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«Seiner Leidenschaften Meister sein» - «In control of the passions»

Zur Reflexion des Gefühls im Musikdenken - Emotion as reflected in musical thinking

von Joachim Noller (Autor:in)
©2014 Monographie 390 Seiten

Zusammenfassung

Was heißt es, wenn Carl Philipp Emanuel Bach vom ausführenden Musiker fordert, er müsse selbst gerührt sein, bevor er seine Zuhörer in Rührung versetzen könne? Der Autor schreibt über die Idee der Emotion, über ihre Rolle im Szenario sogenannter Musikanschauung (von ca. 1750 bis heute). Von Interesse ist dabei weniger die Gefühlshaltigkeit der Musik selbst, als vielmehr die Art, wie das Musikdenken dieselbe be- und verhandelt; nicht Emotionen in tatsächlicher Wirkung, sondern wie sie, als Denkfigur, in musikalischen Zusammenhängen theoretisch bewältigt werden.
What does it mean when Carl Philipp Emanuel Bach demands that a performing musician must himself be moved before he can move his listeners? The author writes about the idea of emotions and their role in the scenario of what is called music appreciation (from about 1750 till the present day). His focus is not primarily on the emotional content of music as such, but rather the way in which it is treated in thinking about music; not on the actual impact of emotions, but the way in which they have been thought about in a musical context, as concepts around which a theoretical discourse crystallizes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben / About the Author
  • Über das Buch / About the Book
  • Zitierfähigkeit des eBooks / This eBook can be cited
  • Inhalt
  • Contents
  • Vorwort
  • Preface
  • Einleitung
  • Introduction
  • I Gefühle theoretisch
  • I Feelings - in theory
  • II Musik- und Gefühlsdenken. Prolegomena
  • II Music and thinking about emotion. Prolegomena
  • III „Triumph“ der Empfindsamkeit
  • III The “Triumph” of Sensibility
  • IV Gefühlvolle Romantik?
  • IV Emotional Romanticism?
  • V Beethovens Pastorale: mehr Ausdruck der Empfindung mit Malerei
  • V Beethoven's Pastoral Symphony: more (the) expression of feeling with painting
  • VI Ausdrucksästhetik, aus theologischer Sicht
  • VI A theological slant on the aesthetics of expression
  • VII Musiktheoretiker im Gefühlskampf
  • Gefühle jenseits der Gefühlsästhetik: „Hanslick was right“?
  • Hugo Riemann und das zivilisierte Gefühl
  • VII Music theorists in a battle royal over emotions
  • Emotions beyond the aesthetics of emotion: “Hanslick was right”?
  • Hugo Riemann and civilized emotion
  • VIII Janáčeks Seelenambiente
  • VIII Janáček and the ecology of the soul
  • IX Wege in die Moderne: Futuristische und andere Seelenzustände
  • IX Paths into the Modern era: Futurist and other states of the soul
  • X Wege in die Moderne: Die Krise des Gesangs
  • X Paths into the Modern era: The crisis of singing
  • XI Gefühlsverlassene Innerlichkeit: Webern und andere Expressionisten
  • XI Emotionally forsaken inwardness: Webern and other Expressionists
  • XII Psycho-/Neurologische Rehabilitierung der Gefühlsästhetik?
  • XII Psycho-/neurological rehabilitation of the aesthetics of emotion?
  • XIII Wie „präsent“ sind ästhetische Gefühle?
  • XIII How “present” are aesthetic feelings?
  • XIV Katharsis
  • XIV Catharsis
  • Bibliographie

Contents

Preface

Introduction

I Feelings - in theory

II Music and thinking about emotion. Prolegomena

III The “Triumph” of Sensibility

IV Emotional Romanticism?

V Beethoven’s Pastoral Symphony: more (the) expression of feeling with painting

VI A theological slant on the aesthetics of expression

VII Music theorists in a battle royal over emotions

Emotions beyond the aesthetics of emotion: “Hanslick was right”?

Hugo Riemann and civilized emotion

VIII Janáček and the ecology of the soul

IX Paths into the Modern era: Futurist and other states of the soul

X Paths into the Modern era: The crisis of singing

XI Emotionally forsaken inwardness: Webern and other Expressionists

XII Psycho-/neurological rehabilitation of the aesthetics of emotion?

XIII How “present” are aesthetic feelings?

