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Studien zur «bürgerlichen Literatur» um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert

von Witold Wojtowicz (Autor:in)
©2015 Habilitationsschrift 488 Seiten

Zusammenfassung

Die Untersuchung von kulturellen und literarischen Konventionen in der «Eulenspiegelliteratur», die ungefähr zwischen 1580 und 1650 im Königreich Polen-Litauen gedruckt wurde, stellt den Gegenstand der Arbeit dar. Den Hintergrund bilden dabei die mit der Kultur der Frühen Neuzeit in Europa verbundenen Veränderungen. Die Texte der älteren polnischen Literatur werden mit ihren lateinischen und deutschen Pendants konfrontiert. Die Verwendung der Topik der verkehrten Welt, der Parodie, der satirischen Destruktion der gesellschaftlichen Hierarchie dient dazu, durch Anti-Werte wahre Werte zu erkennen. Das Hauptproblem der vorliegenden Untersuchung ist eine Antwortsuche auf die Frage nach dem Schicksal der Populärliteratur, die den allgemeineuropäischen Prozessen unterworfen und mit der Geistigkeit in Europa der Frühen Neuzeit verbunden war, ihre Spezifik aber in der altpolnischen Kultur hatte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Einleitung
  • Teil I: „Bürgerliche“ und „eulenspieglerische“ Literatur
  • Kapitel 1. Die Volks- und Populärkultur
  • Das Volk
  • Religion und Kultur
  • Austausch und Partizipation
  • Die Gesellschaft
  • Kapitel 2. Auf der Suche nach einer „bürgerlichen Literatur“
  • Kapitel 3. Błazeńskie zwierciadło von Stanisław Grzeszczuk
  • Voraussetzungen und Gegenpole
  • Groteske – Absurdität – Sozialistischer Realismus
  • Die plebejische Literatur
  • Authentizität und Aktualität
  • Błazeńskie zwierciadło. Die plebejische Literatur – Kontinuität und Fortsetzung
  • Zusammenfassung
  • Kapitel 4. „…gleich einem Baziliskus, der mit dem Blick tötete.“ Eulenspiegel, Sowizdrzał und die „Eulenspiegelliteratur“
  • Wer war Eulenspiegel?
  • „Wer sich freuet, dass er Schalkheit treiben kann, der wird verachtet“
  • Die Zivilisierung der Manieren
  • Basiliskus
  • Teil II: Über den „Zivilisationsprozess“ von Norbert Elias und die Veränderungen in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts
  • Kapitel 5. „Zivilisationsprozess“ von Norbert Elias
  • Kapitel 6. „Wenn du anders handelst, dann erfährst du den Stock“: Der Zivilisationsprozess und die Gewalt
  • Kapitel 7. „Wenn du in den Scherzen auf etwas Unanständiges triffst, während du diese den Jungfrauen vorliest, dann übergehe es schweigend“: Über den Zivilisationsprozess und die „bürgerliche” poetische Sprache
  • Teil III: Das Lachen, der Karneval und das Schlaraffenland
  • Kapitel 8. Über das Lachen
  • Das Lachen nach Michail Bachtin
  • Ars iocandi
  • Exkurs 1. Dworzanin polski von Łukasz Górnicki über das Lachen
  • Exkurs 2. „Eulenspiegelliteratur“ und die „Babiner Republik“
  • Kapitel 9. Karneval und Theater
  • Kapitel 10. „Sejmy niewieście” [Frauen-Sejme]
  • Die Kontexte
  • Die Sejme
  • Sjem niewieści [Der Frauen-Sejm]
  • Babie koło [Der Frauenkreis]
  • Rezeption
  • Kapitel 11. „So alt ich auch bin, ich begehre die Ehe mit einem jungen Mann“ – Marancyja
  • Marancyja
  • „So werde ich bald zur Närrin“
  • Die Magie
  • Wasser oder Wein
  • Didaktismus
  • Kapitel 12. Piotr Barykas Z chłopa król [Vom Bauern zum König]: Über den Zeitvertreib der sittsamen Soldaten und die Pflichten des gehorsamen Bauernstandes.
  • Ein Narrenkönig
  • Der Karneval
  • Z chłopa król
  • Schultheiß und Popiel
  • Der Didaktismus
  • Schlusswort
  • Kapitel 13. Peregrynacja Maćkowa [Matzes Reise]: Die Reise in das Schlaraffenland
  • Die Narration
  • Der Finckenritter
  • Fiktionen
  • Fremdheit
  • Die Architektur des Schlaraffenlandes
  • Didaktismus
  • Schlaraffenland
  • Das Erteilen einer Lektion von den Masuren
  • Schlusswort
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

Danksagung

In der deutschen Version der Habilitationsschrift wurden einige Ergänzungen hinzugefügt, wobei einige Bezugnahmen zu polnischsprachigen Arbeiten hier weggelassen wurden. Bewahrt und ergänzt wurden vor allem Bemerkungen, die sich direkt auf die „bürgerliche Literatur“ des 16. und 17 Jahrhunderts beziehen. Diese Ergänzungen richten sich vor allem an deutsche Slawisten.

Deutschsprachige Untersuchungen zu diesem Themenkreis wurden hier bis ca. 2007 berücksichtigt, anderssprachige Literatur bis ins Jahr 2010, teilweise aber auch später erschienene Werke. Dies resultiert aus dem Forschungsaufenthalt im Jahr 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin bei Prof. Dr. Werner Röcke.

Die vorliegende Arbeit konnte nur dank der Forschungsmittel aus dem Programm 31H 11 0053 80 des Programms „Narodowy Program Rozwoju Humanistyki“ des polnischen Ministeriums für Wissenschaft und Hochschulwesen (MNiSW) gefertigt werden.

Das Fehlen jeglicher deutscher Übersetzungen der hier besprochenen altpolnischen Originaltexte stellte eine ganz besondere Herausforderung dar. Die hier gemachten Übersetzungen sind vor allem von philologischem Charakter.

Aus diesem Grund gilt ein ganz besonderer Dank Karin Ritthaler, M.A. vom Institut für Slawistik an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald für ihre unermüdliche und ausdauernde Übersetzungsarbeit, die mit äußerst viel Geduld getragen wurde.

Ein herzlicher Dank gebührt besonders Frau Prof. Dr. Ulrike Jekutsch ebenfalls vom Institut für Slawistik, Lehrstuhl für Slawische Philologie, für die erwiesene Gastfreundschaft.

Ein weiterer Dank gilt Prof. Dr. Werner Röcke und Dr. Katarina Gvozdeva für das Lesen von Teilen der Arbeit sowie Prof. Dr. Andrzej Kątny für das Gegenlesen und die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Sprach- und Kulturkontakte in Europas Mitte. Studien zur Slawistik und Germanistik“.

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Einleitung

Die Untersuchung von kulturellen und literarischen Konventionen in der sogenannten „Eulenspiegelliteratur“, die ungefähr zwischen 1580 und 1650 im Königreich Polen-Litauen gedruckt wurde, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Oft wird die „Eulenspiegelliteratur“ zu dem breiteren Begriff der „bürgerlichen“ beziehungsweise „plebejischen Literatur“1 gezählt. Den Hintergrund der Untersuchung bilden die Veränderungen, die mit der Kultur der Frühen Neuzeit im Europa verbunden sind. So wird hier die besondere Gewichtung auf die detaillierten Analysen einzelner Textgruppen gelegt. Das erfordert eine genauere Betrachtung des schriftstellerischen Verfahrens, der „Rhetorik“ der Texte und der benutzten Konventionen, da manche gesellschaftlichen Bedingtheiten auf der Grundlage der sich an die rhetorischen Fähigkeiten anlehnenden Literatur nicht erfasst werden können. Die Literatur realisiert nicht nur eine ästhetische Pflicht. Ihre Funktion hat manchmal ein poetologisches (und rhetorisches), theologisches und medizinisches Ausmaß (wobei das Augenmerk auf die Rolle der ars iocandi gelenkt wird, das zur Bekämpfung der Melancholie eingesetzt wurde). Ein Problem bildet dabei die Inkohärenz der Begriffsstrukturen und der einzelnen Termini in Bezug auf die Selbstreflexion der damaligen Gesellschaft, denn die Nichtübereinstimmung bildet wiederum einen Unterschied zwischen den heutigen und den damaligen Begriffen der Unterhaltungs- und Gebrauchsliteratur.

