1962–1963), Paris 2004, S. 281–321; Ders., Le Séminaire Livre XI, S. 96; Ders., Le Séminaire Livre XXII, S. 17; vgl. ebenfalls J. M. Vivès, La Voix sur le divan, S. 35–46.

19Vgl. Denis Vasse, L’Ombilic de la voix. Deux enfants en analyse, Paris 1974; Didier Anzieu, Le Moi–peau, Paris 1985.

20Vgl. das Quellenverzeichnis am Ende dieses Bandes. ← 16 | 17 →

Die soufflierte Stimme

Klang-Theatralik bei Schönberg, Artaud, Jandl, Wilson und anderen

Die Geschichte des Theaters ist die Geschichte eines langen, stummen, sturen, niemals zu Ende gekommenen Protests gegen den menschlichen Körper.

Valère Novarina

Das Experimentaltheater der siebziger Jahre misstraut dem Wort. Es erscheint ihm als souffliertes Wort (Derrida) von Samuel Beckett bis Ernst Jandl über Robert Wilson zu Richard Foreman. Sein Horizont ist nicht mehr das Gesprochene, sondern das Sprechen, nicht mehr das Sprechen der Sprache, sondern der Stimme. Die Oper wird zum Modell: Robert Wilsons Einstein on the Beach und A Letter for Queen Victoria – „Opern“; Death, Destruction & Detroit – „Ein Stück mit Musik“; Meredith Monks Vessel und Recent Ruins – „Opern“; Ernst Jandls Aus der Fremde – „Sprechoper in 7 Szenen“. Ein weiteres Zeichen, nun auch auf dem Theater, für den um sich greifenden Prozess des Rückzugs des Worts?

Die Zeichen trügen. Zwar ist der Glaube an die Macht der Wortsprache erschüttert, aber das ist er seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dafür hat jedoch der moderne Text ihr einen Bereich erschlossen, der einen Aspekt der Wortsprache, ihre musikalische Qualität, in ihrer Funktion für den Sprechenden zu erforschen sucht. Die Musik der Stimme des Textes wird dort erfahrbar als ein Grenzbereich zwischen Körper und Wortsprache, als der Bereich, in dem Atem und Klang nicht mehr Körper und noch nicht Sinn sind.

Die Erforschung der Grenzen dieses musikalischen Raumes geschieht in den letzten Jahren privilegiert auf dem Theater, das zu einem Ort wird, in dem die Beziehung von Hören und Sehen in ihrem Verhältnis und ihrer Funktion für das Subjekt neu erprobt werden. Damit wird ein Aspekt des Theaters wieder in den Vordergrund gestellt, der, wenn nicht verdrängt, so doch zum großen Teil in Vergessenheit geraten zu sein schien mit der Trennung in Sprechtheater und Oper. Diese Trennung verdanken wir in ihrer heutigen Form dem Sprachverständnis des 18. Jahrhunderts, das der französische Philosoph Jacques Derrida als Logozentrismus analysiert hat.

Die Sprechstimme wurde erst wieder im 20. Jahrhundert und zuerst von den Pionieren der neuen Oper ins Zentrum gerückt, Arnold Schönberg und Alban ← 19 | 20 → Berg mit ihrer Erforschung der Modalitäten von Sprechen und Gesang sind hier zu nennen, für das Theater sodann Meyerhold, Brecht und vor allem Artaud.

Die Stimme der Wortsprache: Der Ton

In diesen Experimenten von neuer Oper und Avantgardetheater werden zwei Qualitäten der Stimme als ein Zwischen von Körper und Sprache deutlich. Zuerst zeigt die Bearbeitung des Tons – die Verbindung von Tonhöhen, Tonrichtung und Tonfolge in der Prosodie –, wie die Stimme an die Wortsprache gekettet ist und je nach Nationalsprache kodiert wird. Zu einer Sprache gehört so die Satzmelodie, die Anfang und Ende der Sätze und Sinnabschnitte markiert, sowie ihre Modifikation durch Intonation von Fragen, Ausrufen und syntaktischen Segmentierungen, Einschüben und ähnlichem. Aber ihr gehören auch soziale und modale doppelte Kodierungen an. Sie entspringen Rhetoriken, welche die soziale Herkunft des Sprechers oder seine Stellung zum Gesagten in einer Rhetorik der Emotion (Freude, Schmerz, Trauer) oder einer Rhetorik der Distanzierung (beispielsweise Ironie) anzeigen sollen.

In einer Rhetorik der Expression versucht der Schauspieler mit der dargestellten Person mittels eines gesellschaftlich wahrscheinlichen Tons zu verschmelzen, in der Rhetorik der Distanzierung – von Meyerhold und Brecht fürs Theater aus dem Stil der Diseusen des Kabaretts entwickelt – verweist der Schauspieler mit einem Augenzwinkern auf den Doppelaspekt seiner Figur als an- und abwesend, denn er stellt zugleich die darzustellende Person und sich selbst aus. Doch dieses Selbst ist wiederum nicht die Person des Schauspielers als gespaltenes Subjekt, sondern vielmehr die vom Autor und/oder Regisseur –neben der Figur, der er seine Stimme leiht – zugewiesene Rolle für die Person des Schauspielers. Die Bearbeitung des Tons durch Mikrophone und eingeblendete Tonbandaufnahmen der Sprechstimme, so in Robert Wilsons I Was Sitting on my Patio this Guy Appeared I Thought I Was Hallucinating oder in Richard Foremans Luogo + bersaglio macht die Stimme des Selbst nicht nur als eine von einem anderen soufflierte Stimme erfahrbar, sondern sie ist vor allem auch deshalb soufflierte Stimme, weil ihr das Timbre und damit der Körper fehlt, das, was Roland Barthes die Körnigkeit der Stimme – le grain de la voix – nennt.1 Die fehlende Intonation kann in diesem Theater zum Teil durch visuelle Mittel wie Gesten und Bewegung, Licht, Dekor und Accessoires übernommen werden, wodurch auch die Funktion der Intonation erfahrbar wird, nämlich die Sprechsituation und Kohärenz des Gesprochenen herzustellen. Das Fehlen von stimmlichen Körperindizien verweist jedoch auf den anderen Ort, den dieses Theater in Filigran zeichnet: Die Stimme der Wortsprache wird hier als fremde Stimme, als der radikal Andere halluziniert, dem der Kampf angesagt wird. So ← 20 | 21 → mag sie wie in der Schizophrenie als Sprechzyste erscheinen oder wie in der Paranoia als böses Objekt.

