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Friedrich Theodor Vischer und Italien

Die erlebte Ästhetik eines Augenmenschen

von Francesca Iannelli (Autor:in)
Monographie 307 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin rekonstruiert die leidenschaftliche Beziehung Friedrich Theodor Vischers (1807–1887) zu Italien im Kontext der Italienreisen seiner Vorgänger, Goethe und Winckelmann, und Nachfolger, Nietzsche und Freud. Die ästhetischen Schriften und die Briefwechsel, besonders mit Strauß und Benelli (zum ersten Mal untersucht und publiziert), geben Aufschluss über den Kunstsinn dieses unersättlichen Augenmenschen. Seine erlebte Ästhetik, die aus einer täglichen Kunstrezeption und zahlreichen Italienreisen erwuchs, war die verborgene Inspirationsquelle für die berühmte Einfühlungstheorie seines Sohnes Robert. Die Überzeugung, dass die Bilder ewige Macht besitzen und dass eine symbolische Kunstrezeption möglich ist, ist sein wichtigstes Erbe in der unruhigen Zeit des iconic turn.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Kapitel 1: Vischer und Italien: Eine Liebesgeschichte und andere Phantome
  • 1.1 Friedrich Theodor Vischer: Ein ruheloser Ästhetiker
  • 1.2 Zwei berühmte Vorgänger Vischers in Italien: Winckelmann und Goethe
  • 1.3 Der Bahnbrecher, der Forscher, der Epigone und ein Italien im Wandel
  • 1.4 Goethe, Vischer und der Geist des Realismus
  • 1.5 Der Norden als Ort der Verbannung und die Flucht nach Venedig
  • 1.6 Sehen und Sammeln: Augenmenschen in Italien
  • 1.7 Von den wirklichen Reisen zur erzählten Reise in Auch Einer
  • Kapitel 2: Freundschaft, Poesie, Politik und andere Dissonanzen
  • 2.1 Italien in Vischers Briefen
  • 2.2 Sprachliche und emotionale Entfremdung
  • 2.3 Der Briefwechsel mit dem italienischen Freund aus Zürich
  • 2.4 Poesie und dichterische Übersetzung im Briefwechsel zwischen Benelli und Vischer
  • 2.5 Benelli, Widmann und Vischer
  • 2.6 Politik und Antiklerikalismus
  • 2.7 Dissonanzen und Grausamkeit: das umgekehrte Ideal
  • 2.8 Eine mangelhafte Rezeption
  • Kapitel 3: Über ‚Hegels‘ System hinaus. Zukunft der Kunst in der Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer und Francesco De Sanctis
  • 3.1 Hegelsche Nachklänge in Italien
  • 3.2 Über die strengen Grenzen des hegelschen Systems hinaus
  • 3.3 Allein in der Welt: Vischer in Zürich; allein außerhalb der Welt: De Sanctis in Zürich
  • 3.4 Vischer und De Sanctis: eine Gegenüberstellung von zwei kritischen Hegelianern
  • 3.5 De Sanctis versus Vischer oder: „Laura ist kein Kristall“
  • 3.6 Lang lebe die Kunst!
  • 3.7 Über (welchen) Hegel hinaus?
  • Kapitel 4: Die italienische Kunst und die Macht der Bilder
  • 4.1 Die erste Begegnung mit der italienischen Kunst auf der Magisterreise
  • 4.2 „Alles Bild entzückte mich“ bzw. die Malerei: eine alte Leidenschaft
  • 4.3 Kunst und Religion: eine vergangene Verknüpfung
  • 4.4 Ästhetik, Kunstgeschichte und Kunstproduktion: eine fruchtbare Allianz für die desorientierte deutsche Gegenwartkunst
  • 4.5 Der plastisch malerische Stil der Italiener: von Cimabue bis Raphael und darüber hinaus
  • 4.6 Erlebte Ästhetik: Vischer, die Sixtinische Madonna und das „Frühlingskind“
  • 4.7 Raphael, Tizian und wir: die ewige Macht der Bilder
  • 4.8 Friedrich Theodor Vischer: Reisender, Ästhetiker, Augenmensch. Versuch einer Bilanz
  • Anhang: Unter den hundertjährigen Linden von Tübingen
  • Bibliographie
  • Personenregister
  • Ortsverzeichnis
  • Sachverzeichnis

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Vorwort

„Ich philosophiere gern, bin aber kein Philosoph. Meine Gedanken gehen zu schnell.“

Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer

Dieses Buch will kein weiterer Beitrag zur Überfülle der Reiseliteratur sein, sondern vielmehr einen Blick auf einen eklektischen Philosophen werfen, der nicht nur im Deutschland des 19. Jahrhunderts bedeutenden Einfluss hatte, sondern auch im 20. Jahrhundert anerkannten Philosophen und Gelehrten, von Aby Warburg bis Walter Benjamin, wichtige Impulse vermittelte1. Wie wenige andere hat Friedrich Theodor Vischer ein Jahrhundert erlebt, das entscheidend für die Geschichte der Philosophie, der Literatur und der Ästhetik war. Tatsächlich finden sich in seinem Leben in verdichteter Form die Widersprüche des deutschen 19. Jahrhunderts, das mit einem starken Bedürfnis nach Systematik begann und in Ungewissheit endete. Aus dem Jahr 1800 stammt das sogenannte Systemfragment von Hegel, in dem der aporetische Charakter der Religion erscheint2, während Freuds Traumdeutung schon im November 1899 fertig war, aber auf das Jahr 1900 vordatiert wurde, um der Veröffentlichung mehr Emphase zu verleihen. Mit der Erforschung des Traumlebens und der scheinbaren Ungereimtheiten, die sich in den Träumen verbergen, schließt Freud ein unruhiges Jahrhundert ab, um den Anstoß für eine – noch andauernde – Forschung zu geben, die unsere authentische Dimension erkunden will. Das Werk Vischers, der in der Mitte zwischen bahnbrechenden Figuren, den Säulen der klassischen deutschen Philosophie wie Schelling und Hegel auf der einen Seite und den Meistern des Verdachts, Nietzsche und Freud, auf der anderen Seite steht, wirft ← 13 | 14 → überraschenderweise viele Fragen auf, die es mit der Gedankenwelt der einen wie der anderen gemein hat3.

Dieses Buch möchte also eine dankbare Hommage an eine Figur des 19. Jahrhunderts sein, die dessen doppelte Seele, die systematische und die zerrissene, in perfekter Synthese widerspiegelt. Denn, wenn Hobsbawm zu Recht das 20. Jahrhundert als ein kurzes definiert hat, das spät begonnen und sich zu unerhörten Gipfeln der Gewalt aufgeschwungen hat4, so war das 19. das lange Jahrhundert der Erschütterung, in dem nichts mehr beständig und definiert war wie früher, weder die sozialen Schichten der von der Revolution umgewälzten Gesellschaft, noch die nationalen Grenzen oder die jahrhundertealte Institution des Kirchenstaats5. Das Gleichgewicht schwankt zwischen dem Alten und dem Neuen, und mit dem Auftreten neuer sozialer Subjekte, der Verbreitung der Ideen von Freiheit und Demokratie und mit dem wachsenden Bedürfnis nach Anerkennung der persönlichen Rechte bleiben zugleich viele von den alten Gespenstern am Leben. Friedrich Theodor Vischer macht am eigenen Leib die Erfahrung, wie schwer es ist, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. Er wird 1807 geboren, in dem Jahr, in dem Hegel die Phänomenologie des Geistes, sein Hauptwerk, veröffentlicht, und Hegel bekommt die Geburtswehen der Moderne deutlich zu spüren. Der Beginn des 19. Jahrhunderts ist die schwierige Zeit der Zersplitterung, auf die Hegel mit der bewundernswerten Konstruktion eines Systems reagiert, das kurz nach seinem plötzlichen Tod im Jahre 1831 keinen Sinn mehr haben wird. Vischer lebt die Qual des Epigonen, er versucht, eine sich schnell verändernde Welt zu verstehen und zwängt sie in das enge Netz eines ← 14 | 15 → in Auflösung befindlichen Systems. Er bemüht sich, Hegelianer zu sein in einer Zeit, die weder hegelianisch sein kann noch sein will. Aber wenn Vischer nur ein treuer nostalgischer Schüler eines großen Meisters gewesen wäre, hätte man ihn mit Recht vergessen dürfen. Sein Leben und seine Philosophie waren jedoch viel mehr. Der Mut zur Selbstkritik und der schmerzliche, aber bewusste Abschied vom System im Jahr 1857, die Offenheit für neu entstehende Disziplinen und die Sensibilität bei der Suche nach einem neuen Blick auf die wechselhafte Wirklichkeit, die ihn umgab, machen sein Denken beispielhaft für ein Jahrhundert, das es in seiner tiefen Doppeldeutigkeit zu überdenken und zu begreifen gilt. ← 15 | 16 →


1 Man denke an Warburgs Lektüre von Vischers Aufsatz über Das Symbol und an Benjamins Passagen-Werk, wo Benjamin Vischer für einen der wichtigsten Modetheoretiker der bürgerlichen Welt hält. Cf. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: Id.: Gesammelte Schriften, Bd. V. Hrsg. von Tiedemann, Rolf. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1982, S. 114–115.