Die Eulenspiegelliteratur ist ein Teil der alten polnischen Kultur von ca. 1580 und 1650. Dank der schriftstellerischen Konventionen verweist diese Literatur deutlich auf ihre Verbindungen mit der gesamteuropäischen Topik. Daher ergibt sich die Notwendigkeit neben der Hauptbetrachtungsweise auch die vielen Nebenstränge (wie zum Beispiel die Vorstellung von der Volkskultur bei Michail Bachtin in Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur und damit verbundene Vorstellung vom Karneval) hinzuzuziehen. Diese Mehrsträngigkeit und die Werkanalysen (die Pflicht eines Philologen besteht auch in der Erklärung der Werke) begründen die Weitläufigkeit dieser Arbeit.

Der Begriff „bürgerliche Literatur“ wird als eine rein literaturwissenschaftliche konventionelle Konstruktion benutzt, welche eine gewisse Werkgruppe um ← 11 | 12 → fasst, die sich in den Ausgaben von Karol Badecki (1925–1950) (und den Ausgaben der gleichen Texte von jüngeren Herausgebern) befinden. Grundsätzlich wird hier nicht auf spätere Texte, wie die aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts eingegangen. Es werden auch nicht die ideologischen oder gesellschaftlichen Konsequenzen, die mit diesem Begriff einhergehen, einbezogen. (In den Auslegungen des Literaturhistorikers Kazimierz Budzyk und später in denen von Stanisław Grzeszczuk kann die gemeinsame Überzeugung ersehen werden, dass die „Eulenspiegelliteratur“ im engen Sinn eine „plebejische Literatur“ ist und dass sie darüber hinaus das „Demokratentum“ verinnerlicht und von der „Volkstümlichkeit“ geprägt ist.) Der Begriff „bürgerliche Literatur“ bezieht sich ausschließlich auf die Textsammlungen der alten Literatur, die fast überall im polnischen Sprachgebiet bekannt waren (und deshalb auch für Vertreter unterschiedlichster Schichten der altpolnischen Gesellschaft interessant waren). Über den Begriff der „bürgerliche Literatur“ selbst wird viel diskutiert: Zuerst wurde er angenommen, dann verworfen2 oder durch andere Konstruktionen ersetzt (am haltbarsten blieb die Begrifflichkeit von Stanisław Grzeszczuk).3 Diese Begriffskonstruktionen prägten ganze Jahrzehnte lang die Art des Literaturverständnisses, der Werke, die von Karol Badecki gesammelt wurde.

Im Gegensatz zu der 1989 herausgebrachten Arbeit von Urszula Augustyniak4, die sich auf die Herausstellung des gesellschaftlichen und nationalen Bewusstseins in der sogenannten plebejischen Literatur konzentriert, wird in der vorliegenden Arbeit näher auf die Analyse der Texte, die zu der sogenannten plebejischen Literatur gehörten, eingegangen. Aus diesem Grund wird hier nicht ausführlicher auf frühere Werke vom wissenschaftlichen, streng utilitären und erinnerungsliterarischen5 Charakter und insbesondere auch nicht auf das religiöse Schrifttum, welches die große Rolle der religiösen Reformen des 16. Jahrhunderts aufzeigt, eingegangen. Die Belassung des „veralteten“ Begriffs „bürgerliche Literatur“ von Badecki erklärt sich aus der von mir gewählten Distanz zu den meist später herausgebrachten marxistisch geprägten Arbeiten der 50-er Jahre.6 ← 12 | 13 →

Der Untersuchungsgegenstand umfasst nicht das vollständige altpolnische literarische Schaffen zwischen 1580–1650 (die lingua franca der Epoche war die lateinische Sprache, welche einen Buchvertrieb sowohl außerhalb des Gebiets der jeweiligen Vernakularsprache ermöglichte und den Zugriff der wissenschaftlichen Eliten zuließ), sondern umfasst besonders die damalige „Unterhaltungsliteratur“, die auch einige Verbindungen zur Hof- oder Adelsliteratur hat. Aber das Interessengebiet bezieht sich nicht auf didaktische Traktate, Rezeptsammlungen, theologische Abhandlungen, Ratgeber, historiographische Werke oder satirische Schriften (obwohl die letztgenannten auch in gewisser Weise mit in Betracht gezogen werden).

Die Texte aus den „fünf Bänden“ von Karol Badecki beziehen sich nur dann schwach auf die „bürgerliche Literatur“, wenn in ihr eine Analogie zu der deutschsprachigen bürgerlichen Literatur erkannt werden kann. Die Letztgenannte umfasst die vernakulären Chroniken (auch die Weltchroniken), satirische mit der Standeswirklichkeit verbundene Werke, Gedichte zu aktuellen politischen Themen, den Meistergesang und auch das Fastnachtspiel sowie das religiöse Spektakel.7 Betont werden muss dabei auch die etwas andere Position der Städte und des Bürgertums sowohl in der politischen Struktur der polnischen Adelsrepublik als auch in der kulturell-politischen Bestrebung dieser Gesellschaftsschicht. Beides führte nicht zur Bildung eines einheitlichen Standesbewusstseins und nicht zu der Herausbildung einer aktiven politischen Kultur.8

Die ältere polnische Literatur kann nicht isoliert betrachtet werden und die vorliegende Untersuchung musste an vielen Stellen über die Grenzen des Polnischen hinausgehen, dadurch werden die analysierten Texte mit ihren Entsprechungen und Mustern in der lateinischen (auch in der mittellateinischen und neulateinischen) und in der deutschen Literatur konfrontiert.9 (Aus diesem Grunde wurde in den letzten Jahrzehnten die Verbindung der polnischen Barockliteratur mit der romanischen Literatur, besonders mit der italienischen Kultur, stark hervorgeho ← 13 | 14 → ben.10) Der älteren polnischen Literatur geht eine gemeinsame Tradition voraus, obwohl die polnische Literatur einiges umgestaltet oder etwas aussortiert. Die ältere polnische Literatur kann ohne Bezugnahme auf andere Literaturen entweder gar nicht oder nur schlecht verstanden werden. Es ist wichtig sich die kulturelle Nähe gewisser Erscheinungen bewusst zu machen (so wie es in der den Karneval thematisierenden Literatur geschieht), die aus der Perspektive des damaligen Europas selbstverständlich war. Es muss auch in Betracht gezogen werden, dass die Literatur des 17. Jahrhunderts (hier insbesondere das Drama) eine in der alten Kultur typische didaktische Funktion erfüllte und eine wichtige Rolle auf der amtlich-öffentlichen Ebene spielte – so hatte das Theater am gesellschaftlichen und politischen Leben einen besonderen Anteil.11 Die „Verbürgerlichung“, d.h. die Tendenz der älteren Literaturhistoriker die Autoren sowie Lesepublikum im Kreise des kulturellen Einflusses der Städte zu sehen, wird letztendlich zur Funktion der „Verspieltheit“ dieser Literatur.

Man sollte dabei auch die langsame aber kontinuerliche „Entwicklung“ der Kultur zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert berücksichtigen.12 Hieraus bildet sich gemäß Wolfgang Brückner eine Reihe von Analogien oder Erscheinungen, die sich auf die Kultur des Mittelalters beziehen und ihre Fortführungen im Barock haben.13 Peter von Moos verlegt in Anknüpfung an das Konzept des „langen Mittelalters“ von Jacques Le Goff14 die untere Grenze der Epoche noch um weite ← 14 | 15 → re zwei Jahrhunderte: vom 14. Jahrhundert (Brückner) auf das 12. Jahrhundert.15 Die Gleichzeitigkeit der Annahme des Erbes des Mittelalters und der Renaissance sowie der typischen Merkmale der europäischen Barockliteratur wird zu einer akzeptierten Betrachtungsweise der polnischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Das häufige Zurückgreifen auf die literarische Mediävistik resultiert aus der Überzeugung, dass das populäre Schrifttum mit den mittelalterlichen Formen in enger Verbindung steht. Die „bürgerliche Literatur“ stellt in einem nicht unbedeutenden Teil ein Relikt der spätmittelalterlichen Unterhaltungsdichtung dar. Diese Unterhaltungsdichtung wurde von den Autoren aufgegriffen und hinsichtlich des Interesses der Leser umsortiert und „aktualisiert“.

