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Mechanismen der Trivialliteratur

Zur Wirkungsweise massenhaft verbreiteter Unterhaltungslektüre

von Wolfgang Beutin (Autor:in)
©2015 Monographie 492 Seiten

Zusammenfassung

In einer Untersuchung von etwa 170 Romanen und Novellen der Trivialliteratur aus der Zeit von 1849 bis 1945 werden die «Mechanismen» dieser Texte aufgezeigt. Die herangezogenen Werkgruppen sind: der Liebesroman, der Frauenroman, der historische Roman, der Gesellschaftsroman, der Abenteuerroman, der Bergroman und der biographische Roman. Die unterschiedlichen Romantypen weisen auf verschiedene Elemente in der Textur zurück – es wird analysiert, wie diese «Mechanismen» die Schriften an das Interesse des Publikums banden und die Inhalte mit der gesellschaftlichen Psychologie und der Ideologie der Lesenden verknüpften.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Trivialliteratur – Hochliteratur
  • „Herrschaftsinstrumente“
  • Therapeutica
  • Literaturtheoretisches
  • Zur Auswahl der Quellen
  • Liebesroman
  • Einfache Liebe
  • Alter Mann – junge Frau – junger Mann
  • Das doublierte Dreieck
  • Ältere Frau – älterer Mann – junge Frau
  • Dreiecke mit ganz oder fast gleichaltrigen Personen
  • Ein nur imaginiertes Dreieck oder mehr?
  • Drei Frauen
  • Die außergewöhnliche Partnerwahl
  • Der umgewandelte Liebhaber
  • Frauenroman
  • Bilderbuchwelt?
  • Ausnahmefrauen
  • Eine Mehrzahl von Frauen
  • Mägde
  • Künstlerinnen
  • Die Kranke
  • Die Proletarierin
  • Die Emanzipierte
  • Die Forscherin
  • Retterinnen
  • Historischer Roman
  • Vom „Todeskeim“
  • Altertum
  • Mittelaltergeschichten
  • Reformation und Gegenreformation
  • Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
  • Gesellschafts-, Zeit- und politischer Roman
  • Gegenwart und Vergangenheit
  • Industrialisierung
  • Standesunterschied
  • „Soziale Frage“, Humanität, Bürgertum und Bohème
  • Krieg und seine Vorbereitung
  • Psychologische Motive
  • Abenteuerroman
  • „Exotische“ Motive
  • „Ostgotenseele“
  • Revolutionäre, Abenteurer, Helden
  • Bergroman
  • Berg als Naturgewalt oder als Kulisse
  • Biographischer Roman
  • Dimensionen des biographischen Romans
  • Historische Persönlichkeiten
  • Fingierte Lebensläufe
  • Autobiographische Äußerungen
  • Von Homer zum „Tagesschriftsteller“
  • Selbsteinschätzung der Autoren. Ihre Verleger
  • Schreibintentionen
  • Schlüsselerlebnisse, das Ich, die Bezugspersonen
  • Weltanschauung, Mentalität, Bild der Frau
  • Lektüre
  • Geschichte, Zeitgeschichte
  • Eine Ästhetik des Trivialen?
  • Keine wahrnehmbaren Spezifika –
  • – oder gibt es sie vielmehr doch?
  • Intertextualität
  • Sprache
  • Reale Lebenswelt, Ideologie und Psychologie
  • Technik, Erfindungen
  • Gesellschaft, Politik, Recht, Geschichte
  • Die Geschlechter und Geschlechterbeziehungen
  • Religion, Mythologie, Märchenfiguren
  • Weltanschauung
  • Dehumanisierende Tendenzen –
  • – und dagegen humanisierende Tendenzen
  • Psychologie
  • Literatur
  • Quellen
  • Forschungsliteratur, Darstellungen, Nachschlagewerke
  • Namensregister

Einleitung

Und warum nicht einmal die Frage nach dem Machen des Trivialen?
Marianne Thalmann, Die Romantik des Trivialen, S. 57

… eines trivialen literarischen Werks etwa? Eines Trivialromans zum Beispiel, so wie man auch die Frage stellt nach der Entstehung eines Romans der ‚Hochliteratur‘?

Von der Frage nach dem Machen ist es nicht weit zur nächsten, nach der Eigentümlichkeit verfertigten Literaturprodukts, und zur dritten, wie dessen Wirkungsweise vorzustellen sei …

Also drei Erkundigungen, nach der Entstehung, dem Wesen und der Wirkung trivialer Kunst. Sie gehören eng zusammen.

Dazu eine vierte: ob überhaupt das triviale Werk zur Kunst zähle. Nicht als wären diese Erkundigungen originell, selten, rar, und als gäbe es nicht oftmalige Versuche ihrer Beantwortung.

Unvermeidlich ist daher fünftens die Frage, eine skeptische angesichts der Fülle vorhandener Forschungsarbeiten: … weshalb eine weitere?

