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Tourismuskommunikation

Im Spannungsfeld von Sprach- und Kulturkontakt- Mit Beiträgen aus der Germanistik, Romanistik und Anglistik- Unter Mitarbeit von Maria Vittoria Spissu

von Doris Höhmann (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 381 Seiten
Reihe: Arbeiten zur Sprachanalyse, Band 58

Zusammenfassung

Die Kommunikation in der Touristik hat in der germanistischen Forschungslandschaft bislang vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Mit seinen insgesamt 18 oftmals kontrastiv ausgerichteten Beiträgen aus der Germanistik, Anglistik und Romanistik möchte der mehrsprachig angelegte Band dazu beitragen, die hier entstandene Lücke zu schließen. Mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen werden in den Beiträgen sprachliche Darstellungswelten und -weisen in der Tourismuskommunikation, Sprach- und Kulturtransfer sowie sprachdidaktische Herausforderungen behandelt. Der Band setzt es sich insbesondere zum Ziel, einen einführenden Überblick über Themenschwerpunkte und aktuelle Forschungstendenzen zu vermitteln.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • A. Sprachliche Darstellungsweisen, Sprachliche Darstellungswelten In Der Tourismuskommunikation
  • Tourismus und sprachliches Handeln – diesseits und jenseits von Lingua-franca-Kommunikation
  • Authentische und zitierende Erfahrung – Dimensionen touristischer Sprachlichkeit
  • The Rhine: sublime or not?
  • The quest for the ‘local’ and ‘authentic’: Corpus-based explorations into the discursive constructions of tourist destinations in British and German commercial travel advertising
  • A corpus-based discourse analysis to identify the perception of nature in travel promotion texts
  • A Touch of Color: A Linguistic Analysis of the Use of Color Terms in the Language of Tourism
  • Sprachliche Handlungen in Audio-Guide-Texten zur bildenden Kunst
  • B. Sprach- und Kulturtransfer
  • Translate, Explain or Borrow? Culture-specific Terms of Italian Strade dei vini e dei sapori in German and English
  • Go for the Real Thing: Idiomatising Translated Tourist Promotion
  • La fraseologia delle emozioni in testi turistici promozionali tedeschi e italiani: un’analisi contrastiva e traduttologica
  • Comunicazione turistica: il ruolo delle emozioni nelle unità lessicali
  • Costruire un’immagine turistica per il Friuli Venezia Giulia: itinerari di narrazione e di traduzione
  • Generi testuali del turismo: analisi della deissi personale in italiano e in spagnolo
  • C. Sprachdidaktische Herausforderungen: Problemaufrisse, Lehr- und Lernideen
  • Qualitätssicherung in Texten zu hochwertigen Tourismusdestinationen …
  • „Sardinien ist eine paradiesische Insel.“ Zur Verwendung semantischlexikalischer Strukturen in L2-Reisetexten
  • Gesprächskompetenz entwickeln – am Beispiel der interlingualen und interkulturellen Touristenfuhrung
  • Usuelle Wortverbindungen und wiederkehrende Kommunikationshandlungen in touristischen Texten. Das Projekt TouriTerm
  • Il “corpus del Rinascimento”: uno strumento per la comunicazione in ambito specialistico. Tra studi linguistici, storia dell’arte e turismo culturale
  • Reihenübersicht

← 6 | 7 → Vorwort

Der vorliegende Band umfasst Beiträge aus der Germanistik, Anglistik und Romanistik, die mit den Mitteln der modernen empirischen Sprachforschung und auf der Grundlage unterschiedlicher Forschungsansätze grundlegende Aspekte der Tourismuskommunikation untersuchen. Er stellt damit im eigentlichen und besten Sinne des Wortes einen Sammelband dar, der die Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Gemeinschaften und ihrer Forschungstraditionen überschreitet und vor allem einen Überblick über aktuelle Forschungstendenzen in einem Gegenstandsbereich vermittelt, der lange aus der fachsprachenlinguistischen Forschung ausgenommen war1 und, wie im internationalen Vergleich deutlich wird, in der germanistischen Forschungslandschaft bislang eher ein Schattendasein geführt hat.2