XIV Catharsis

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Vorwort

Gedankt sei vor allem jenen Menschen, die mir Mut gemacht, die es verstanden haben, in mir Kräfte und Energien zu mobilisieren. Das konnten auch flüchtige Begegnungen sein, und deren Topographie entsprach nicht immer „klassischen“ Vorstellungen. Als Beispiel nenne ich die venezianische Wohnküche von Claudio und Mirella Toso Ambrosini, in der ich eine Fülle interessanter Menschen kennengelernt habe. An diesem und an anderen Orten wurde ich von einigen „berührt“, freilich haben nur wenige mein Leben geprägt. Da ist zunächst meine Familie, wie sie war und wie sie ist. Wie sie war: damit meine ich die Eltern Wilhelm und Emma Noller, denen mit solch dürftigen Worten ein Denkmal errichtet sei; vor allem meine Mutter hat mir geholfen, etwas in Angriff zu nehmen, was ich heute als experimentum vitae beschreiben würde. Dann meine Familie, wie sie ist: Marija Jankova, ohne die das vorliegende Buch gar nicht entstanden wäre, und Johannes, mit dem ich so fruchtbare Gespräche führe, wobei nicht nur seine physikalischen und kosmologischen Kenntnisse zur Geltung kommen, sondern auch die Fähigkeit, zwischen kultur- und naturwissenschaftlichen Fragestellungen zu vermitteln. Und das führt mich in meinem geistigen Werdegang zurück in eine Zeit, als ich die Schriften Carl Friedrich von Weizsäckers verschlungen habe. Er hat mich gelehrt, dass Interdisziplinarität nicht die abendliche Grenzüberschreitung wissenschaftlichen Tagwerks, sondern eine Voraussetzung wesentlicher Erkenntnisse darstellt (der Begriff Interdisziplinarität stünde damit selbst zur Diskussion), dass philosophisches Denken die Selbstbezogenheit fachwissenschaftlicher Diskurse hinterfragen muss: „Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, daß die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt. Diese sind insbesondere die eigenen Grundfragen des jeweiligen Fachs. […] die Biologie fragt normalerweise nicht, was Leben ist, die Psychologie nicht, was man mit Seele meint, was Bewußtsein eigentlich ist. So fragt auch die ganze Wissenschaft normalerweise nicht, was Wert und Wertfreiheit ← 7 | 8 → ist“1. Man könnte fortsetzen: Fachwissenschaften, die solche Fragen ernsthaft stellen, geraten schnell aufs Glatteis oder brechen gar ein, d.h. die Tragfähigkeit des Systems wird überschritten. Also dürfen wir uns gewisse Metaebenen des Denkens, die Weizsäcker als philosophisch bezeichnen würde, nicht verbieten lassen.

Unsere Abhandlung erscheint in zweisprachiger Ausgabe und soll damit nicht nur inhaltlich Grenzen überschreiten. Es ist lange her, als mich nordamerikanische Kolleg(inn)en erstmals aufforderten, wissenschaftliche Beiträge auch auf Englisch zu verfassen. Schon in meiner Erfahrung mit deutsch/ italienischen Texten stellte der Versuch, Diskurse in zwei Sprachen vorzulegen, eine große Herausforderung dar. Wenn dies auf den folgenden Seiten gelungen ist, dann verdanken wir es Philip Marston, der hier seine Vielseitigkeit unter Beweis stellt (unsere Zusammenarbeit begann in experimentellen Musiktheaterproduktionen): er hat meine labyrinthischen Ausführungen nicht bloß übersetzt, ihnen vielmehr eine sprachliche Parallelwelt geschaffen.

In fruchtbarem „Erdreich“ mögen bescheidene Gedanken zur Blüte kommen; über ein feedback würde ich mich somit freuen2.

1 Carl Friedrich von Weizsäcker, Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, Hanser: München/ Wien 1978, S. 167 f.