Trivialliteratur – über diesen Begriff verfügte der Verfasser der vorliegenden Monographie noch gar nicht, als er in jungen Jahren Woche für Woche Schriften auslieh und las, die dem Genre zuzurechnen sind. Untypisch war dies nicht. Es gab bei Heranwachsenden dieselbe Leidenschaft der Lektüre bereits anderthalb Jahrhunderte zuvor. In Varnhagens von Enses „Denkwürdigkeiten“ erwähnt der Verfasser (geb. 1785), daß er im Alter von zehn oder elf in Hamburg um 1795 sich regelmäßig aus der Leihbiblithek auf dem Nikolaikirchhofe versorgte.

Da befand sich denn ausgestellt, was nur mein Herz begehrte, Ritter- und Geistergeschichten, Räuberromane, Liebesabenteuer, Robinsone und Wundermärchen aller Art. Ich hatte daheim Bücher genug, und las viel und gern darin, aber solche Bücher, wie die bezeichneten, fehlten mir ganz und gar. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und verschaffte mir den erwünschten und leider auch verbotenen Genuß. Denn hatte mein Vater auch nicht den ihm fast undenkbaren Fall ausdrücklich untersagt, so wußte ich doch zu gut, daß er eine solche Leserei nicht gestatten würde. Ich las also heimlich, mit allem Eifer und aller Spannung eines jugendlichen Sinnes und fühlte mich glücklich in dem phantastischen Leben, das neben dem wirklichen so zauberisch mir aufstieg. (71)

„Bücher, wie die bezeichneten“, – existierten sie in der Moderne immer noch, in der jüngeren Vergangenheit? Offensichtlich; im Jahrzehnt vor der letzten ← 11 | 12 → Jahrhundertwende traf die Feministin Anja Meulenbelt die Feststellung, „daß Frauen kiloweise Groschenromane kaufen“, vor allem Erzählungen von Liebe:

Ich war immer der Überzeugung gewesen, daß es in diesen Heften um Liebe und nicht um Sex ginge, daß man sich den Sex hinzudenken müsse (was an sich nicht unbedingt von Nachteil sein muß). Mitnichten! Ich ließ mich von meiner Freundin Margriet, einer Expertin allerersten Ranges auf dem Gebiet von Groschenromanen in allen Variationen, informieren. Erzählstruktur und Aufbau haben sich gegenüber früher kaum verändert: ein sorgfältig konstruierter Spannungsbogen, eine Frau und ein Mann, die sich unwiderstehlich zueinander hingezogen fühlen, wobei fast immer ein gewisses Maß an Feindseligkeit mitspielt, Mißtrauen, Mißverständnisse, ihre Liebe muß viele Hindernisse überwinden, aber zum Schluß kriegen sie sich, garantiert. Nicht endenwollende Wiederholungen desselben Themas und ein Handlungsablauf, der auf angenehme Weise vorhersehbar ist. (47)

Selber stürzte ich mich während meiner Schulzeit in die zweifelhafte Lektüre. Ich konnte nicht schon wissen, daß eine Wissenschaft existiere, die meinen Lesestoff untersucht. Später kam mir die Idee, meiner alten Vorliebe nachzuspüren, weshalb ich – in Gemeinschaft mit meiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Heidi Beutin – in Antiquariaten, auf Flohmärkten sowie aus Nachlässen Exemplare der in zurückliegenden Zeiten geschätzten Schmöker kaufte. Bei ihrer wiederholten Lektüre verspürte ich nicht mehr die Anspannung, die mich damals – wie ich mich genau erinnerte – ergriffen hatte. Dafür erweckte sie in mir das Interesse an der Frage, wie ich selber mir die frühere starke, jetzt fast erloschene Wirkung erkläre. Langsam entwickelte sich der Plan, dem Phänomen einmal systematisch nachzugehen.

Auf was ich bei der erneuten Lektüre in erster Linie aufmerksam wurde, waren bestimmte Mechanismen in der Textur, denen ich es zuschreibe, daß beim früheren Lesen die erwähnte Wirkung zustande gekommen war. Es lag dem Germanisten dann nahe, wissenschaftliche Arbeiten zu Rate zu ziehen, um zu ermitteln, ob Annahmen, wie er sie sich gebildet hatte, in ihr bereits existieren, und ob Zusammenhänge, die er sieht, in der Forschung gleichermaßen gesehen worden waren und werden.

Trivialliteratur – Hochliteratur

In der Wissenschaft erreichte das Interesse an der Trivialliteratur einen Höhepunkt in der Ära der ‚Außerparlamentarischen Opposition‘ und ‚Studentenbewegung‘. Eine beachtliche Zahl von Untersuchungen, Dissertationen und Anthologien entstand. Es gab Forschungsansätze von gewisser Radikalität, die aber in der Folgezeit entweder untergingen oder ohne ernsthafte Konsequenzen blieben. ← 12 | 13 →

Anregend wirkte die programmatische Abhandlung von Helmut Kreuzer aus dem Jahre 1965: „Trivialliteratur als Forschungsproblem“. Darin zweifelte er den Terminus ‚Trivialliteratur‘ überhaupt an und stellte an seiner Stelle „den Begriff einer Banalliteratur“ zur Diskussion (7).1

Rudolf Schenda veröffentlichte einen Beitrag unter einem Titel, der bereits die Herkunft aus der Zeit um 1968 erkennen ließ: „Die Lesestoffe der Beherrschten sind die herrschende Literatur“. Hierin wandte er sich gegen die Zuordnung eines Anteils der Belletristik zur sog. ‚Trivialliteratur‘, denn die Trivialliteratur „der Germanistik“ sei keine solche – die Germanistik „irre sich“ im Gegenstand. Und noch mehr. Er konstatierte: „Falscher Gegenstand zum einen, Theorielosigkeit zum anderen …“ (S. 190).