Die Stimme des Körpers: Der Klang

Im Sprechgesang der Melodramen und Opern Arnold Schönbergs und Alban Bergs wird der Klang der Stimme ausgehend von der Musik erforscht, bei Antonin Artaud, so in Pour en finir avec le jugement de dieu (1947), steht er als Klangpotential des Textes im Mittelpunkt. Auf die Nähe dieser Erfahrung zur Musik hat schon Pierre Boulez hingewiesen.2

Im Sprechgesang geht es um eine Modalität der Stimme zwischen Sprechen und Singen. Alban Berg erarbeitet in der Oper Lulu bis zu vier Arten des Vortrags – rhythmisch fixiertes Sprechen, Sprechvortrag mit relativer Tonhöhe, Sprechvortrag mit fixierter Höhe und fixiertem Rhythmus, Sprechgesang –, die sich zwischen dem Sprechen und dem Singen (cantabile) bewegen. Der Sprechgesang wird immer als ein Versuch beschrieben, die Prosodie in Tonhöhen, Intervallen und Rhythmus zu fixieren. Schönberg weist dabei ausdrücklich darauf hin, weder in Gesang zu verfallen, bei dem die Tonhöhe gehalten wird, noch in reines Sprechen, bei dem der Ton kurz angetippt und in einem An- oder Abstieg verlassen wird.3 Diese musiktheoretisch rätselhafte Formulierung aus dem Vorwort zu Pierrot lunaire führt Pierre Boulez4 auf einen Irrtum in der Unterscheidung von Sprech- und Singstimme zurück: Bei derselben Person habe die Gesangstimme eine breitgefächerte und oft auch höhere Stimmlage als die Sprechstimme, die begrenzter und tiefer sein kann. Ähnliche Stimmlagen von Singstimmen könnten verschiedene Stimmlagen derselben Stimmen beim Sprechen beinhalten. Zudem bleibe die Sprechstimme nicht auf dem nur kurz klingenden Ton, wodurch sie einer Art Perkussionsinstrument gleiche. Als Beispiel für die Undurchführbarkeit der Schönbergschen Anweisungen gibt Boulez die von Schönberg selbst dirigierte Aufnahme des Pierrot lunaire mit der von ihm bevorzugten Interpretin Erika Stiedry-Wagner an,5 die aus der Tradition der Diseusen kommt. Ihre Interpretation führt Pierre Boulez zu dem Urteil, dass Schönberg offensichtlich interessierter am Ausdruck als an der Korrektheit der Intervalle gewesen sei.

Mir legt das Anhören des Tondokuments jedoch einen weiteren Schluss nahe: Der Sprechgesang macht hier die Grenzen der an die Sprache gebundenen Prosodie, der Intonation, erfahrbar und weist auf einen Aspekt der Stimmführung hin, den die Linguistik nicht erfasst. Die Stimme des Sprechgesangs wird zum Klanginstrument, das Sprechklänge in dem Zwischen der Instrumententöne und in Konkurrenz mit ihnen zum Klingen bringt; dabei nehmen die Instrumentenstimmen die Klänge der Sprechstimme auf und machen sie im Kontrast der Klangfarben der Instrumente und Tonhöhen manifest, gemäß der Anweisung ← 21 | 22 → Schönbergs, wonach der Ausdruck sich nicht nach dem Sinn, sondern nach der Musik zu richten habe. Was die Musik also mit der Klangfarbe der Instrumente und dem Kontrast der Tonhöhen als Ausdruck kodieren kann, das gelingt der Sprechstimme nur punktuell, weil von ihrem Klangfarbenspektrum, dem Timbre, abhängig. Die Modulation der Klangfarbe ist nicht das Ergebnis der Modulation von einem Ton zum anderen, also nicht an die Tonhöhe und damit an den Umfang der Singstimmlage gebunden – er ist zum Beispiel bei den Kastraten außerordentlich. Sondern sie hängt von der Modulation der Frequenzen innerhalb eines jeweiligen Sprechstimmenumfangs ab, vom Timbre, das individuell verschieden, singuläres Attribut des Subjekts ist, bestimmt durch hormonale und physiologische Faktoren sowie durch die Triebkonstitution und das Geschlecht der Person.6

Details

Seiten
592
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653037487
ISBN (ePUB)
9783653994735
ISBN (MOBI)
9783653994728
ISBN (Hardcover)
9783631645604
DOI
10.3726/978-3-653-03748-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Schlagworte
Stimmästhetik Theatralität Akusmatik Intervokalität Audiovision Vokalität Psychogenese der Stimme
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 592 S.

Biographische Angaben

Helga Finter (Autor:in)

Helga Finter war Professorin am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Sie ist Herausgeberin von Das Reale und die (neuen) Bilder und Medien der Auferstehung und Mitherausgeberin von Sammelbänden zu Bataille, zum neuen Theater und von Werken Alfred Jarrys.

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Titel: Die soufflierte Stimme: Text, Theater, Medien
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