2 Siehe dazu Finelli, Roberto: Mythos und Kritik der Formen. Die Jugend Hegels (1770–1803). Peter Lang: Frankfurt a.M. et al. 2000. Zhang, Shen: Hegels Übergang zum System: Eine Untersuchung zum sogenannten „Systemfragment von 1800“. Hegel-Studien, Beiheft 32, Bouvier: Bonn 1991. Bodei, Remo: Sistema ed epoca in Hegel. Il Mulino: Bologna 1975.

3 Dass der Übergang zum 20. Jahrhundert kein abrupter „Bruch“, sondern vielmehr ein „Prozess“ ist, hat Sandra Richter beispielhaft dargelegt. Richter, Sandra: „Den neuen Glauben dichten. Louise von Salomés unbekannte Briefe an Friedrich Theodor Vischer. Mit einem Abdruck der Originaltexte“. Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte 104, 2010, S. 17–41, hier S. 19. Lou Salomé kann als Verbindungsglied gesehen werden zwischen der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in der Vischer eine herausragende Rolle spielt, und den geistigen Revolutionen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zu denen Freud einen bedeutenden Beitrag leistet. Salomé wendet sich an beide, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg: dem ersten schreibt sie, ohne je eine Antwort zu erhalten, von dem zweiten dagegen wird sie viel lernen. Cf. Andreas-Salomé, Lou: Mein Danke an Freud. Offener Brief an Professor Freud zu seinem 75. Geburtstag. Internationaler Psychoanalytischer Verlag: Wien 1931.

4 Hobsbawn, Eric J.: The Age of Extremes: The Short Twentieth Century, 1914–1991. Michael Joseph: London 1994.

5 Lupo, Salvatore: Il passato del nostro presente: il lungo Ottocento, 1776–1913. Laterza: Roma / Bari 2010.

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Danksagung

Der Gedanke, dieses Buch zu schreiben, ist im Sommer 2010 bei einem durch ein C. H. Beck Stipendium finanzierten Forschungsaufenthalt am DLA Marbach gereift. Ich habe mich in den letzten Jahren mehrfach mit Vischer auseinandergesetzt und bei vielen Gelegenheiten Vorträge über seine Ästhetik gehalten und meine Forschungsergebnisse an verschiedenen Stellen veröffentlicht. Entscheidend für den Abschluss dieser Arbeit war der Forschungsaufenthalt an der Humboldt-Universität, der mir durch ein DAAD Stipendium als Mittner-Preisträgerin für die Philosophie 2014 ermöglicht wurde. Für wertvolle Hinweise und Empfehlungen sowie für die Unterstützung und Ermutigung während all dieser Jahre danke ich Prof. Dr. Horst Bredekamp (Humboldt-Universität zu Berlin), Prof. Dr. Paolo D’Angelo (Università degli Studi Roma Tre), Prof. Dr. Michael Diers (Humboldt-Universität zu Berlin), Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Humboldt-Universität Berlin), Prof. Dr. Marcel Lepper (DLA Marbach), Prof. Dr. Nesselrath (Humboldt-Universität zu Berlin/ Vatikanische Museen), Prof. Dr. Sandra Richter (Universität Stuttgart), Prof. Dr. Klaus Vieweg (Friedrich-Schiller-Universität Jena). Frau Professor (em.) Annemarie Gethmann-Siefert schulde ich herzlichen Dank dafür, dass sie mein Interesse an der vischerschen Philosophie vor vielen Jahren geweckt hat. Ich danke Dr. Dorothee Hock der Casa di Goethe in Rom, Dr. Margrit Röder, Sammlungskuratorin des Ludwigsburger Museums, Dr. Robert Dünki des Züricher Stadtarchivs und Dr. Max Schultheiss, Bereichsleiter der Archivierung und Recherche des Züricher Stadtarchivs, Dr. Helmuth Mojem und Dr. Regina Cerfontaine (DLA Marbach), Anna-Elisabeth Bruckhaus und Ulrike Mehringer der Universitätsbibliothek Tübingen und den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen für die nützlichen Informationen, die sie mir großzügig haben zukommen lassen. Die Briefe Francesco Leopoldo Benellis an Friedrich Theodor Vischer und dessen Briefe an seinen Sohn Robert sind bislang unveröffentlicht, die Wiedergabe der Zitate und die Edition der Briefe Benellis im Anhang des vorliegenden Buches erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Literaturarchivs Marbach und der Universitätsbibliothek Tübingen. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Freundin Maria Böhmer.