Während der Entstehung des vorliegenden Buchs verwies im Gespräch mit dem Verfasser der Schriftsteller Hans Heinrich (Weilheim) auf die ältere Diskussion und die Abhandlung von Kreuzer. Er hob die Notwendigkeit hervor, noch einmal den Ausdruck „Trivialliteratur“ zu reflektieren. Sein Ergebnis: „Jedenfalls ist der Begriff ein semantisches Mißverständnis, richtiger wäre ja wohl Banal-Literatur.“2

Kreuzer schlug 1965 einen Weg vor, den Terminus ‚Trivialliteratur‘ zu ‚retten‘. Allerdings müßte die Verfahrensweise der konventionellen Forschung aufgegeben werden (die „horizontale“ Betrachtung), die unter jenem Begriff diejenigen Produktionen zusammenzufasse, welche sie „nach formalen Kriterien“ als niedrigeren Ranges einschätze – Kriterien wie „Stilzüge“ und andere ästhetische Merkmale –. Was in den Untersuchungen älterer Art als angebliche Eigentümlichkeiten trivialer Schriften herausgearbeitet worden sei, das alles sei ebenso „in Werken der hohen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachzuweisen“ (9).

Da ihre Voraussetzung falsch ist, ermittelt die horizontale Betrachtungsweise keine spezifischen, sondern unspezifische Charakteristika und verwickelt sich in Schwierigkeiten, sobald sie diese dennoch als formale Kriterien der Zuordnung zur Trivialliteratur ausgibt. (11)

Kreuzer ersetzt die abgelehnte „horizontale“ durch die „vertikale“ Betrachtungsweise, eine historisch-geschmackssoziologische: ← 13 | 14 →

Dementsprechend funktionieren wir den Begriff um: aus einem unmittelbar ästhetischen zu einem unmittelbar historischen – und definieren Trivialliteratur als Bezeichnung des Literaturkomplexes, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren. Diese Diskriminierungen sind weder für die Wertungen der Wissenschaft noch für die jeweils späteren Epochen verbindlich. Dann würde es also nicht mehr die Trivialliteratur als Gegenstand der Stilistik odr systematischen Ästhetik geben, sondern Trivialliteraturen als historisch vorfindbare Epochenphänomene. (17)

Der Begriff Trivialliteratur ist … wissenschaftlich sinnvoll unter historisch-geschmacksoziologischem Aspekt zur Bezeichnung der Literatur unterhalb der literarischen Toleranzgrenze der literarisch maßgebenden Geschmacksträger einer Zeit. (23)

Die Schwierigkeit mit dem Begriff verschmilzt mit der Frage nach der Möglichkeit, die Trivialliteratur von der Hochliteratur abzutrennen. Um Kreuzers Begrifflichkeit aufzunehmen: Was an Literatur vorhanden sei, wäre entweder eine solche „unterhalb“ oder eine „oberhalb“ der literarischen Toleranzgrenze. Es würde sich sofort die Frage anschließen müssen, wer denn Kreuzers maßgebende „Geschmacksträger“ seien und welche Maßstäbe der Bewertung sie benutzten, um das Einrangieren von Schriften „unterhalb“ oder „oberhalb“ zu praktizieren. Vor allem: Es sind nicht selber die Autorinnen und Autoren der trivialen Produktionen, die über die Einordnung bestimmen. Es ist nicht anders, die – tatsächliche oder vermeintliche – Trivialliteratur sagt nicht über sich selber aus, daß sie dies wäre. Und ein Trivialautor nur ausnahmsweise über sich selber, daß er es sei.

Liegt eine von ihm hinterlassene Selbstbiographie vor, so wird sie wahrscheinlich Auskunft geben, wie er sich selber einschätzte. Es läßt sich eine Skala auffinden: Heute allgemein als Verfasser von Trivialliteratur gewertete Autoren haben sich die Frage nach ihrem eigenen Rang nicht gestellt / oder sie sahen sich in der Tat als Produzenten von ephemerer Literatur / im Extremfall setzten sie sich ungeniert an die Seite von Homer und Goethe. In der Regel bieten ihre Autobiographien – falls denn vorhanden – „Material zum Selbstverständnis“ solcher Schriftsteller, an dem die Forschung nicht vorübergehen sollte (Bausinger, Wege, S. 28).