In der Arbeit werden stets zwei Eigenschaften der Literatur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit betont – am häufigsten die konventionelle Abhängigkeit von der Darstellungsart und der schriftlichen Gestaltung sowie die Verstrickung mit den religiösen, rechtlichen und politischen Konventionen – auch wenn diese nur in der Form der Moralität, des „Sejms“ oder auch in der negativ valorisierten Gestalt des Eulenspiegels sichtbar wird.

Der heutige Forscher ist sich im Vergleich zu Badeckis Untersuchungen und seinen Kritikern sowie zu den Arbeiten von Grzeszczuk und dessen Kritikern bewusst, dass er sich mit einer größeren Komplexität auseinandersetzen muss. Die vorliegende Arbeit stellt die (wie schon vielfach betont) Vereinfachung der Klassifikation dar, welche das Verständnis der „bürgerlichen“ Werke beeinflusst. Mit dem Ziel einen Vergleich zu schaffen, wird daher auch auf eine Vielzahl von Texten zurückgegriffen, die nicht in das Betrachtungsfeld vorangegangener Arbeiten hinzugezogen wurden, welche sich mit der sog. „bürgerliche Literatur“ oder der sog. „Eulenspiegelliteratur“ auseinandersetzten.

Die analysierten Werke werden als eine kulturelle Realität betrachtet. Dennoch wird auf philologische Untersuchungsmethoden nicht verzichtet und neue Tendenzen der Literaturwissenschaft aufgegriffen, indem Inspirationen aus der Anthropologie und Soziologie genutzt werden. (Das Öffnen gegenüber den kulturologischen Methoden erlaubt einen Einbau der „bürgerlichen“ Texte in unterschiedliche Kontexte, welche neue Verbindungen suggerieren.) Aus dieser Perspektive wird die Literatur zum Instrument der menschlichen Selbstreflektion im Bereich der Kunst und des Privatlebens. Ins Zentrum der Betrachtung rücken Phänomene, welche man als für den Menschen spezifisch begreifen kann, wie z. B. die Triebe (wie ← 15 | 16 → auch Emotionalität) und deren Kontrolle, das Bewusstsein von Sterblichkeit, die Kreativität in ganz unterschiedlichen Bereichen u. v. m. Die Öffnung der Geisteswissenschaft für die kulturwissenschaftlichen Instrumente erlaubt jedoch keine Betonung der Textautonomie. Die Texte unterliegen einer kulturellen und historisch bedingten Abhängigkeit16. Die Nutzung der Arbeiten aus dem Bereich der Anthropologie bedeutet nicht automatisch eine Reduktion der kulturellen Tätigkeit des Menschen auf die Ebene der Natur und das Abwerfen von Historizität der uns interessierenden Erscheinungen. Die polnischen Untersuchungen der „bürgerlichen Literatur“ waren weit von den Methoden des russischen Formalismus entfernt. Sie unterschieden sich in der Auslegung von Funktionen, der Wirkung von Texten und in den Interpretationsmethoden. Es ist wichtig zu sehen, dass all diese Untersuchungen es unterstreichen, dass die Texte und die Literatur als Vermittler von Gesellschaftsprozessen fungieren.

Die Arbeit nimmt auch Bezug auf Kulturtheorien, die teils weit von der Philologie entfernt sind (wie zum Beispiel der „Zivilisationsprozess“ von Norbert Elias und die damit verbundene kritische Diskussion). Sogar Vorschläge von Stephen Greenblatt, der ein Mitbegründer der „kulturellen Poetik“ ist, haben keinen streng theoretischen Charakter. Seine Arbeit gilt als Ausdruck des Widerstandes, gegen die „Flucht vor konkreten Fällen bis hin zu Abstraktionen“.17 Dies ist einerseits Ausdruck der Skepsis gegen theoretische Methoden andererseits Ausdruck des Glaubens daran, dass wir zuallererst konkrete literaturwissenschaftliche Probleme ohne Auslegungen der theoretischen Grundlagen lösen müssen.18 Die Systematisierung des Begriff-Schemas ist ein Weg, der schon einmal begangen worden war, was viele Forscher betonen.

Die Suche nach Gemeinsamkeiten (insbesondere in den „fünf Bänden“ von Badecki) ist gewöhnlich dem Risiko des Vorwurfs ausgesetzt, dass in der Funktion der Texte der gemeinsame Nenner fehle. Beispielhaft sind hier die „Frauen-Satiren” zu nennen, in denen gerade die Verbindung verschiedener Poetiken und Ideologien eine besondere Beachtung verdient.19

In der vorliegenden Arbeit wird viel Aufmerksamkeit auf die „hohe Kultur“ gelegt und auf deren Beziehungen zu der niedrigen „Volksliteratur“, Volksgläubig ← 16 | 17 → keit und Eliten-Gläubigkeit (vgl. Kapitel 1). Es wird nicht nach der Nützlichkeit der Unterscheidung zwischen der Populärkultur und der „hohen Kultur“ gefragt. Das waren Eigenschaften der cultural studies, die in den 60-er Jahren im angloamerikanischen Raum entstanden sind.20 Diese Perspektive nutzte den Marxismus. Eines seiner Untersuchungspostulate war die Liquidierung der traditionellen Unterscheidung (obwohl diese oft anders verstanden wurde) zwischen hoher- und Populärkultur (im Rahmen des Abbaus von diskriminierenden Praktiken). Das andere war die Behandlung kultureller Erscheinungen auf eine monogene Art, welche das gleiche Recht bei der wissenschaftlichen Analyse hatten.21

Im gewissen Sinn ist die „bürgerliche Literatur“ von Badecki mit Sammlungen von Exempeln oder mit der visionären beziehungsweise hagiographischen Literatur verwandt. Sie legt ein Zeugnis von der Mentalitätsgeschichte ab, die als Kreuzung von Soziologie, Geschichte, Psychologie etc. gesehen wird22. Als ein kulturelles Konstrukt zeigt sie aber auch die Grundlagen früherer Literaturwissenschaft auf, welche der alten Volkskunde nahe stand. Die Mentalitätsgeschichte betrifft kollektive Prozesse historischer Veränderungen, aber auch Umgestaltungen von üblichen Denkschemata oder des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. So liegt das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit besonders auf den literarischen Texten, die – obwohl sie mit der Reflexion von Mentalitätsgeschichte verbunden sind – die Zeugnisse für diese Prozesse geben.23

Ein bedeutender Teil der Populärtexte stellt die Frage, ob das klassische Wissen in der literarischen Darstellung des Alltags benutzt wurde und inwiefern der Alltag überhaupt hier auftritt. Mit Sicherheit gehörten die Autoren zu der höheren Kultur und können deshalb nicht als Repräsentanten der „Volkskultur“ oder „Volksschicht“ gesehen werden. ← 17 | 18 →

In der Arbeit von Robert Mandrou über die „Blaue Bibliothek von Troyes“ weist der Autor auf Kennzeichen der Populärliteratur hin. Diese treten in der „bürgerlichen“ bzw. „Eulenspiegelliteratur“ jedoch nur schwach auf. Zum einem ist es schwierig von einem besonderen Interesse an der „Realitätsflucht“ oder dem „Übernatürlichen“ zu sprechen und darüber hinaus von den „göttlichen und teuflischen Wunderkräften, die in den Andachtsbüchern“ präsent sind. Zum anderen gibt es hier kein besonderes Interesse an dem „Übernatürlichen“. (Das könnte ein Grund dafür sein, dass in der „Eulenspiegelliteratur“ in den 50-er Jahren die Ankündigung eines aufgeklärten Rationalismus und der Fortschrittlichkeit zu erkennen versucht wurde. Die marxistischen Auffassungen der 1950-er Jahre führten zu einem anagogischen oder gar mystischen Verständnis der „Eulenspiegelliteratur“, das charakteristisch für die Inhalte der religiösen Sprache war.) Des Weiteren handelt sich bei Mandrou um eine Burleske (die in den polnisch sprachigen Untersuchungen sehr häufig als „verkehrte Welt“ kategorisiert wird). Obwohl diese nicht dominierend ist, tritt sie in einer bedeutsamen Weise insbesondere in Parodien von Neuigkeiten auf.24 Damit bilden diese (wie auch ihre Parodien), welche von ihrer Herkunft äußerst „adlig“ sind, paradoxerweise ein charakteristisches Beispiel für die „Volks-„ oder „Populärliteratur“.25