Der Frage nach den Gründen für diese besondere Forschungslage sei kurz nachgegangen. Sie dürfte vor allem darin begründet sein, dass die Tourismuskommunikation in mehrfacher Hinsicht von den Vorstellungen abweicht, die ideal- und prototypisch mit dem Begriff der Fachsprache verbunden werden:

• Die Kommunikation in der Touristik zeichnet sich in sprachlichkommunikativer Hinsicht durch eine besondere Vielgestaltigkeit aus, die es nicht erlaubt, sie einem bestimmten, relativ klar abgrenzbaren Fachgebiet zuzuordnen. Die ihr eigentümliche Komplexität entsteht dabei zum einen durch die zahlreich vertretenen Fachthemen und -gebiete (wie z.B. Kunstgeschichte, Geographie, Gastronomie, Freizeitaktivitäten), zum anderen aber auch durch die vielen zum Einsatz kommenden Diskurs- und Textarten (Geschäftskorrespondenz, Verträge, Reiseführer unterschiedlichen Typs und Anspruchs, Broschüren, wissenschaftliche Aufsätze u.a.) und die sie kennzeichnenden verschiedenartigen kommunikativen Funktionen. Dadurch, dass ihre Sprachbestände aus verschiedenen sprachlichen Teilbereichen herrühren, entzieht sie sich der üblichen horizontalen Auffächerung nebeneinander bestehender Fachsprachen, und ihrer Einordnung in den Bereich der Wirtschaftssprachen ← 7 | 8 → haftet letztendlich der Charakter eines Notbehelfs an. Sie kann daher eher als Nehmervarietät bezeichnet werden, die situationsabhängig aus verschiedenen fachsprachlichen Gebervarietäten schöpft.

• Laien sind in besonderem Maße am kommunikativen Geschehen beteiligt, während die Experten-Experten-Kommunikation eher in den Hintergrund tritt bzw. im Rahmen der einzelnen fachsprachlichen Gebervarietäten stattfindet. Die Erscheinung, dass der Fachlichkeitsgrad oft eher niedrig angesetzt ist, betrifft dabei oftmals auch die Autorenschaft zentraler Textarten der Tourismuskommunikation. So werden etwa die Informationen in Broschüren zu Kultur- und Naturschutzgütern häufig nicht von Fachleuten, sondern von mehr oder weniger fachlich bewanderten Laien oder „Halbexperten“ abgefasst.

• Die damit zusammenhängende Nähe zur Gemeinsprache, die weite Teile des kommunikativen Austauschs in der Touristik kennzeichnet, entspricht nicht den klassischen Schwerpunktsetzungen der im Wesentlichen mit dem Sonderwortschatz und der begrifflichen Strukturierung der Fachsprachen befassten Terminologie- und Fachsprachenforschung.

• Die inhaltliche und stilistische Gestaltung von Tourismustexten steht oft in erheblichem Gegensatz zu den Prinzipien der emotionslosen Sachlichkeit und Objektivität, die für die Fach- und Wissenschaftskommunikation postuliert werden.

Angesichts der Tatsache, dass die Touristik einen wesentlichen Wirtschaftszweig darstellt, ist jedoch die Auseinandersetzung mit den Problemen der mehrsprachigen Tourismuskommunikation wie auch die Vermittlung angemessener sprachlicher und metasprachlicher Kompetenzen notwendig ein aktuelles Anliegen der angewandten Linguistik. Es überrascht daher nicht, dass eine besonders rege Forschungstätigkeit von den Zweigen der Sprachwissenschaft wie der Übersetzungswissenschaft und der Fremdsprachendidaktik ausgeht, die vorrangig mit den entsprechenden Bedarfslagen konfrontiert werden. Als ein herausragendes Ziel gilt dabei die Erarbeitung eines größeren metasprachlichen Wissens über den Sprachgebrauch im Fremdenverkehr, das einem besseren Verständnis der Kommunikationszusammenhänge dienen soll und dazu bestimmt ist, in die Erstellung fachbezogener und zielgruppenorientierter Unterrichts-projekte und -materialen einzufließen.