2 Email: jo.noller(at)t-online.de

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Einleitung

Die vorliegende Abhandlung ließe sich - zumindest entstehungsgeschichtlich - auf einen Aufsatz „über den schwierigen Umgang mit Gefühlen“ im Musikdenken des 20. Jahrhunderts zurückführen, den ich 1996 in der Österreichischen Musikzeitschrift veröffentlicht habe3. Hier wurde der Versuch gemacht, geschichtliche Phasen musikalischer Poetik (fokussiert auf das Denken einzelner Komponisten) in besagtem Zeitraum zu unterscheiden, eine frühere oder klassisch-moderne mit der dialektischen Gegenüberstellung von Igor Strawinsky und Anton Webern, eine mittlere oder hochmoderne Phase mit der Gegenüberstellung von Pierre Boulez und Luigi Nono, eine spätmoderne, zumindest dort hineinführende Phase mit dem nicht mehr dialektisch polarisierbaren Positionsgemisch von Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, Dieter Schnebel und Hans-Jürgen von Bose. Die Redaktion der Zeitschrift hatte diesen Aufsatz vor Drucklegung mehreren Komponisten zugeschickt mit der Bitte, ihre eigene Sicht zur darin erörterten Thematik darzustellen.

Einige Kommentare gaben und geben uns auch heute noch zu denken. So äußert sich der taiwanesisch-österreichische Komponist Shih (geb. 1950) auf eine Weise, die bei vielen Kollegen wohl als naiv bezeichnet würde: er hoffe, dass im 21. Jahrhundert „wieder erlaubt sein wird, auch als Komponist Gefühl zu zeigen“4. Als Europäer des 20. und 21. Jahrhunderts haben wir das Problem, nicht nur den Traditionen, sondern auch den Reaktionen/ Antireaktionen auf diese Traditionen verpflichtet zu sein. Unsere Handlungen werden einerseits von heimlichen Neigungen, auf der anderen Seite von Imperativen und Verboten bestimmt (und begrenzt).

Dass es Shih aber nicht nur um die naive Bekundung eigener Gefühle geht, zeigt der folgende Satz: „Um den komplexen psychischen Prozeß von panischer Angst zu nachdenklicher Zuversicht [..] in Musik umzusetzen ← 9 | 10 → [er bezieht sich hier auf sein Oratorium Lebend’ges Land], muß ich ihn zuerst einmal selber nachvollziehen können - und zwar in allen seinen Abläufen, in allen von ihm angerichteten Verstörungen und Verwundungen, in allen seinen Emotionen“5. Der Komponist soll also zum einen Gefühl zeigen, andererseits einen psychischen Prozess „selber nachvollziehen“. Ist damit Ähnliches oder aber etwas ganz anderes gemeint (der Begriff Nachvollzug könnte als imaginärer oder auch kognitiver Vorgang gedeutet werden)? Und unversehens gerät der Taiwanese ins kulturelle Labyrinth seiner Wahlheimat. Allein dieses kleine Beispiel zeigt uns, dass der Umgang mit Gefühlen nicht nur von Gefühlshaltungen, sondern auch von einer komplexen Sprachproblematik abhängt. Einerseits sind wir mit Stereotypen konfrontiert (z.B. häufig mit dem Begriff Ausdruck), andererseits mit einer semantischen Vielschichtigkeit und damit auch mit sprachlichen Differenzierungen, die oft nur schwer zu entschlüsseln sind. Soll man Begriffe deskriptiv oder symbolisch verstehen, in wörtlicher Direktheit oder in übertragener Bedeutung? Was heißt es, wenn Carl Philipp Emanuel Bach um 1750 vom ausführenden Musiker fordert, er müsse selbst gerührt sein, bevor er seine Zuhörer in Rührung versetzen könne. Ist die simplifizierende Rezeption solcher Postulate vielleicht einer verkürzten Sprache geschuldet, indem mit „gerührt sein“ ein viel differenzierteres „Nachvollziehen“ gemeint war? Wir werden uns nicht in sprachanalytische Spitzfindigkeiten verlieren, doch ist Sprachwandel ein Teil jenes historischen Prozesses, den die „Reflexion des Gefühls im Musikdenken“ durchläuft.

***

Dies ist kein Buch, dessen wissenschaftlicher Fokus sich auf Emotionen in der Musik richtet, auf die empirische Faktizität, wie Gefühle mit Tönen dargestellt, ausgedrückt oder im Hörer ausgelöst werden; in erster Linie ist es ein Buch über die Idee der Emotion, über ihre Rolle im Szenario sogenannter Musikanschauung. Uns interessiert weniger die Gefühlshaltigkeit der Musik, als vielmehr die Art, wie das Musikdenken dieselbe be- und verhandelt, nicht Emotionen in tatsächlicher Wirkung, sondern wie sie in musikalischen Zusammenhängen gedacht werden, als ← 10 | 11 → Denkfigur oder als Teil davon. Unser Diskurs ist historischer und philosophischer Natur, (Musik)Psychologie betreiben wir nicht. Das psychologische Denken ist allerdings ein Objekt dieser Abhandlung, da es teilhat an der Art, wie ästhetische bzw. ästhetisch relevante Emotionen gedanklich erfasst werden.