In der Frage, ob eine Abgrenzung der Hoch- von der Trivialliteratur sinnvoll, erforderlich und überhaupt möglich sei, sind die Antworten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler uneinheitlich. Während einige an der absoluten Dichotomie der beiden Bereiche von Literatur festhalten, wollen andere die Grenzen fließend sehen. Eine dritte Gruppe gibt zu, daß sie zumindest tendenziell auf die Dichotomie gänzlich verzichten möchte. ← 14 | 15 →

Walter Nutz versteht unter dem Terminus Trivialroman „eine ganz festumrissene Art von Druckerzeugnissen“, verwirft mithin die Verneinung der Möglichkeit der Abgrenzung. Indem er verspricht, sorgfältig der ästhetischen und philologischen Bewertung „aus dem Wege“ zu gehen, behilft er sich damit, daß er simpel definiert, es sei mit ‚trivial‘ „zunächst nur jene Reportage- und Romanliteratur akzentuiert, die ‚abgedroschene‘ Themen behandelt“. Er schärft es abermals ein: „Auch bei der Produktion von Trivialromanen werden die ewigen Grundthemen menschlichen Verhaltens immer wieder in etwas anderem Gewande ‚abgedroschen‘.“ (S. 12 f.) Damit ist gesagt, daß bezüglich der Thematik – falls denn Hoch- und Trivialliteratur beide dieselben „Grundthemen“ abhandeln – kein Unterschied zwischen ihnen bestehe. Das einzige Spezifikum trivialer Literatur, welches er übrig behält, heißt dann dürftiger Weise: „abgedroschen“. Es kann sich sonach bloß auf die Formgebung beziehen (welches „Gewand“?). Damit ist das Kriterium – gegen des Verfassers Vorsatz – doch ein philologisches, sogleich mit „ästhetischer“ Wertung verbundenes, weshalb die eben erst ausgeschlossenen Möglichkeiten der Klassifizierung prompt wiedergekehrt sind.

Ein anderer Einwand. Könnte die Aufnahme eines „ewigen“ Motivs in moderner Trivialliteratur nicht vielleicht recht originell ausfallen, nicht zwangsläufig nur „abgedroschen“? Mit einiger Phantasie ließe sich doch ein Grundthema vorstellen, das sich bereits in der Bibel findet, im 19. Jahrhundert zudem in deutscher dramatischer Dichtung: die Feindschaft zweier Brüder (Schiller, „Die Braut von Messina“, Grillparzer, „Ein Bruderzwist in Habsburg“), und das in einem modernen Unterhaltungsroman (sowie in dessen Verfilmung) noch einmal wie neu erglänzt.

Marianne Thalmann befaßt sich mit der „Romantik des Trivialen“, ohne aber die Trivialliteratur als eine Schrifttumsart für sich zu qualifizieren. Sie hebt im Gegenteil „die fließenden Grenzen zwischen hoher und niedriger Literatur“ hervor (S. 7).

Christa Bürger distanziert sich ausdrücklich von Hermann Brochs Ansicht, „Kitsch“ (die triviale Kunst eingeschlossen) bilde „ein eigenes, und zwar geschlossenes System“. Sie erklärt, es handele sich „bei dem Gegensatz von hoher und niederer Literatur nicht um eine Opposition von zwei gegeneinander völlig abgeschlossenen Systemen, vielmehr besteht zwischen beiden ein Wechselverhältnis der Art, daß die Literatur immer wieder auf formale Elemente und inhaltliche Motive der Trivialliteratur zurückgreift, während umgekehrt nicht selten Kunstmittel der hohen Literatur in die Trivialliteratur absinken“ (S. 3). Das ist die Feststellung noch einmal, daß nicht jeweils spezifische „Kunstmittel“ ← 15 | 16 → die Literatur „oberhalb“ und diejenige „unterhalb“ konstituieren. Es bleibt im Dunkeln, was denn die eine und die andere ausmache.

Bereits vor dem 2. Weltkrieg warb der Literaturwissenschaftler Hanns Martin Elster dafür, den Dualismus „vom dichterischen und vom unterhaltenden Roman“ aufzuheben: „Die Zweiteilung ist aber ein Unrecht sachlicher Art: es gibt in Wahrheit eben nur einen Roman, eben die epische Dichtung in Prosa; sie kann gut sein: dann nennen die Ästhetiker sie den dichterischen Roman, sie kann schlecht sein, dann meinen die Ästhetiker, es handle sich um einen Unterhaltungsroman. Dem Schlechten die Bezeichnung der Unterhaltung anzuhängen bedeutet aber eine Fälschung. … Die Wahrheit ist vielmehr, daß die epische Dichtung im schweren wie im leichten Genre sich immer gleichbleibt, daß ihr einzelnes Werk entweder gut oder schlecht ist. Ein dichterischer Roman, der schlecht ist, wird noch lange kein ‚Unterhaltungsroman‘ in jenem aburteilenden Sinne; und ein Unterhaltungsroman, der gut ist, wird allemal nahe an den dichterischen Roman heranreichen.“ (S. III) Hier schmuggelt er allerdings eine neue Antithese ein: „im schweren wie im leichten Genre“, so daß es erforderlich wäre, für beides die Kriterien zu benennen. Ein Roman des leichten Genres sei „ebensosehr epische Dichtung wie der ohne jede Beziehung zur unterhaltenden Wirkung geschriebene streng geformte Roman und unterscheidet sich von diesem nur durch die leichtere Formung und Stilisierung, durch das Streben nach Leichtverständlichkeit, wie eben die Popularwissenschaft gegenüber der strengen Wissenschaft“ (S. IV). Damit ist die Problematik allerdings noch einmal wieder verschoben, jetzt auf die Frage nach der strengen oder leichteren Formung (nachlässigeren?).