In dem vorliegenden Band ergibt sich eine besonders anregende Diskussion des Forschungsgegenstands dadurch, dass in den einzelnen Arbeiten verschiedene Forschungsrichtungen vertreten sind (u.a. Funktionale Pragmatik, Übersetzungswissenschaft, Korpuslinguistik), so dass in den oftmals kontrastiv angelegten ← 8 | 9 → Untersuchungen zu verschiedenen Sprachen und Sprachkombinationen unterschiedliche Fachtraditionen und Forschungsansätze zum Tragen kommen.

Mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen werden in den Beiträgen folgende Themen und Fragestellungen behandelt, die auch der inhaltlichen Gliederung des Bandes zugrunde liegen:

• sprachliche Darstellungsweisen, sprachliche Darstellungswelten in der Tourismuskommunikation

• Sprach- und Kulturtransfer

• sprachdidaktische Herausforderungen: Problemaufrisse, Lehr- und Lernideen.

Für wie relevant diese Themenbereiche von den einzelnen AutorInnen erachtet werden, geht auch daraus hervor, dass sich in den meisten Beiträge mehrere der genannten Inhaltspunkte in unterschiedlichen Konstellationen wiederfinden. Für die Untergliederung des Sammelbands bedeutet dies, dass die Zuordnung der einzelnen Beiträge vielfach nicht eindeutig erfolgen kann. Ausschlaggebend waren die Schwerpunktthemen, die die Arbeiten auf besondere Art und Weise prägen.

Entsprechend der Sprach- und Kulturgebundenheit des Untersuchungsgegenstands, aber auch im Sinne einer bewussten Vielsprachigkeit des europäischen bzw. internationalen Wissenschafts- und Kulturbetriebs und der Förderung des Dialogs zwischen den verschiedenen nationalen und sprachabhängigen Wissenschaftsgemeinschaften wurde besonderer Wert auf die mehrsprachige Gestaltung des Buches gelegt. Bereits ein Blick in die Literatur, die von den verschiedenen AutorInnen zitiert wird, macht nicht nur deutlich, wie lebendig die Forschung auf dem Gebiet der Tourismuskommunikation ist, sondern zeigt zugleich, in wie großem Maße Forschungsliteratur in anderen Sprachen vorliegt, die im Allgemeinen jedoch nur sehr ausschnitthaft rezipiert wird, und wie wünschenswert ein verstärkter Austausch über die Sprach- und Fächergrenzen hinweg ist.

Eine abschließende Danksagung darf nicht fehlen. Herzlich gedankt sei allen Kollegen und Kolleginnen, die am Peer-Reviewing der Beiträge mitgewirkt oder in anderer Form mit wertvollen Hinweisen und Hilfen zum Gelingen des Bandes beigetragen haben. Ein herzliches Dankeschön geht hier stellvertretend an David Brett, Alfred Langner, Galina Paramei, Giulia Pissarello, Marcello Soffritti, Yoshimi Tsurumi und Caterina Virdis.

Danken möchte ich auch Frau Ute Winkelkötter vom Peter Lang Verlag für die nette und professionelle Betreuung des Publikationsvorhabens.

← 9 | 10 → Gedankt sei zudem der Regione Sardegna für die Gewährung von Fördermitteln, ohne die weder der Sammelband noch die von der Sassareser Forschungsgruppe zusammengestellten Korpora hätten entstehen können, sowie dem Dipartimento di Scienze Umanistiche e Sociali der Universität Sassari für den bewilligten Druckkostenzuschuss.

Großer Dank gilt schließlich Konrad Ehlich, der, stets auf die Förderung der germanistischen Forschung und des wissenschaftlichen Austauschs bedacht, die Entstehung des Sammelbandes begleitet hat.

D.H.

Literatur (Auswahl)

Costa, Marcella / Müller-Jacquier, Bernd (Hrsg. 2010), Deutschland als fremde Kultur: Vermittlungsverfahren in Touristenführungen, München: Iudicium.

Dann Graham M. S. (1996), The Language of Tourism. A Sociolinguistic Perspective, CAB International, Wallingford.

Gotti, Maurizio. (2006), The Language of Tourism as Specialized Discourse, in Palusci O. and Francesconi S., eds., Translating Tourism Linguistic / Cultural Representations, Editrice Università degli Studi di Trento, Trento, 15-34.