Unsere geschichtlichen Stationen beginnen mit der sogenannten Empfindsamkeit um die Mitte des 18. Jahrhunderts, weil hier eine kulturelle Gefühlsgeschichte ihren Ausgang nahm (und in der Neuro-Neo-Empfindsamkeit um 2000 vielleicht noch kein Ende gefunden hat), eine Geschichte, die sich aus der Sicht zukünftiger Generationen zur romantisch-modernen Epoche zusammenfügen könnte, wobei die polare Begrifflichkeit (romantisch-modern) durch einen integrativen Terminus zu ersetzen wäre.

Die einzelnen Kapitel unserer Abhandlung sind - teils in freizügiger Chronologie - durch inhaltliche Querverweise aufeinander bezogen, können jedoch als Essays en miniature auch unabhängig voneinander gelesen werden. Essay ist das richtige Stichwort. Es sind Versuche, bescheidene Versuche angesichts des großen Themas, kleine Studien, Skizzen, nicht mehr.

Ich denke, dass sich Emotionalität als Reflexionsgegenstand in jedem ästhetischen Konzept, dem schlichten wie auch dem intellektuell ausgefeilten niederschlägt, dass dieses Thema folglich nicht nur einem spezifisch akademischen Interesse entspringt, weil sich alle Musikhörer damit nolens volens auseinandersetzen. Unser Buchtitel Seiner Leidenschaften Meister sein enthält eine Hypothese zur Frage, was solchem Interesse zugrunde liegt. In diesem Zitat (aus Johann Joachim Quantz‘ Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen von 17526) dringt der Wille durch, Gefühle zu kontrollieren, zu beherrschen, zu bewältigen, mit dem Ziel, archaische Kräfte zu bändigen, die irgendwann als wild und autodestruktiv verstanden wurden. Es geht also, sagt unsere Hypothese (und der englische Titel In control of the passions bringt es auf den ← 11 | 12 → Punkt), in der musikalischen Kunst in erster Linie nicht um Kundgabe, um Kommunikation, sondern um Kontrolle, um Einordnung von Gefühlen, und das nicht nur mit dem Ziel kathartischer Läuterung. Reflexionen des Gefühls im Musikdenken sind Stationen eines zivilisatorischen Prozesses, der den Anschein vermitteln mag, als würde er in einer völligen Sublimation oder Aufhebung des Gefühls enden. In diesem Sinne haben einige Musik- und Kulturtheoretiker vorschnell das Ende ästhetischer Emotionalität proklamiert.

Unsere Hypothese mag Ausgangspunkt kritischer Überlegungen sein, man sollte sie aber nicht als antizipiertes Resümee verstehen, vielleicht als roten Faden (es ist nicht der einzige), zu dem sich nachdenkliche Menschen - und einigen werden wir in den folgenden Kapiteln begegnen - ganz unterschiedlich positionieren.

3 Joachim Noller, Über den schwierigen Umgang mit Gefühlen. Zur Rolle der Affektivität im Musikdenken des 20. Jahrhunderts, in: Österreichische Musikzeitschrift 51, 1996, S. 611-624. Eine Variante dieses Textes wurde in philosophisch-anthropologischem Kontext meinem Buch: Kleine Philosophie der musikalischen Moderne. Musik und Ästhetik im 20. Jahrhundert (Röhrig: St. Ingbert 2003, S. 133-154) eingefügt.

4 Shih (der Komponist beschränkt sich auf diesen Namen) in: Österreichische Musikzeitschrift 51, 1996, S. 641.

5 Ebenda, S. 642.

6 Der gute Interpret bemühe sich, „im ganzen Leben, seiner Leidenschaften, so viel als möglich ist, Meister zu seyn“ (Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, Reprint der Ausgabe Berlin 1752, mit einem Vorwort von Hans-Peter Schmitz, mit einem Nachwort, Bemerkungen, Ergänzungen und Registern von Horst Augsbach, dtv/ Bärenreiter: München/ Kassel 1992, S. 248; siehe Kapitel III).