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Kapitel 1: Vischer und Italien: Eine Liebesgeschichte und andere Phantome

1.1  Friedrich Theodor Vischer: Ein ruheloser Ästhetiker

„Ja, ich möchte die Bücher an die Wand werfen, ein paar Jahre nichts als zeichnen, nach Italien gehen“1, so schreibt der junge Friedrich Theodor Vischer in einem Brief an seinen Freund Ernst Rapp2. Es ist der 21. September 1836, Vischer hat kurz zuvor am Tübinger Stift zwei Vorlesungszyklen mit Erfolg abgeschlossen: über Faust und über die Geschichte der deutschen Poesie von der Reformation bis zur Gegenwart. Nur zwei Monate später, genauer am 24. November 1836, wird die Disputation seiner Habilitationsschrift Über das Erhabene und das Komische stattfinden, in der er eine dynamische und unstabile Auffassung der Schönheit vertritt, einer vom Erhabenen und vom Komischen angehauchten Schönheit. Als er dann kurz darauf, im Februar 1837 von der Universität Tübingen seine Ernennung zum Professor für Ästhetik und Literaturgeschichte erhält, wodurch seine Existenz in feste Bahnen gelenkt wird, fühlt er sich, kaum dreißigjährig, in einen eisernen Käfig der Abstraktion verdammt, in dem nur ein halbes, klaustrophobisches Leben möglich ist. Aus den an den Freund Rapp, an Mörike und David Friedrich Strauß gerichteten Briefen jener Jahre lassen sich wichtige Hinweise auf eine tiefe Frustration entnehmen. Vischer ist sich bewusst, eine „versteckte Natur“3 in sich zu haben und über eine künstlerische Empfindungsgabe und eine poetische Berufung zu verfügen, die nicht zum Ausdruck kommen würden, wenn seine akademische Laufbahn ihn auf die reine Theorie festnagelte. In einem Brief an Rapp vom 6. Januar 1837 erzählt er, dass er als Kind „ein Maler oder ein Hanswurst“4 werden wollte, während er im Frühsommer 1838 an Strauß schreibt, dass ihm „das reine Reiben der Metaphysik“ absolut nicht liege5 und dass die glücklichsten Momente seines Lebens nicht die „des Denkens“, sondern die „der Phantasie“ seien. Die Philosophie der Kunst, ← 19 | 20 → die ästhetische Reflexion über Dichtung und Kunst könnten ihm nie völlig die Freude ersetzen, die ihm aus der Kunst und der Dichtung unmittelbar erwachse6.

„Ich bin ein Zwitter zwischen Philosophie und Poesie“7, schreibt er mit Emphase an Strauß und erklärt, dass seine Philosophie sich aus dem Leben, der Kunst und dem direkten Kontakt mit der Wirklichkeit speise: „Meine Philosophie ist nichts als ein Vogelmagen, der Sand, nämlich Stoff, zum Vermahlen haben will“.8 Diese Nahrung für seine Gedanken wird Vischer vor allem auf Reisen finden, und besonders Italien sollte ihm zahllose Anlässe bieten, sich als Wissenschaftler und als Mensch zu bereichern. Der alte, reife Vischer wird bei verschiedenen Gelegenheiten daran erinnern, wie mangelhaft seine künstlerische und ästhetische Bildung war, bevor er zum ersten Mal nach Italien kam. Obwohl er im Februar 1839 im Briefwechsel mit Strauß den festen Vorsatz äußerte, im Sommer „eifrig“ „die Sprache, Geschichte Italiens, Kunstgeschichte, Reisebeschreibungen“9 zu studieren, machte er sich mit sehr vagen Vorstellungen von den Kunstschätzen auf den Weg, die Italien ihm enthüllen sollte. Sein Leitfaden war in erster Linie das Handbuch der Geschichte der Malerei in Italien seit Constantin dem Großen (1837) von Franz Theodor Kugler (1808–1858) und das Handbuch der Archäologie der Kunst (1830; zweite Ausgabe 1835) von Karl Ottfried Müller (1797–1840), aus denen er einen Überblick über die Malerei und die Archäologie gewann. Wie er jedoch selbst zugab, waren die bedeutendsten Vertreter der vor-raffaelischen Schule für ihn nur abstrakte Namen10. Aber vor allem fühlte der junge Vischer sich hin- und hergerissen zwischen zwei gegensätzlichen Tendenzen: „Amphibium zwischen Idealismus und Realismus“11. Auf der einen Seite war er vom hegelschen Idealismus durchdrungen, in den er sich in Horrheim (bei Maulbronn) und Berlin mit voller Leidenschaft gestürzt ← 20 | 21 → hatte12, andererseits neigte sein innerstes Wesen dazu, die Wirklichkeit mit größter Aufmerksamkeit und Empfindung zu betrachten: „diese geht auf Form und Darstellung, nicht auf bloßen Begriff.“13