Hoffmann, Lothar / Kalverkämper, Hartwig / Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.) 1998-1999. Fachsprachen / Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 2 Bde. Berlin u.a., de Gruyter.

Lombardi, A. (2006). Tourismuswerbung im Vergleich. Das Erwerben von Sprach-, Kultur- und Marketing-Know-how durch die stilsemiotische Analyse von Paralleltexten. In M. Foschi Albert / M. Hepp / E. Neuland (eds.). Texte in Sprachforschung und Sprachunterricht. München, Iudicium: 292–298.

Magris, Marella (2006): Die interlinguale und interkulturelle Kompetenz beim Übersetzen gastronomischer und kulinarischer Werbetexte. In: Di Meola, Claudio / Gaeta Livio / Hornung, Antonie / Rega, Lorenza (Hgg.): Perspektiven 2. Akten der 2. Tagung Deutsche Sprachwissenschaft in Italien, Istituto Italiano di Studi Germanici, Roma, 471-482.

Mekis, Zsuzsanna 2008. Die Problematik der Definition der Fachsprache des Tourismus, in Szamkmai füzetek szám 25 (2008), 71-75 (auch online: http:// elib. kkf. hu/okt_publ/ szf_25_07.pdf; letzter Zugriffam 12. Juni 2013).

Maria Giovanna Nigro 2006. Il linguaggio specialistico del turismo. Aspetti storici, teorici e traduttivi. Aracne Editrice, Roma.

Peverati, Costanza (2012): La ricerca linguistica negli Studi sul Turismo. Un repertorio bibliografico. In Agorni, Mirella (ed.): Prospettive linguistiche e traduttologiche negli studi sul turismo, Milano, Franco Angeli, 115-149 (auch online: http://centridiricerca.unicatt.it/cst_RepertoriobiblioCST.pdf; letzter Zugriff am 12. Juni 2013).

Reuter, Ewald (2011). DaF im Tourismus – Tourismus im DaF-Unterricht. Bestandsaufnahme und Zukunftsvisionen. German as a foreign language 3, 3-32 (online: www.gfl-journals.de).

_______________________

1So sucht man beispielsweise in dem von L. Hoffmann, H. Kalverkämper und H.E. Wiegand herausgegebenen zweibändigen Standwerk zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft (1998-1999) aus den HSK-Reihe vergeblich nach einem eigenständigen Beitrag zur Tourismuskommunikation.

2Es liegen vergleichsweise wenige einschlägige Veröffentlichungen in deutscher Sprache vor, an denen bezeichnenderweise auslandsgermanistische Arbeiten einen signifikanten Anteil haben. Stellvertretend seien die Arbeiten von Lombardi (2006), Magris (2006), Costa/Müller-Jacquier (2010) und Reuter (2011) genannt. Siehe dazu auch den von Peverati (2012) erstellten dankenswerten Überblick über die vorliegende deutsch-, englisch-, französisch-, italienisch- und spanischsprachige Forschungsliteratur.

← 10 | 11 → A.

Sprachliche Darstellungsweisen,
sprachliche Darstellungswelten in der Tourismuskommunikation
← 11 | 12 →

← 12 | 13 → Tourismus und sprachliches Handeln – diesseits und jenseits von Lingua-franca-Kommunikation

Konrad Ehlich*

Abstract

The paper consists of three parts. Part one considers the phenomenon and the term “tourism”. Tourism is a movement towards the unknown. The tourist dives into a world that is different from his/her everyday experience, an “anti-world”. The tourist’s primary interest is to gain new experience by confrontation with the unfamiliar; the journey is a means to that end. The commercialization of travel results in a partial contradiction to the tourist’s expectations.

Part two of the paper discusses the interrelationship of communication and tourism. It presents an analysis of different forms of linguistic activity in touristic contexts, on the part of the tourist. These forms range from language avoidance and nonverbal communication through lingua-franca communication to the use of linguistic guides in printed and in electronic form. The various types show differences with respect to three basic dimensions of language: its teleological, gnoseological, and communitarian functions. Neither nonverbal communication nor lingua-franca communication really contributes to the tourist’s encounter with the unfamiliar as part of his/her self-cultivation.