In der „bürgerlichen Literatur“ von Badecki gibt es keine Verwendung eines enzyklopädischen oder Detailwissens, die sonst typisch für eine hoch bürokratisierte Regierungsform ist und mit dem die Beamtenschicht der absolutistischen Staaten verfügte. Von einer ähnlichen Grundlage können wir erst in der Zeit des Herzogtums Warschau (1807–1815) sprechen. Hierbei spielte die Akademie für Recht und Administration (Szkoła Prawa i Administracji) eine wichtige Rolle.26 Solch ein Wissen, das in der Denkweise des sarmatischen Adels nicht vorhanden war, da dieser auf die Rolle eines Staatsbeamten nicht vorbereitet war, „spielte“ in der Populärliteratur keine Rolle. Somit bestätigt die „bürgerliche Literatur“ indirekt die Rückständigkeit der damaligen Adelskultur.27 ← 18 | 19 →

Es stellt sich die Frage (auch wenn diese kontrafaktisch ist, wenn zum Beispiel nach dem materiellen Status eines Pfarrlehrers gefragt wird), ob die schreibenden „neuen“ „Eulenspiegel“ nicht einen Ersatz für Korporationsbünde bilden, die zu dieser Zeit in Europa populär waren. Die Mehrheit der polnischen Autoren absolvierte eine Ausbildung an der Krakauer Akademie oder stand zumindest in Verbindung mit dem universitären Milieu in Kleinpolen, so wie es in Wyprawa plebańska [Eine Aussendung durch den Pfarrer] aus dem Jahr 1590 oder in Szkolna mizeria 1633 [Die große Not der Dorfschullehrer] (1633) oder in Rybałt stary i wędrowny [Der alte Wanderlehrmeister] (1632) gezeigt wird. Die englischen Friedensrichter, die sich aus der Jugendzeit in Inns of Court kannten, bildeten einen Korporationsbund. (In der Zeit der ersten Stuarts hat die Mehrzahl der Gutsbesitzer-Eliten und des Pfarrklerus sich zumindest aus Oxford oder Cambridge gekannt). Analog dazu steht die Gruppe der „litterati“ im Königreich Neapel, die durch eine Hochschultradition verbunden war.28 Analog dazu kann auch der Versuch der Gründung solch eines Bundes an der Akademia Zamoyska, die durch den Großkanzler und Großhetman Jan Zamoyski (1542–1605) gestiftet wurde, gesehen werden.

Darüber hinaus wird behauptet, dass in den Werken, die an die Pfarrlehrer adressiert waren, eine gewisse Integration des eigenen Tuns gefordert wurde, welche sich auf die wichtigen Ziele der eigenen Berufsgruppe konzentrierte.29 Das parodistische Werk Synod klechów podgórskich [Die Synode der Pfarrlehrer aus Podgórze30] (1607) (PKR 137–176)31 wäre ein „literarisches“ Beispiel dafür, wenn von einer Wirklichkeit im Text überhaupt ausgegangen werden kann und wenn dieser im begrenztem Maße auch soziologische Bedingungen thematisiert. Das altpolnische Bildungssystem kennt jedoch keine Institutionen, die den englischen Universitäten oder den Inns of Court ähnlich wären. Die Kollegien der Jesuiten (die für die Bildung von Adelssöhnen zuständig waren) waren zwar auf dem großen Gebiet der polnischen Adelsrepublik verteilt und für die Homogenisierung der Adelskultur verantwortlich, bildeten aber keine Bünde innerhalb der adligen Eliten. Ein Grund dafür könnte die Größenzahl des Adels gewesen sein, wie auch ← 19 | 20 → die territoriale Größe der Adelsrepublik, was die Kontakte zwischen den Adelsvertretern aus den entfernten Regionen nicht einfacher machte.32

Darüber hinaus sollte beachtet werden, dass der Reiz am ländlichen Lebensstil des Adels (gemeint ist die gesellschaftliche und politische Verschiedenheit der Adelsrepublik im Vergleich zu den westlichen Ländern) keine Möglichkeiten für eine Ausbildung bot. Diese spielte eine wichtige Rolle in der Gesellschaftsstruktur der Frühen Neuzeit. Der niedrige Bürokratisierungsgrad der Macht in der altpolnischen Adelsrepublik erforderte kein detailliertes Wissen der Kameralistik. Damit zeichnen sich (neben dem offensichtlichen Unterschied gegenüber der sozialen Rechtsstruktur in England) in der polnischen Adelsgesellschaft keine Parallelen zu der Rolle der Inns of Court bei der englischen Gentry (die sich mit dem Kaufmanns- und Bankwesen beschäftigte) ab.33 Eine Schlüsselrolle spielte dabei auch das Gewohnheitsrecht.34 Um überzeugen zu können und die Leute für sich zu gewinnen, damit Angelegenheiten „ausgeübt“ werden konnten, waren für den im Bereich des Bürger- und Gemeinwesens aktiven Adligen ein rhetorisches Wissen und dessen Anwendung unentbehrlich.35 Denn es gab keine Möglichkeit einer Feststellung der vielschichtigen oder gefestigten Kommunikationsformen, welche die Autoren mit dem Publikum verbanden, wie es in der Sodalitas Vistulana oder in der zeitlich näheren „Babinischen Republik“ geschah.

Auch die Fiktionalität der literarischen Darstellung der gesellschaftlichen Bindungen zwischen Bettlern, Dieben etc. muss hier betont werden. Peter Burke neigt zu der Annahme, dass wir es bei diesem Texttyp eher mit einer literarischen „verkehrten Welt“ als eine Art Instrument der Satire zu tun haben und nicht mit Kriminellen- oder Bettlerkreisen mit einem hohen Organisationsgrad.36 Die literarische Darstellung der Bindungen zeigt sich in manchen Texten von Badecki (als Beispiel dient hier Peregrynacja dziadowska [Eine Reise der Bettler] oder Statut von Jan Dzwonowski) als Prinzip der Beziehungen inner ← 20 | 21 → halb der Bettlergesellschaft oder der Zunft. Hieraus ergibt sich das „eulenspiegelhafte“ Selbstverständnis der Literaten innerhalb dieser Literaturart, was oft in der Sekundärliteratur unterstrichen wird. Besonders im Fall der Bettler sollte betont werden, dass die Vergabe breiterer, gesellschaftlicher und beständiger Rahmen für die von ihnen betriebene Profession der effektiven Überlebensstrategie dieses Milieus zuwiderläuft.37