Weitere Ausführungen widmete Elster der Beschaffenheit epischer Dichtung im Unterschied zur Lyrik. So erfaßte er ihre Eigentümlichkeit, Seelisches als Projektion darzubieten: Der Epiker gestalte „innere, psychische Zustände und Bewegungen“ als Figuren. „Die inneren Erlebnisse des Dichters werden, in der epischen Formung zu selbständigen Handlungen und Gestalten, zu Eigenwesen …“ (S. V) Unter den weiteren Merkmalen hob er die Einbeziehung eines Weltbilds hervor. Das Werk müsse den Zusammenhang „mit dem allgemeinen Leben und Empfinden der Menschheit“ bewahren, „indem jeder Leser sein Sein und Fühlen in den Helden des Romans wiederfindet“ (S. VII); sprich: Leserin und Leser müssen sich mit dieser oder jener Zentralperson der Handlung identifizieren können. Dem läßt Elster eine kursorische Übersicht über die Geschichte des Romans folgen, wobei er kritisiert, das „neue Kaiserreich“ (seit 1871) habe die epische Produktion „zu jener Unübersehbarkeit“ erweitert, die den Leser „an den Zufall der Mode wie der Propaganda mehr und mehr ausliefert“ (S. XV). ← 16 | 17 →

„Herrschaftsinstrumente“

In seiner Abhandlung ersetzt Schenda den Begriff „Trivialliteratur“ durch „die massenhaft verbreiteten Lesestoffe“, um zu definieren: „Die massenhaft verbreiteten Lesestoffe sind Herrschaftsinstrumente, die teils didaktisch, indoktrinierend, teils therapeutisch, beruhigend operieren …“ (S. 203).

Der Ausdruck „Herrschaftsinstrumente“ schließt ein, daß eine Gesellschaftsordnung existiere mit einer Klasse von Herrschenden, die über eine Anzahl von Beherrschten gebieten, eine Klasse oder mehrere Klassen. Sie bedienen sich diverser Methoden, um gefügige Individuen regieren zu können. Unter ihren Instrumenten befänden sich u. a. die „massenhaft verbreiteten Lesestoffe“. Daher fällt der Forschung die Aufgabe zu, die Eigenart des Herrschaftsinstruments Massenliteratur näher zu bestimmen, dazu die Möglichkeiten seiner Anwendung und Weisen seiner Wirklung. Eine Frage lautet: Gehört es zu den Merkmalen der hierher gehörigen Lesestoffe, eine bestimmte Ideologie zu verbreiten, eine den Herrschenden dienliche?

Um zunächst einmal den Blick auf ein benachbartes Medium zu lenken, das journalistische: Was die Zeitungen anlangt, speziell die Massenblätter, lautet die Antwort unbezweifelt: ja.

In seinem Buch „Wenn ich der Kaiser wär’“ (1912) forderte Daniel Frymann (= Regierungsrat Heinrich Class), es möge endlich, wenn auch verspätet, die ursprüngliche – schärfere – Fassung des Sozialistengesetzes von 1878 in Kraft gesetzt werden, um nach „Unterdrückung der sozialistischen Presse“ durch ‚gemeinnützige Gesellschaften‘ „die Herausgabe billigster Tageszeitungen in die Wege“ zu leiten, „eine Presse von Deutschen für Deutsche in deutschem Geiste geschrieben“ … „um das Volk mit unvergiftetem Lesestoff zu versorgen“. Zweck: „… wir müssen den ‚Kampf um die Seele des Volkes‘ aufnehmen“. „Unvergiftet“ aber hieß diesem Autor eine Lektüre, die im wesentlichen zweierlei beabsichtigte: im Inneren Initiierung einer strikt rassistisch fundierten Politik, die einen ganzen Katalog von Zwangsmaßnahmen gegen Deutsche jüdischen Glaubens vorsah, dazu „entschlossene Kampfpolitik gegen die Polen“ im Deutschen Reich und eine diktatorische Regierung für das aufsässige Reichsland Elsaß-Lothringen; jenseits der Grenzen: „tätige äußere Politik …, sagen wir ruhig aggressive …“ Auf diese Weise müsse das Reich „Land erwerben“, um welchen Preis jedoch? „Jede Ausdehnung in Europa ist von vornherein nur durch siegreiche Kriege herbeizuführen …“3 So weit im Kaiserreich. ← 17 | 18 →