Part three of the paper changes perspective and turns to linguistic aspects of promotional texts in the tourism business. It specifies the tourist’s communicative interests by developing a tourist typology, and correlates it to different types of travel guides. Examples, both positive and negative, are analyzed linguistically.

In its conclusion, the paper makes a plea for the linguistic professionalization of producers of tourist guides and promotional material in order to produce texts that are able to satisfy the tourist’s interest in gaining travel pleasure.

1. Reisen / Tourismus

1.1. Reisen und die FremdeGrenzüberschreitungen

Reisen ist seit langem ein Thema – sowohl in der Literatur wie in unserer alltäglichen Wirklichkeit. Letzteres freilich ist alles andere als selbstverständlich. Unsere heutige Beweglichkeit bedeutet, dass wir Grenzen überschreiten. Das setzt voraus, dass Raum in einer spezifischen Weise überhaupt Grenzen aufweist. Dies hat, kultur-anthropologisch gesehen, mit dem entscheidenden Übergang von der nomadischen Existenz zur Sesshaftigkeit zu tun. In dem Umfang, wie Sesshaftigkeit zu einer anthropologischen Realität wird, beginnen die Grenzen zu etwas zu werden, das eine fundamentale Bedeutung hat. Sie werden sozusagen verfestigt, sie werden starr. Das aber ist in der Geschichte der Menschheit ← 13 | 14 → noch gar nicht so sehr lange her, da die Sesshaftigkeit ja eine relativ junge Form in der Bestimmung des Verhältnisses von menschlichem Leben und Raum ist.

Seit der Zeit, in der Grenzen bestehen, gibt es auch Verfahren, Grenzen zu überschreiten. Eines der wichtigsten derartigen Verfahren ist ganz ohne Zweifel der Krieg, durch den versucht wird, Grenzen zu verschieben oder sie ganz aufzuheben, um Raumverteilung neu zu organisieren. Welche grässlichen Konsequenzen diese Form der Grenzüberschreitung hat, ist nicht zuletzt an der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen zwei Weltkriegen, aber auch mit den Kolonialkriegen und den zahlreichen kleinen Kriegen bis zum Ende dieses Jahrhunderts und darüber hinaus, abzulesen.

Eine andere Form der Grenzüberschreitung ist das Pilgern (vgl. Foster 1982), eine Form, die etwa in der europäischen Kultur eine erhebliche Rolle gespielt hat (man denke nur an den sogenannten Jakobsweg (Herbers 2006, Heiser & Kurrat 2012). Aber auch z.B. in der islamischen Kultur spielt das Pilgern eine zentrale Rolle. (Die Pilgerfahrt nach Mekka, der Ḥaǧǧ, gehört zu den „fünf Säulen“ des Islam, den religiösen Hauptpflichten aller Muslime.) Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela war Jahrhunderte eine geradezu exemplarische Grenzüberschreitung mit einer eigenen Infrastruktur. Dass er derzeit in einer Verbindung von religiösen Motiven und touristischen Strukturen eine Wiederbelebung erfährt, macht ihn zu einer interessanten Mischform der Grenzüberschreitung.

Heute ist nämlich der Tourismus eine der beiden elementaren Formen der Grenzüberschreitung. Die andere ist die Migration im weiteren Sinn mit ihren Erscheinungsformen von Emigration, Immigration und eben der Migration im engeren Sinn, bei der keine dauerhafte Veränderung der eigenen Lokalisierung stattfindet, sondern eine periodische.

Der Tourismus hat Elemente anderer Formen der Grenzüberschreitung übernommen und transformiert, und er hat seine eigenen.

1.2. Reisevergnügen

Wesentliches Kennzeichen des Tourismus ist, dass das Reisen, dass die Grenzüberschreitung zu einem Vergnügen wird. Jedenfalls sollte das so sein. Nicht alle freilich erleben dieses Vergnügen in gleicher Weise. Die italienische Autorin Natalia Ginzburg illustriert das Reisevergnügen ex negativo in einem kleinen Text über den „ungeschickten Reisenden“ (Ginzburg 2000, 61):