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I

Gefühle theoretisch

Musik und Gefühl: die Gefahr dieses Themas liegt in seiner Selbstverständlichkeit; zum Musikverständnis in unserem Kulturkreis gehören Gefühlsassoziationen gleichsam als conditio sine qua non. Sie zu ergründen, wäre im Zuge wissenschaftlicher Spezialisierung Aufgabe der Musikpsychologie. Doch unser Vorhaben ist nicht (wir haben es in der Einleitung schon umrissen), Gefühle als solche oder in Verbindung mit musikalischen Kunstwerken geltend zu machen bzw. auf derartige Fragen erschöpfende Antworten zu geben, sondern das Denken über das Gefühl und seine Verankerung in der Musik zu beleuchten, wobei wir uns auf die jüngere Tradition, seit dem Empfindsamkeitsschub im 18. Jahrhundert, im Wesentlichen beschränken. Also betreiben wir thematisch fokussierte Kulturgeschichte und könnten eigentlich die verschiedenen Denkweisen über musikalisch repräsentierte oder bewirkte oder ausgedrückte Gefühle entsprechend einordnen, d.h. ad acta scientiae historicae legen und mit dem typischen Gefühl des Wissenschaftlers, nämlich einer inneren Befriedigung ob des Erkenntnisgewinns, das Projekt abschließen. Auf diese Satisfaktion werden wir voraussichtlich nicht verzichten, gleichwohl wäre es unehrlich, bei vorliegender Thematik eine durch nichts eingefärbte historische Objektivität vorzutäuschen. Wir können und wollen uns als Subjekt nicht verleugnen, unser Interesse an der Musik, unsere eigene Beschäftigung mit ihr, unser emotionales Involviertsein, unsere eigenen Fragen, die Gefühlsassoziationen und –mechanismen betreffend, Fragen, die nicht nur an die Gründe musikalischer Kunst, sondern auch an die Urgründe menschlicher Existenz rühren.

Somit können wir auch nicht so tun, als würde der Inhalt des Gefühlsbegriffs, seine De- und Konnotationen uns nur in konsequenter historischer Relativierung, also aus der Sicht „alter“ Musikdenker, beschäftigen. Uns bewegt die Frage, was denn das sei, das sich mit musikalischen Klängen so selbstverständlich verknüpft, dem wir aber auch in klangloser Form nicht aus dem Wege gehen können: was ist ein Gefühl? Dabei müssen wir weder umfassende noch letztgültige Antworten suchen. Abgesehen davon, dass diese Problematik uns existenziell tangiert, ← 13 | 14 → hoffen wir, auf einige Aspekte zu stoßen, die bei der Erörterung ästhetischer Applikation von Nutzen sind.

***

Was ist ein Gefühl7? Wir wagen nicht, dieses Was zu definieren, da wir zu wissen glauben, dass es sich jeglicher Festlegung entzieht. Nehmen wir einen sehr jungen, inzwischen alltäglichen Terminus, die „gefühlte Temperatur“. Diese ist hochkomplex, durch subjektive, aber auch objektive Faktoren bestimmt: durch subjektive, d.h. momentane Befindlichkeiten, aber auch personengebundene, genetisch bedingte psychophysische Eigenschaften, und durch objektive Faktoren, z.B. Wind, Feuchtigkeit, Lichtverhältnisse, Wärmeentwicklung, überhaupt durch Entwicklungen, nicht nur durch Zustände etc. Und hierbei handelt es sich um einen ← 14 | 15 → hauptsächlich sensuellen, vergleichsweise oberflächlichen Vorgang; gingen wir in die Tiefe all dessen, was Gefühl genannt wird, würde uns schwindlig. Was - so könnte man provokativ fragen - haben die großen Gefühle, die als Lebensmotiv gewertet werden, mit gefühlter Temperatur gemeinsam?

Details

Seiten
390
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653034547
ISBN (ePUB)
9783653995725
ISBN (MOBI)
9783653995718
ISBN (Hardcover)
9783631643617
DOI
10.3726/978-3-653-03454-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Gefühlvolle Romantik Ausdrucksästhetik Krise des Gesangs Emotional Romanticism Seelenzustände
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 390 S.

Biographische Angaben

Joachim Noller (Autor:in)

Joachim Noller ist Musik- und Kulturwissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf experimentellem Musiktheater, der Aufarbeitung kultureller Errungenschaften des Novecento sowie philosophischen und ästhetischen Themen. Joachim Noller is a musicologist and cultural studies scholar. His main research interests are experimental music theatre and the cultural achievements of the Novecento as well as philosophical and aesthetic issues.

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