Was nun die triviale Romanliteratur anlangt, existiert eine vergleichbare Äußerung aus der Weimarer Republik. Damals kam in der Öffentlichkeit die Frage auf, ob man nicht eine „Notwendigkeit“ der deutschen Politik, nämlich „grenz- und auslandsdeutsche Fragen“, der Bevölkerung in „feuilletonistischer und novellistischer Form“ nahebringen solle, schon auch gleich den Schulkindern. Paul Fechter befand, belletristische Schriften seien günstige „Werbemittel für lebendige Teilnahme“, vor allem „Erzählungen von der Wirkungskraft etwa der guten Marlitt oder sogar der guten Courths-Mahler“. „Es wäre ein ausgezeichnetes Mittel, gerade über die Massenschmackhaftigkeit der dabei entstehenden Erzeugnisse die Masse mit Anteil am Dasein der Deutschen draußen zu infizieren.“ (Ebd., 300 f.) (Das Verbum „infizieren“ läßt erahnen: die Masse soll mit Erregern verseucht werden.) Die Deutschen „draußen“ – Fechter benennt: Kärnten, die „Ostmark“, Südtirol – aber bildeten nach Absicht der herrschenden Eliten die Speerspitzen einer ‚tätigen äußeren, sagen wir ruhig aggressiven‘ Politik. Wie sie aussah, dafür lieferte ein Modell z. B. Konrad Henlein, ein nationalistisch-faschistischer sudetendeutscher Parteiführer, seit 1939 Reichsstatthalter im Reichsgau Sudetenland.

In seinen Überlegungen rückte Paul Fechter ein vor allem berühmtes banales Werk ins Zentrum, das womöglich berühmteste: den Roman „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn. Zwar siedelte er ihn in der Nähe des Kitsches an, aber um ihm dennoch ein genuines Sentiment zuzuschreiben: „Er kam aus echtem Gefühl, so schafft er das echte Gefühl, auch wenn von ferne das leichte Himbeerrot des Kitsches über den Bildern von Totila und Teja schwebt.“ Es scheint, als tadele hier jemand nach ästhetischen Gesichtspunkten. Gewiß; das jedoch nur nebenbei, denn Fechters Intention ist eine andere. Er möchte das Werk nämlich den breiten Bevölkerungsschichten aufnötigen, besonders den Heranwachsenden, weshalb? Um der Vermittlung der darin enthaltenen Geschichtssicht willen, der rassistischen Besessenheit vom Germanentum: Er behauptet, „daß dieser Roman immer noch eines der wichtigsten Bücher, weil immer noch eines der besten und sichersten Mittel ist, in jungen Menschen den Grund zu einer lebendigen Beziehung zu unsrer deutschen germanischen Vergangenheit zu legen.“ Es übertreffe darin jedweden Geschichtsunterricht und alle (belehrenden) Schilderungen „des germanischen Lebens und der Germanenzüge in und nach der Völkerwanderung“ (ebd.).

Der Roman als Hilfe bei der Infiltration wertvoll? Was Fechter infiltriert haben möchte, kann eine Irrlehre heißen, mit Marx und Engels: „falsches Bewußtsein“; in diesem Sinne: eine Ideologie. Hodeige verwies darauf: „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen werden in diesen Büchern (und Filmen!) entweder ← 18 | 19 → ganz geleugnet oder verschleiert. Daraus abgeleitet werden – wenn überhaupt – falsche soziale Lösungen.“ (221) Schwerte datierte das Einfließen der Ideologie in die „Unterhaltungsliteratur“ ins 19. Jahrhundert, diese sei damals „ideologisiert“ worden, oder: es habe zu dieser Zeit das „Bündnis von Trivialität und Ideologie“ gegeben (157 f.; und vgl. Elsters Rüge, die Epik diene mehr und mehr der „Propaganda“, s. o.). – Was wäre z. B. eine Ideologie, die sich mit der Trivialität vereint hätte?

Die literarischen Werke, die in der vorliegenden Untersuchung als Quelle gewählt werden, entstammen dem Jahrhundert von 1849–1945. Um die Mitte dieser Spanne entsteht eine literarische Strömung, die alsbald als „Heimatliteratur“ bezeichnet wird. Als Schlüsselbegriff darin erscheint das Wort „Heimat“; und es existieren in der Romanliteratur viele Bücher, worin der Autor oder die Autorin es umkreist.

In Agnes Günthers Roman „Die Heilige und ihr Narr“ reflektiert Graf Thorstein:

Wer eine solche Heimat hat wie ich, die so vielen lebendigen Herzen einst das Höchste war, … der darf sie nicht verlassen, ihr nicht untreu werden, muß an seinem Teil und so gut er es kann, sorgen, daß die, die nach ihm kommen, das köstliche Gut bekommen, das ihm die Alten hinterlassen. … Und wenn ich zwischen den Vorortbahnen und ihren hundert Lichtern und dem Menschengewühl der armen Heimatlosen im Berliner Norden herumstieg, haben sie an mein Herz gestoßen, daß es mir klar wurde, warum die so ruhelos sind, so verbittert, so unstät, so pflichtlos oft. Weil das deutsche Herz nach einer Heimat schreit. Hat es keine mehr, an der noch die Sitten, die Taten, die Leiden der Alten hängen, so muß es suchen gehen und wird unruhig und füllt sich mit allerhand, was es hin und her reißt und nimmer satt werden läßt. (22 f.)