Erinnern sollte man auch an die Narrengesellschaften im Europa der Frühen Neuzeit. Untersuchungen zeigen, dass diese nicht nur in der Welt der literarischen Fiktion auftraten.38 Das war keine vorübergehende Erscheinung, die sehr häufig in Verbindung mit dem Karneval zum Vorschein kam. Die Narrengesellschaften schufen feste Strukturen, die viele Jahre und sogar Jahrhunderte überdauerten. Erinnert sei hier nur an „Infanterie dijonnaise“ (oder „Mère folle“) und „Abtei“ von Conards des Rouen.39 (In diesem Zusammenhang wird in der letzten Zeit an die eher begrenzte, vor allem aber an die „gesellige“ Reichweite der „Babinischen Republik“ gedacht.40) Eine längere Zeit über wurde die Herkunft der Narren-Reiche, der Narren-Abteien oder ähnlicher sociétés joyeuses usw., wie man in der Fachliteratur Karnevalsgesellschaften bezeichnet hat, in Verbindung mit der „Säkularisierung“ der kirchlichen Festa Fatuorum gesehen und ihre Tätigkeit nur als subversive und parodistische Geste hinsichtlich „offizieller Institutionen“ verstanden.41 Laut der Studien von Natalie Zemon Davis wurde erst in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts die soziologische und anthropologische Grundlage der Narrengesellschaften im Europa der Frühen Neuzeit entdeckt, was zu einem tieferen Verständnis deren Rituale sowie der sie begleitenden Texte führte. Nach Zemon Davis sind die Narrengesellschaften eine Organisationsform von Männern, ← 21 | 22 → die keine Ehegemeinschaft eingingen.42 Narrenfreiheit dieses Gesellschaftstyps ist legitimiert durch den Schwellen-Status ihrer Mitglieder. Die Formen ihrer Aktivitäten können durch die Gesellschaftsfunktion, die sie erfüllt haben, besser verstanden werden. Die „anthropologischen Konstanten“ jener Gesellschaften sollten in Relation zu der Ganzheit der Kultur oder zu dem breit verstandenen Gesellschaftsmilieu betrachtet werden. Das Alter war kein obligatorisches Kriterium in den männlichen Narrengesellschaften, die in der Stadt ansässig waren, denn hier gab es zum Teil Männer, die viel älter und verheiratet waren. Erst, wenn dies in Betracht gezogen wird, können Werke wie Statut von Jan Dzwonowski, als eine dünne Spur altpolnischer Karnevalsgesellschaften verstanden werden.

Um Erscheinungen zu erfassen, auf deren Grundlagen die „bürgerliche Literatur“ konstruiert wurde, wurden Textinterpretationen wie die des Eulenspiegels (vgl. Kapitel 4) notwendig, um Beziehungen zu der altpolnischen „Eulenspiegelliteratur“ zu enthüllen. Diese Interpretationen zeigen die Vielschichtigkeit und die komplexen Verbindungen innerhalb einzelner Werke.

Der Hauptwandel der modernen Rezeption des „Eulenspiegels“ (und des Schrifttums, das als „Eulenspiegelliteratur“ bezeichnet wird) bedeutet eine Abkehr von der völligen Befangenheit über naturalia et pudenda (was durch den Eulenspiegel demonstriert und in dem populären Schrifttum des 16. Jahrhunderts oft dargestellt wurde). Der Wandel führte am Ende zu der Erkenntnis, dass die eulenspieglerischen naturalia et pudenda ein kritisches Aufzeigen der gesellschaftlichen Realität, insbesondere der literarischen und kulturellen Konventionen, war. Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts sahen das populäre Schrifttum als Träger der Tradition eines Volkes an.43 Die Werke der „Eulenspiegel-“ und der „bürgerlichen Literatur“ waren keiner Rigorosität des klassischen Geschmacks und der klassischen Gelehrsamkeit unterworfen. In dieser Literatur wurde in nuce die nicht adlige, volkstümliche und auch bürgerliche Tradition des alten Polen bewahrt. Diese Auffassung ist der Nachlass der postromantischen Autonomiekonzeption der „Volksliteratur“ in Opposition zur literarischen Kultur der damals herrschenden Schichten. Dieses Konzept wurde Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt, was dazu diente, dass in der „Volksliteratur“ die Anfänge des Nationalbewusstseins zu entdecken versucht wurde.44 Karol Badecki erbt das Grundproblem von diesen Entdeckern der „Volksliteratur“, nämlich das Operieren mit dem Begriffsschema, das nicht unterscheidet zwischen dem, was noch aus dem Mittelalter oder dem, was von einer Kultur der Stadt oder einer Tradition des Dorfes stammt, soweit deren Ursprung überhaupt vorbehaltlos angenommen werden kann. Darüber hinaus ← 22 | 23 → weiß er die innere und regionale Unterscheidung der bäuerlichen Kultur nicht zu schätzen.45

Marcolphus, Eulenspiegel und die „Eulenspiegelliteratur“ verwirklichten das ausgeprägte Gefühl der Komik, die dem einfachen Volk, insbesondere den Bauern, eigen war. Das Volk hatte anscheinend keinen von der Kultur beeinflußten Kontakt mit der Natur. Eine interpretatorische Herausforderung und ein Problem waren die irritierende Unanständigkeit der „volkstümlichen“ Wahrnehmung. Diese konnte nicht mit den bürgerlichen Vorstellungen von guten Bräuchen vereinbart werden. Die Werke wurden auf verschiedene Weise als obszön oder skatologisch gesehen. Die Art der Bewertung bildete ein Begriffsraster, das zum Beispiel in Bezug auf „adlige“ Figliki [Scherzepigramme] von Mikołaj Rej, die in den Jahren 1562 und 1574 herausgebracht wurden, angewendet wurde.

Mit Sicherheit haben sich die Autoren im 16. und 17. Jahrhundert (sogar wenn wir das moralische Ausmaß der Konfessionalisierungsprozesse berücksichtigen46) weniger geniert als die Forscher im 19. Jahrhundert. Geschlechtlichkeit und Sexualität wird zu einem sehr wichtigen Element des populären Schrifttums (vgl. Kapitel 7) und gewöhnlich als Quelle der Komik benutzt. Das betrifft sowohl die Scherzgedichte wie auch zum Beispiel die Karnevalskomödie Marancyja (vgl. Kapitel 11).

In den Untersuchungen der 50-er Jahre des 20 Jahrhunderts und in den Arbeiten von Stanisław Grzeszczuk wurde dieses Rezeptionsmodell weiter verwendet (vgl. Kapitel 3). Die Arbeiten des Letztgenannten bildeten eine Modifikation der marxistischen Literaturwissenschaft mit ihren finalistischen Überzeugungen und ihrem Antiklerikalismus sowie ihrer spezifisch interpretierten Gesellschaftswirklichkeit. In den sogenannten antiklerikalen Texten wird in der Regel nicht der Klerus als Ganzes angegriffen, sondern diejenigen seiner Vertreter, welche die Normen der Kirche verletzen oder überschreiten. Der Antiklerikalismus wird in der alten Literatur am häufigsten in satirischen Texten aufgenommen, die gewisse gesellschaftlichen Normen erfüllen und ein Verhalten aufzeigen, das diese Normen nicht befolgen oder missachten.47 Darüber hinaus ist die „bürgerliche Literatur“ (die den ideologischen Konfessionalisierungsprozessen unterliegt, da diese das rationale und disziplinierte Leben sowie die Einstellung dazu forcie ← 23 | 24 → ren)48 auch von adligen Idealen49 durchdrungen und in ihrer Aussage gewohnheitsgemäß enorm didaktisch. Auch das Verhältnis zu der hohen Kultur ist hier nicht anders als in den sonstigen Strömungen des altpolnischen Schrifttums. Außerhalb dieser Methode stellt sich die Frage nach der Gewichtung des Konfessionalisierungsprozesses sowie der Wandlungen, die von Norbert Elias als „Zivilisationsprozess“ bezeichnet wurden, welche in der Frühen Neuzeit „die Zivilisierung“ aller körperlichen Funktionen umfassten. Im 17. Jahrhundert verbreiteten sich die „höflichen“ Sitten50, die außerhalb der Adelsgesellschaft auch das Bürgertum und die höfischen Dienstboten in die Pflicht nahmen.51 Dieser Prozess bezog sich auf die wachsende Selbstkontrolle (darin auch auf die Kontrolle der Gewalt) und das Verständnis von Emotionen: Die Verinnerlichung von Zwängen und gesellschaftlichen Normen. Die Zivilisation der Frühen Neuzeit wird durch ein Prisma der Verinnerlichung von Gewalt wahrgenommen und die Scham wird zum Instrument der innerlichen Kontrolle (vgl. Kapitel 5). Das Begriffsraster, das durch die bürgerliche Moral geschaffen wurde, und später die marxistische Auffassung des Problems (auch im Ansinnen der späteren Autoren der 60-er und 70-er Jahren, welche die früheren Arbeiten der 50-er Jahren revidierten) verhüllten gänzlich ← 24 | 25 → die Gewichtung dieser umstrittenen Prozesse, die in der ganzen westeuropäischen Kultur vonstattengingen.52