„Es gibt solche, die sich darauf verstehen, und solche, die sich nicht darauf verstehen. Es gibt Menschen, für die jede noch so kleine Reise oder Aussicht auf eine Reise Angst und Mühe bedeutet, eine zermürbende Unternehmung. Für andere ist es eine so einfache Handlung wie Naseputzen. Es ist nicht gesagt, dass die Menschen, ← 14 | 15 → die reisen, bei ihren seltenen Reisen nicht doch einen feinen Genuss empfinden. Aber es ist ein so hinter dichten Nebeln verborgener Genuss, dass sie ihn nicht bemerken. Erst später werden sie einen Schatten davon wahrnehmen. Es ist ein Genuss, der nicht daraus entsteht, dass man neue Orte kennen lernt oder kennen gelernt hat. Diese sesshaften Tiere, diese ungeschickten Reisenden, empfinden keine wirkliche gelassene Neugier für die neuen Orte. Sie suchen an den neuen Orten einzig und allein nach einer Möglichkeit, sie so zu bewohnen, als wäre es für immer.“

Solche ungeschickten Reisenden sind also nicht die prototypischen touristischen Reisenden. Diese sind im Gegenteil jene Reisenden, die die Vergnügungen des Reisens, die den Genuss sich gönnen können, von dessen Negation bei Ginzburg die Rede ist.

Das Reisevergnügen hat es mit der Errichtung einer Gegenwelt in Bezug auf den Alltag, in Bezug auf die Welt, die einen tagtäglich umgibt, zu tun. Es ist der Versuch, Vergnügen daraus zu ziehen, dass alles „anders“ ist. Alles? Nun ja, wie bei allen Gegenwelten müssen selbstverständlich auch Elemente der realen alltäglichen Welt mit dabei sein. Es ist das spezifische Mischungsverhältnis, das für das Reisevergnügen von einem besonderen Interesse ist. Dieses spezifische Mischungsverhältnis wird im Tourismus in kommerzialisierter Form hergestellt. Das ist eine deutlich andere Form als beim Pilgern, als bei der Pilgrimschaft. Selbstverständlich spielen auch dort ökonomische Faktoren eine Rolle: Es bedarf der Herbergen; es bedarf der Mittel, um überhaupt die Reise überstehen zu können. Doch gerade das Beherbergungswesen, das die Klöster auf dem Pilgerweg Vorhalten, folgt anderen, archaischen Formen, dem Institut der Gastfreundschaft für den christlichen Mitbruder. In der touristischen Welt beherrscht das Reisen weithin die kommerzialisierte Form.

1.3. Kommerzialisiertes Reisenvon der „Grand Tour“ zum Massentourismus

Das kommerzialisierte Reisen lässt sich als ein spezifisches Phänomen der europäischen Kultur charakterisieren. Die „Grand Tour“1, jene Reise, die der mit hinreichenden Mitteln versehene europäische Adelige zu absolvieren hatte, um sich eine hinreichende Weltkenntnis zu erarbeiten, bietet einen Ausgangspunkt (vgl. z.B. Brilli 2012; Imorde/Wegerhoff 2012). Im Namen ist das Element „tour“ enthalten, von dem der Ausdruck „Tourismus“ abgeleitet ist. Diese Form mutierte mehr und mehr zu einem Reisetyp des Bürgertums, ausgehend vom britischen Bürgertum und dann bestimmend durch das späte 18. und das 19. Jahrhundert hindurch – eine Entwicklung, die im 20. Jahrhundert weit über ← 15 | 16 → Britannien hinaus immer größere Teile des Bürgertums, insbesondere das Kleinbürgertum, betraf.

Details

Seiten
381
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041651
ISBN (ePUB)
9783653997415
ISBN (MOBI)
9783653997408
ISBN (Hardcover)
9783631629345
DOI
10.3726/978-3-653-04165-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Tourismuskommunikation Korpuslinguistik Lingua-franca-Kommunikation Touristik Sprach- und Kulturkontakt
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2013. 381 S., 14 farb. Abb., 1 s/w Abb., 15 Tab., 3 Graf.

Biographische Angaben

Doris Höhmann (Band-Herausgeber:in)

Doris Höhmann, Prof. Dr. phil., lehrt Deutsche Sprache an der Universität Sassari (Italien). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Fachlexikographie, Korpuslinguistik und Deutsch als Fremdsprache.

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