Thorstein hat in seiner Umgebung auch den Spottnamen „der Ruinengraf“, weil sein Schloß nach einem Brand nur noch als Ruine existiert, in der er provisorisch haust. Er bemüht sich, die Ruine zu beseitigen und ein neues Domizil zu errichten: „Und ich baue sie wieder auf, meine Heimat.“ (S. 23)

Deutlich wird, daß hier von der Autorin eine Ideologie eingespeist wird. Erzeugt werden soll das Bewußtsein der Abhängigkeit von der Heimat, die Einsicht in ihre Unentbehrlichkeit. Ideologisch ist schon die Wendung „das deutsche Herz schreit …“ – „schreit“ nicht ein irisches, polnisches, tschechisches, serbisches Herz ebenfalls nach Heimat? Auch führt der Begriff „Heimat“ offen oder verdeckt zwei kontrastive Vorstellungen mit sich: (1) Wenn man Heimat sucht, finde man sie am besten in der Landschaft, fern dem „Menschengewühl“ der Großstadt; und (2) man tue gut daran, die Nähe der „Heimatlosen“ zu meiden und sich nicht mit ihnen zu verbünden. Die Verfasserin läßt durch einen Geheimrat verdeutlichen, was man sich unter den Heimatlosen vorzustellen hätte: ← 19 | 20 →

Es gibt in jedem Stand vornehme Seelen, – wobei ich allerdings sagen muß, daß mir unter der modernen Arbeiterbevölkerung, so wie sie sich jetzt heimatlos in großen Städten herumtreibt, noch nie eine begegnet ist. (214)

Der Sprecher selber relativiert seine Aussage zwar, es sei wohl seine „Erfahrung beschränkt“ und ihm „vielleicht zu wenig gelungen, mich in diese Denkungsweise hineinzufinden“ (215) – doch die einmal ausgesprochene antiproletarische Konfession ist damit nicht eliminiert.

Kritik an der Heimatliteratur zu üben, bedeutet keinesfalls, die Liebe zur Heimat, wie sie jedem Individuum gegeben ist, und seine Anhänglichkeit für die Stadt, die Landschaft, die Region, der es entstammt, herabzusetzen. Die Ablehnung der Verklärung von „Heimat“ trifft vielmehr ausschließlich deren Verhältnis zu den übrigen Werten, insofern das „Teilsystem ‚Heimat‘“ über „andere, allgemeinere Wertbegriffe“ gestellt wird (Wegener, 53–62).

Erst dann ist die Verwendung des Lexems ideologisch, wenn es an die Spitze aller Werte katapultiert erscheint.

Therapeutica

Muß die Bezeichnung eines literarischen Werks als „trivial“, auch „banal“, oder seine Zuordnung zur Massenliteratur bedeuten, daß ihm die künstlerische Qualität abgehe? –

Bei Betrachtung der Belletristik, die verdächtigt wird, ‚trivial‘ zu sein, werden leicht zwei Forschungsfragen durcheinander geworfen, die strikt getrennt bleiben sollten:

Liegt überhaupt ein Kunstwerk vor, ein geglücktes Kunstwerk?
Liegt ein Kunstwerk hohen oder niederen Ranges vor?

Was die erste Frage betrifft, macht sich Christa Bürger eine Forderung von Bausinger zu eigen, es müßten „Maßstäbe“ gefunden werden, „um das gelungene Kunstwerk vom weniger gelungenen zu unterscheiden“ (S. 7).

Die zweite Frage ist die nach dem ästhetischen Rang. Hier geht es mit Marianne Thalmann darum, eine „Ästhetik des Trivialen“ zu entwickeln (S. 12). Eine brauchbare Vorarbeit dafür leistete Nutz. Er stellte eine Übersicht der „Formen“ des Trivialromans auf mit einem Register seiner wesentlichen Merkmale in fünf Punkten (S. 23–69).

Wenn die zweite Frage – ästhetischer Rang? – sich eng mit dem Problem der Abgrenzung von Hoch- und Trivialliteratur verbindet, verbindet sich die erste – geglücktes Kunstwerk? – eng mit dem Problem der Wirkungsweise von ← 20 | 21 → Trivialliteratur. Schenda folgend, könnte man behaupten, daß die Autoren wirkungsvoller Bücher „teils therapeutisch, beruhigend operieren …“ (203).