Die literarische „Umkehr“ der gesellschaftlichen Hierarchie (und auch der mit ihr verbundenen Vorstellungen) ist sehr häufig kein Protest (trotz der Annahmen, die dem Marxismus nahe stehen), sondern eine Stabilisationsform und Festigung der vorhandenen Ordnung und eine Erinnerung an einen Normenbestand, indem den Lesern oder Zuschauern ein Gegensatz demonstriert wird.53 Der Beweis ex negativo zeigt, dass die Welt, so wie sie ist, richtig ist. Erst das Verlassen des Schemas mundus inversus kann einen Gedanken an Veränderung zulassen. Dieser Gedanke bezieht sich sowohl auf die literarischen Ausdrucksformen als auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit.54 Die Benutzung einer Burleske, einer Topik der „verkehrten Welt“ oder einer Parodie ist an sich kein Grund für eine Veränderung, obwohl diese indirekt in sich solch ein Potential enthalten kann. Die hier analysierte Populärliteratur ist jedoch fern von solch einer Auffassung, die erst manchen Texten zur Zeit der polnischen Aufklärung eigen ist.55

Kennzeichnend ist die geringe Anzahl der Texte, welche die Ideologie des Adelstandes mit der Wirklichkeit des Alltags konfrontieren, um diese ideologischen Vorstellungen bloßzustellen und zu zerschlagen. Erinnert werden sollte auch an die Konventionalität in den Werken, die von Badecki als „bürgerli ← 25 | 26 → che Literatur“ gesammelt wurden.56 Diese Tendenz überrascht nicht: Auf vielen Gebieten des altpolnischen Schrifttums wird die Konventionalität des Textes oder Gattung betont (gemäß des Grundsatzes des damaligen Werkschaffens). In diesem Kontext muss allerdings die Andersartigkeit oder der revolutionäre Charakter der „Eulenspiegelliteratur“ überraschen (und gleichzeitig auch einen Verdacht wecken). Beide weisen eher auf den gesellschaftlichen Kontext hin, in welchem eine solche Konzeption geschaffen wurde. Eine ähnliche Tendenz kommt auch in dem Begriff „bürgerliche Literatur“ nach Karol Badecki vor, die im gewissen Maße eine Kopie der Untersuchungen französischer Literaturwissenschaftler ist. Die Thesen in Badeckis Arbeit sind befangen von der Art des Verständnisses der französischen Kultur der Frühen Neuzeit und bilden einen Übertragungsversuch dieses Bildes auf das altpolnische Schrifttum. Diese Vorgehensweise musste sehr attraktiv gewesen sein. Die Inkohärenz solch eines Verständnisses, sein unzuverlässiges Verfahren, stellt ein eigenes Problem dar. Diese Situation vertieften Überlegungen der dem Marxismus zugetanen Literaturhistoriker der 50-er Jahre. Die Werke der „bürgerlichen Literatur“ erfordern aber ein Herausnehmen aus den Kontexten, die ihre Interpretationen (und nicht nur den Interpretationsrahmen) geschaffen haben.

Ein besonderes Merkmal früherer Untersuchungen der „bürgerlichen Literatur“ (im Unterschied zu der sich an klassischen Vorlagen orientierenden Literatur) war vor allem der Versuch sie als eine Reflexion der gesellschaftlichen Realität zu sehen. Beobachtet werden kann dies in den Arbeiten von Aleksander Brückner (Einleitung in Literatura mieszczańska) und Karol Badecki (Einleitung in Polska komedia rybałtowska, in welcher er die „eigenen heimatlichen Wurzeln“ akzentuiert). Später, in den 50-er Jahren, erfreute sich diese Vorgehensweise einer besonderen Wertschätzung. Der in der Romantik praktizierende Kult der Schaffung von Originalität wurde mit der Soziologisierung der Literatur durch die marxistischen Kritiker verknüpft. Das Pseudoauthentische dieser Literatur wurde auch zum Ausgangspunkt der Untersuchung mentaler Prozesse des frühneuzeitlichen Polens in der Arbeit von Urszula Augustyniak.57 Dieser Grundaspekt der Untersuchungen (der zugleich auch Maßstab für die Eulenspiegelliteratur war) wurde in der Auffassung von Badecki beispielsweise in Verbindung gestellt mit „dem verständlichen, universellen Primitivismus und der simplen Einfachheit der Lehrmeisterkomödien (komedia rybałtowska)“ (PKR XVIII) sowie mit „der großen Nicht-Sorgfalt der Autoren und der Typographen“, welche die „Denkmäler in ihrem ursprünglichsten Kleid“ (PKR XXI) darstellen.

Anfang der 80-er Jahre machte Janusz Tazbir auf „ein gewisses Gefühl des Unwohlseins“ aufmerksam, weil auf dem Gebiet dieser literaturwissenschaftli ← 26 | 27 → chen Konstruktion „keines ihrer Elemente in Frage gestellt wurde und zu anderen einzelnen Definitionssegmenten keine weiteren kognitiven Fragen gestellt wurden“.58

Die Lektüre der „bürgerlichen Literatur“ zeigt, dass besonders Ende der 1950-er wir es mit einer Erfahrungsprojektion der Intellektuellengenerationen dieser Zeit zu tun haben.59 Deshalb liegt das Problem eher auf dem Gebiet der Soziologie des Wissens als auf dem der historischen Poetik und betrifft eher das Funktionieren der Humanistik in den kommunistischen Ländern.

In den untersuchten Werken wurde vor allem nach außer-poetischen Werten gesucht beziehungsweise diese wurden nach schwer zu beschreibenden Kriterien, wie dem Sensibilitäts- oder Begabungsgrad der Wiedergabe eines „tatsächlichen“ Sittenbildes bewertet. Sehr wenig Aufmerksamkeit wird dabei der Untersuchung literarischer Konventionen gewidmet und den Details des poetischen Stils. Typisch ist, dass der Großteil der Texte, die als „bürgerliche Literatur“ bezeichnet werden, satirische Texte sind (sowohl die parodistischen „Frauen-Sejme“ als auch die „Albertus-Komödien“) und falls sie eine Unterhaltungsfunktion erfüllen, wird hauptsächlich ihre didaktische Intention betont.

Erinnern wir an dieser Stelle an die in der Geschichtstheorie vorhandene Überzeugung, dass die Historiographie eine Form des Nachdenkens über die Vergangenheit oder sogar ein literarisches Artefakt (Hayden White)60 ist, ein lingu ← 27 | 28 → istisches Verfahren, das „mögliche Welten“ bildet, welches sich aus vielen literarischen Prozessen zusammensetzt und auch viele verschiedenartige diskursive Strategien verbindet. Die „linguistische Wende“, welche den Hintergrund der Werke von White bildet, war auch ein Überwindungsversuch sozioökonomischer Methoden (wie in der ersten Phase der „Annales“-Schule zu sehen ist) durch die Betonung kultureller Einflüsse, in welchen die Sprache eine Schlüsselrolle spielt.

In der vorliegenden Arbeit wird die Spezifik der genannten Unersuchungen erkennbar, welche aus der Inspirationen der Mentalitätsgeschichte heraus geführt worden waren und welche sich auf dem Bereich der Welterklärung und der Perzeption der kulturellen Wirklichkeit beziehen, die von einem einzelnen Text ausgeht (wie in den Beispielen der Arbeiten aus dem Bereich der Mikrogeschichte zu sehen ist). Diese Werkanalyse verbindet sich mit einem fortwährenden Bezug auf Themen der Mentalitätsgeschichte, die verbunden sind mit dem Verständnis, dem Denken oder Interpretieren der Wirklichkeit. Daraus resultiert auch die Spannung zwischen den Analysen der einzelnen Texte mit der ihnen eigenen stilistischen Gestaltung und weiteren Werten, welche ihre Einmaligkeit unterstreichen, und dem Bezug auf Kategorien, mit denen die Mentalitätsgeschichte arbeitet (wie zum Beispiel mit den unterschiedlichen Ausdrucksformen oder Lebensarten des Menschen). Auch wenn die Texte gewisse Schemata für Erklärungen schaffen, an welchen die Mentalitätsgeschichte interessiert ist, unterwerfen diese Schemata den ästhetischen Umformungen (gemäß den für die Literatur charakteristischen Konventionen) und stellen Fragen oder geben sie zur Diskussion und Kritik frei.61

Die hier dargestellte Aufnahme schöpft ihre Inspirationen aus dem kulturologischen Gesichtspunkt der Literaturwissenschaft. Diese kulturologische Herangehensweise bedeutet das Abwerfen der szientistischen und postmodernen Tradition, mit den hier üblichen Untersuchungsstandards, der Methodologie und der Erzählweise. Diese Standpunkte verabsolutieren den Objektivismus und den historischen Relativismus. Gleichzeitig werden beide von fehlerhaften Annahmen und einem nicht trefflichen Kulturverständnis unterstützt, mit dem die Ge ← 28 | 29 → schichtswelt, auch die Literaturgeschichte, durchdrungen ist.62 Aus diesem Grund muss man beim Konzeptualisieren der „bürgerlichen Literatur“ für verschiedene theoretische Vorschläge offen sein, daraus ergibt sich programmatische und methodologische „Eklektik“ des Autors.

Die Autorität des Begriffs, die von den sich schon früher damit beschäftigenden Wissenschaftler festgelegt wurde und welche die „plebejische“, „bürgerliche“ oder „Eulenspiegelliteratur“ untersucht haben, erfordert auch in diesem Bereich kulturwissenschaftliche Mittel, damit die besprochenen Texte erneut zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden, mit dem Ziel ihre „fremde“ Mentalität zu erkennen. Es handelt sich dabei nicht um eine hermeneutische „Horizontfusion“ (wie bei Walter Haug). Die Texte wurden so eng in gewisse soziologische Theorien eingebettet, dass selbst die Theorie „zerrissen“ werden muss – was diese Texte erst recht „fremd“ macht und sie dann im gänzlich anderen Licht darstellen lässt.63 Die Interpretation eines Textes bezieht sich auf schon vorstrukturierte Interpretationen und auf eine symbolische Welt von gefestigten Interpretationsarten (und nicht ausschließlich auf die – wie auch immer verstandenen – Kontexte). Die Interpretation bezieht sich auch nicht nur auf den Text „allein“. Wie stark hier die „Tradition“ der Erkenntnismethoden des 19. Jahrhunderts und der (post)marxistischen Literaturgeschichte sind, beweist nicht nur die Rezeption der Arbeiten von Grzeszczuk, das Buch von Piotr Pirecki und die Überlegungen von Teresa Banaś, sondern auch das Vorwort des kürzlich herausgegebenem Bandes von Kadasylan Nowokracki (zusammen mit dem Klappentext)64.

Die ideologischen Komponenten, die in den früheren Untersuchungen der die literarische Wirklichkeit der „Eulenspiegelliteratur“ beschreibenden Literaturhistoriker, sollten nicht als bindend erachtet werden. Grzeszczuk unterstreicht die literarische und gesellschaftliche Andersartigkeit dieser Literatur, welche ihre Prioritäten, Wertsysteme und literarische Normen anders formuliert. So sieht sich zum Beispiel Szołtys [Schultheiß] aus Z chłopa król [Vom Bauern zum König] in der Kategorie der „tugendhaften Kompanie” (zuerst in der Rolle eines Karneval-„Kö ← 29 | 30 → nigs“ und später als einen in seine ursprüngliche Identität zurückgekehrten Bauern) oder Konstancja in Sejm niewieści [Frauen-Sejm] von Marcin Bielski beurteilt die Frauen aus der Betrachtungsweise der Männer heraus und innerhalb der patriarchalischen Kultur, denn sie diszipliniert die Frauen, die einen Sejm abhalten, indem sie diese auf die richtige Ordnung verweist, welche die gesellschaftliche und moralische Erhabenheit der Männer voraussetzt. Die Autoren „zwingen“ ihre Helden, damit sie gegen ihren eigenen Willen handeln, aber ganz gemäß der ideologischen Aussage des ganzen Textes, in welchem sie eine Rolle spielen. So sieht sich auch der Jude in Hayduk Mikłusz odmienia ort u żyda65 [Der Heiducke Mikłusz wechselt eine kleine Münze bei einem Juden] selbst in einer antisemitischen Kategorie: „Wilk chowany, żyd chrzczony, / przyjaciel obłudny, / Dobrze o nich rozumieć, nałóg na to trudny. / Tak i z żyda dobry człek żaden być nie może, / Bo się on bez machlerstwa zapomoc nie może [Z. 123–126] [Ein gezähmter Wolf, ein getaufter Jude, / das ist ein falscher Freund. / Es ist gut, diese drei zu kennen, schwer, sich daran zu gewöhnen. / Und aus dem Juden wird sowieso kein guter Mensch, / weil er ohne Betrügereien nicht sein kann]. Die Protestanten in Synod ministrów heretyckich [Synode der häretischen Geistlichen] bemerken (wie durch die Worte vom Pastor Stanisław) die Erfolglosigkeit der Gebete zum häretischen Gott und die Allgegenwärtigkeit (der ihnen gegenüber auftretenden) Gewalt: „Bo też widzę, że Pan Bóg namniej nie dba o mnie. / Ba, pono o wszystkich nas, bo nas jakoś straszy, / Pokoju nie masz, wszędy uciekają naszy. / Choć śpiewamy kożdy dzień: „Da pacem Domine”, / Przecie trudno o pokój, kłopot nas nie minie. / Widzę, brzydzi się nami Bóg i wiarą naszą, / Przeto leda mendycy wszędy nas nastraszą (Z. 218–222) [Ich sehe, dass der Herrgott sich am wenigsten um mich kümmert, / Pah, wohl um uns alle, weil er uns alle erschreckt, / du findest keine Ruhe, überallhin flüchten die unsrigen. / Obwohl wir jeden Tag „Da pacem Domine“ singen, / es ist nicht einfach den Frieden zu bekommen, die Sorge wird uns nicht umgehen. / Ich sehe, dass Gott sich vor uns und unserem Glauben ekelt, / und alle wertlosen Bettler jagen uns Angst ein].

Die negativ dargestellten Figuren Marcolphus und Eulenspiegel in Poselstwo z Dzikich Pól [Gesandtschaft aus Wildem Felde] von Jurkowski verwirklichen ein durch und durch positives Programm, nämlich die Gesundung der Adelsrepublik, die sich durch den Ausschluss einer Reihe von gesellschaftlichen Gruppen vollzieht. Die Wahrnehmung der eigenen Position findet anhand dominierender und verpflichtender Muster statt und ist kein Zeugnis einer Exklusion oder eines Aufruhrs, wie herkömmlich angenommen wird. Am häufigsten stellt ← 30 | 31 → sie die Demonstration der eigenen Standards dar und verweist auf die Notwendigkeit der Abschaffung abweichender Formen.66 Aus diesen Gründen ist die „bürgerliche Literatur“ oder „Eulenspiegelliteratur“ kein guter Beleg für die Kultur des Widerstandes gegenüber der Dominanz einer elitären oder offiziellen Kultur.67 Die Dialogizität des Helden (nach Michail Bachtin)68, die ein Auseinanderfallen der einheitlichen und geschlossenen Weltanschauungssysteme und des monologischen Sprechens ist, sowie die Dialogizität zwischen Text und Held offenbaren sich beim näheren Hinsehen als eine ideologische Täuschung. An dieser Stelle muss man es über eine spezifische Aura der „Wirklichkeit“ oder „Tatsächlichkeit“ (im Sinne von Cliford Geertz) sprechen, die von symbolischen Systemen in dem damaligen Schrifttum geschaffen und darin reproduziert wurde. Die Entdeckung der Mechanismen, welche die damalige Ordnung aufrecht erhalten haben, verlangt die Überwindung symbiotischer Wirksamkeit dieser Mechanismen, das Erkennen ihrer „Logik“ und ihrer gesellschaftlichen (und zugleich literarischen) Konsequenzen.