Zumindest „beruhigend“ operiert Agnes Günther in dem eben bereits zitierten Roman: Wer sich nicht zu den „Heimatlosen“ stellt, kann „Heimat“ haben und behalten. Wer diese durch Brand verlor, vermag sie wiederzuerbauen. Infiltration (rational): der Leserschaft den Heimatbegriff einprägen; Beruhigung (emotional): Wunscherfüllung – die Suggestion, daß Heimat in Reichweite wäre. Man darf ihr nur nicht untreu werden, muß beständig an ihr hängen. Mit alledem gehört „Heimat“ partiell der Symbolik des Unbewußten an; wer „Heimat“ sagt, fühlt häufig: ‚Mutter‘. Doch ebenso kann ein Autor ganz bewußt die Verschmelzung beider aussagen. Ein Sohn ist Zeuge des Todes seiner Mutter, und im Text heißt es in paradoxer Kommentierung: „Johannes begriff, daß er jetzt mit der Mutter die Heimat verlieren werde, aber er wußte auch, daß beide unverlierbar sein blieben.“ (Langewiesche, 2,276)

Wäre nun eine Therapie vermittels Dichtung möglich, wäre Therapierung angezeigt, so müßte die Voraussetzung lauten: Die Leserschaft sei nicht vollkommen gesund; leide vielleicht unter Zuständen der Unruhe, erweise sich etwa als übermäßig ängstlich. Hodeige meinte, es sei ein besonderer Teil der Leserschaft, „der Massenmensch“, der von seinem Lesestoff die „Erlösung“ erhoffe: „Der Kitsch-Konsument ist hauptsächlich der erlösungsbedürftige Massenmensch.“ (221) Kitsch als Therapeuticum, als Psychopharmakon, in religiöser Terminologie: „Erlösung“, sollte man ihn so einschätzen? – Wer dies entsprechend für die Trivialliteratur bestätigen wollte, müßte eine literaturpsychologische Analyse vorwegschicken.

Literaturpsychologische Aperçus sind in der Forschung gelegentlich ins Spiel gebracht worden, auch wenn die Autoren meistens auf eine literaturpsychologische Methodik insgesamt verzichten. Nutz erwähnte den „ungeheuren Anteil literarischer Erzeugnisse, der eindeutig auf die Wünsche der Leser eingeht, der ihn nicht zu erschüttern oder aufzurütteln versucht, der sich ganz dem Wunschdenken seiner Leser anschmiegt und der sich ihm und seinem Geschmack anpaßt“ (18). Auch sonst finden sich in der Forschung Angaben nicht selten, wonach die Lektüre des trivialen Romans einer „Wunschtraumbefriedigung“ gleichkomme; es sei eine „Vielfalt der Bedürfnisse, die durch den Trivialroman eine Ersatzbefriedigung erfahren …“ (Dorothee Bayer, 166 f.).4 Mit alledem mangle der Unterhaltungsliteratur jedenfalls nicht der „Realitätssinn“, notierte Reincke. ← 21 | 22 → Dieser allerdings sehr wohl bei Abbildung der wirklichen Verhältnisse, doch aber nicht in bezug auf das Bedürfnisniveau der lesenden Mehrheit (415).

Danach ließe sich schon einmal die Antithese erwägen:

Hochliteratur – die erschüttert oder aufrüttelt /
Trivialliteratur – die sich „dem Wunschdenken“ der Leserschaft „anschmiegt“.

In dieser Weise versuchte Nutz, mit Heranziehung der – tatsächlichen oder vermuteten – Psychologie des Lesepublikums Kategorien zur Beurteilung der Hoch- und Trivialliteratur zu gewinnen. Ein Unterhaltungsroman, der das „Wunschdenken“ von Leserinnen und Lesern vernachlässigte, würde dann umstandlos unter die mißglückten Werke zu rechnen sein.

Neben der Leserpsychologie fiele bei der Untersuchung der Wirkungsweise außerdem der Autorpsychologie eine gravierende Rolle zu. Marianne Thalmann berief sich auf Rudolf Hayms Wort, „der in seinem Standardwerk ‚Die romantische Schule‘ von ‚einer Krankheit der Seele‘ ausgeht, die ‚seiner (Tiecks) Phantasie den Stoff aufnötigte‘“ (19). Hayms Erkenntnis läßt sich verallgemeinern. Man könnte variierend davon sprechen, daß bei jeder Produktion einer Dichtung die seelische Konstitution des Dichters (und sofern eine psychische Krankheit diagnostizierbar wäre, auch diese) auf den Gehalt und die Gestalt seiner Schöpfung, angefangen gleich schon bei der Stoffwahl, einwirke. Die Einwirkung wäre allerdings stets eine vermittelte, weil als Zwischenglied zwischen seelischer Konstitution und Werkstruktur die Phantasiestruktur anzunehmen ist. Die Reihe lautet mithin:

Details

Seiten
492
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653060676
ISBN (ePUB)
9783653997828
ISBN (MOBI)
9783653997811
ISBN (Hardcover)
9783631633120
DOI
10.3726/978-3-653-06067-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Zeitroman (historischer, gesellschafts-, politischer-) Liebesroman Abenteuerroman Frauenroman
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 492 S.

Biographische Angaben

Wolfgang Beutin (Autor:in)

Wolfgang Beutin war seit 1971 Universitätsdozent an der Universität Hamburg, Gastprofessor an der Universität Göttingen, Gastdozent an den Universitäten Oldenburg und Lüneburg und ist Privatdozent an der Universität Bremen. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit veröffentlicht er auch Hörspiele, Romane und Erzählungen.

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Titel: Mechanismen der Trivialliteratur
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