Groteske, Komik oder auch Lachen sind mit Sicherheit vielschichtig (vgl. Kapitel 8). Hier wird das betont, was von der Wissenschaft oft vernachlässigt wird, dass die Verwendung der Topik der verkehrten Welt, der Parodie, der satirischen Destruktion der gesellschaftlichen Hierarchie dazu dient, durch Anti-Werte wahre Werte zu erkennen. Diese Erkenntnis ermöglicht das Ablehnen dessen, was einen Anspruch auf Wahrheit (die in der Agrargesellschaft am häufigsten eine Monopolstellung einnahm) nicht erfüllte. Diese Mechanismen verweisen auf Standards der Kommunikation, zu der auch die literarische Kommunikation gehört.69 ← 31 | 32 →

Im Kontext der so beschriebenen Oppositionshaltung der „bürgerlichen“ oder „Eulenspiegelliteratur“ gegenüber den feudalen oder den Adelsmustern besteht das Problem der ununterbrochenen Anziehungskraft des Adels sowie des Versuchs der Disziplinierungsmaßnahmen (z. B. durch die Kirche) sowie deren Wirkung auf das Populärschrifttum (vgl. Kapitel 1 und 2). Diese Versuche wurden in einem gewissen Maß ignoriert, an die eigenen Bedürfnisse angepasst oder auf verschiedene Arten umgestaltet. Die Grundlage für eine hohe Kultur in der Adelsrepublik war die Kultur des privilegierten Standes, die mit dem Adel verbunden war. Unter den Autoren der „bürgerlichen“ Literatur verbargen sich selten Personen bürgerlicher Herkunft. Im politisch-rechtlichen Bereich stellte der Adel eine Gemeinschaft dar. Er war das „politische Volk“70, das aber im Unterschied zum modernen Verständnis des Terminus „Volk“ auf die Überzeugung von „Naturalität“ der Kategorie des „politischen“ Volkes verzichtete. Im Kontext des Wissens über die Adelsgesellschaft ist die These über das Elitäre dieser Kultur (im Gegensatz zu der Literatur der niedrigen Schicht) nicht aufrechtzuerhalten. Der grundsätzliche Fehler der Arbeiten der 1950-er Jahren war die Annahme des Elitären in der Adelskultur sowie die mehr oder weniger deutliche Überzeugung von einer Kultur schaffenden Rolle der nichtadligen Schichten in der alten Kultur.

Die Literatur bildet im Einklang mit dieser Überzeugung das „Wissen“ des Adels über sich selbst und festigt die Wirklichkeit sogenannten „Rassen“-Mythos71 (Dies geschieht auch indirekt durch die Annahme einer unanfechtbaren Geltung dieses Wissens.) An diesem Mythos orientiert sich seiner Meinung nach die Dominanz des Adels.72 Die Literatur beinhaltet ein „prestigebildendes“ Element (bedeutsam ist dabei die Literatur, die das Leben eines adligen Gutsbesitzers auf dem Lande hoch lobt). Sie festigt die Position, hält am Status Quo des Adels fest und lobpreist die adlige Geburt als eine Voraussetzung für die adlige Tugend.73 Diese Literatur dient der Selbstzufriedenheit des adligen Rezipienten, dehnt ihren Akzeptanzgrad aus, indem sie integrativ handelt. Hierzu kann ein großer Teil der „bürgerlichen Literatur“ gezählt werden. ← 32 | 33 →

Andrzej Zajączkowski lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Adel zu einem transzendenten Wert wurde, der mit dem Katholizismus verglichen werden kann.74 Die Literatur, welche die Vorlage der vorliegenden Arbeit bildet, entstand auf der Schwelle des Erwachsenwerdens dieses Prozesses. Die Panegyrik wurde zum idealen Instrument des Ausdrucks und der Zelebrierung dieses transzendenten Wertes des Adelstandes. Die Standeszugehörigkeit sollte die Gemeinsamkeit der Nachfahren der „Sarmaten“ kennzeichnen, zu welcher der ganze Adelsstand gehörte ohne Rücksicht auf ethnische Unterschiede. (Die Grenzen der sarmatischen Kultur waren nicht streng und korrespondierten nicht mit den ethnischen Grenzen).

Die Prozesse der Polonisierung im 17. Jahrhundert bedeuten eine Sarmatisierung, das heißt die Übernahme der Kultur der Schicht, die sich ihrer Identität am stärksten bewusst war. Die Homogenisierung der Adelskultur führte zur Anlehnung der Identität an einem immer breiter werdenden Grad der Religion und der Sprache bzw. mehrerer Sprachen. Eine entscheidende Rolle bei der Akzeptierung des gesellschaftlichen Standes und der Eigenart des Adels spielte die lateinische Sprache.75 Ihre Unkenntnis wurde zum Gegenstand des satirischen und ironischen Angriffs (zum Beispiel in Potkanie Jannasa z Gregoriasem klechą [Treffen von Jannas mit dem Pfarrlehrer Gregor] (1598) (PKR 69–104): „Nie trudnoć prokuratem zostać, „dum legere” / „Noscis” kęs po łacinie „et eris habere” / Porządek prawa polski“, Z. 406–408 [Es ist nicht schwer ein Mäzen zu werden, „dum legere“, / „Noscis“ ein bisschen auf Lateinisch „et eris habere“. / Das ist die Ordnung des polnischen Rechts]). Die Akzentuierung der Kenntnis der lateinischen Sprache unterstreicht die Kondition der eine Synode abhaltenden Pfarrlehrer aus Podgórze (Synod klechów podgórskich) (PKR 137–176). Die Verordnungen, die eng mit dem religiösen Leben verbunden waren, sind in der lateinischen Sprache geschrieben oder teilweise mit dem Lateinischen verflochten. So zum Beispiel in: 20. In mortali peccato nemo audeat intrare ecclesiam, atque publicus peccator publicae paeniteat (PKR 177). Im Kontext der Rolle der Sprache bildete das Polnische ein nationales Bewusstsein.76

Darüber hinaus darf die Schlüsselrolle der Religion nicht außer Acht gelassen werden. Im 16. oder 17. Jahrhundert gehört die Religion nicht zu einem Gesell ← 33 | 34 → schaftssystem von vielen, denn die Säkularisierungsprozesse haben noch nicht begonnen. Relevant ist auch die Wahrnehmung der Adelsrepublik auf der Landkarte der allgemeineuropäischen Prozesse dieser Zeit. Das religiöse Ausmaß (die religiösen Wahrnehmungsarten und Aktivitäten) durchdringt die ganze Kultur, Politik und Wirtschaft. In welcher Art und Weise dies lebendig war, beweisen die Geschehnisse des sarmatischen Messianismus, der im 19. Jahrhundert auftritt und der spezifisch die Kultur der polnischen Romantik bildet.77 Die christliche Kultur durchdringt die Volkskultur.78 Jedoch in der Diskussion über den Begriff von Le Goff79 wird das Gewicht der Christianisierungsprozesse betont, die auf die Zeit der Reformation und Gegenreformation fällt. Gerade in dieser Zeit wurde Europa christlich, durchlebte in besonderer Weise religiöse Leidenschaften in allen Lebensbereichen. Nach Winfried Schulz bedeutet die Epoche der Glaubensteilungen und religiöser Kämpfe innerhalb Europas des 16. Jahrhunderts „ein Problem der konkurrierenden Kanons und ihrer gegenseitigen Beziehung“.80 Jedoch zur polnischen Spezifik konnten nicht nur die Prozesse gehören, die zwischen dem absolutistischen Staat und der Kirche stattfanden und die für das Europa des 17. Jahrhunderts charakteristisch waren.

Details

Seiten
488
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057355
ISBN (ePUB)
9783653997132
ISBN (MOBI)
9783653997125
ISBN (Hardcover)
9783631637876
DOI
10.3726/978-3-653-05735-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Norbert Elias Lachkultur Frühe Neuzeit Karneval Populäre Literatur Polens Zivilisationsprozess
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 488 S.

Biographische Angaben

Witold Wojtowicz (Autor:in)

Witold Wojtowicz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Polonistik der Universität Szczecin (Polen); Polonistikstudium und Promotion an der Univ. Wrocław, Habilitation 2011 an der Univ. Warschau. Forschungsgebiete: Die altpolnische Literatur der Frühen Neuzeit und des Mittelalters.

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Titel: Studien zur «bürgerlichen Literatur» um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert
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