In dieser inneren Zerrissenheit unternahm Vischer von August 1839 bis Oktober 1840 eine lange Reise, die ihn durch Italien und Griechenland führte. Es handelte sich sicher um eine Kunstreise im Sinne der Bildungsreise mit dem Ziel, seine kulturellen und künstlerischen Kenntnisse im direkten Kontakt mit den Orten der Antike zu erweitern, aber es war vor allem eine Reise der Seele, um sein wirkliches Wesen zu erkunden, wie Goethe es vor ihm gemacht hatte. „Ich darf wohl sagen: ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? – Als Künstler!“14, so hatte der große Dichter an Herzog Carl August geschrieben und um die Entbindung von jeglicher politischen Aufgabe gebeten, einen Monat bevor er im März 1788 Rom verließ. Vischer dagegen sollte nicht mit dem Bewusstsein aus Italien zurückkehren, ein Künstler zu sein, sondern in der Überzeugung, es niemals ganz sein zu können. Er wird seine Spaltung – zwischen Dichter und Philosoph, Künstler und Theoretiker – als Bereicherung akzeptieren, nachdem er einmal zu dem Schluss gekommen ist, dass jeder Künstler immer mehr Mensch ist als ein Philosoph, auch wenn die Kunst ohne Philosophie nicht auskommt. Eine perfekte Synthese dieser Auffassung gibt der Brief vom 7. Juni 1846 an Strauß wieder, aus dem hervorgeht, dass Vischer das Zwitterhafte seines Wesens voll bewusst war, was viel eher unserer Zeit der ständigen interdisziplinären Überschneidungen entspricht als seiner eigenen. Er schreibt dem Freund: „Der Künstler sei ein ganzer Mensch als der Philosoph. Gut, aber kann man nicht etwa so sagen: Philosophie ist mehr als Kunst, aber der Philosoph weniger Mensch als der Künstler?“15

Aus diesen Fragestellungen ist deutlich das Echo der Hegelschule herauszuhören: die lebhaften Auseinandersetzungen über das angemessene Verhältnis von ← 21 | 22 → Kunst, Religion und Philosophie sollte einige Jahrzehnte später Benedetto Croce in seiner berühmten Ästhetik von 1902 zu den spöttischen Worten veranlassen:

Die Umsetzung dieser drei Stufen: Kunst, Religion und Philosophie, die man bald in der einen, bald in der anderen Reihenfolge ordnete, war in jenen Tagen eine Sache, auf welche die allergrößte Arbeit verwendet wurde. Man hat bemerkt, daß von den sechs möglichen Kombinationen dieser drei Ausdrücke vier tatsächlich versucht wurden. Schelling war für die Reihenfolge Philosophie, Religion, Kunst; Hegel für Kunst, Religion, Philosophie; Weiße für Philosophie, Kunst, Religion und Vischer für Religion, Kunst, Philosophie. Nachdem aber Vischer selbst die Meinung Wirths zitiert, der ein System der Ethik verfaßt hatte und darin für die Anordnung Religion, Philosophie, Kunst eingetreten war, so ergibt sich, daß nur noch eine einzige Kombination übrig ist, die nicht verwendet und daher noch verfügbar ist, nämlich Kunst, Philosophie, Religion, falls sich nicht irgend ein unbekanntes Genie ihrer bereits bemächtigt haben sollte, was uns durchaus wahrscheinlich vorkommt16.

Tatsächlich war für Vischer das Verhältnis dieser Disziplinen mit ihren wechselseitigen Bezügen etwas mehr als ein Spiel auf dem Schachbrett des Verstandes. Vischer spürte die Tendenz zur Zersplitterung, die der menschlichen Natur eigen ist und erkannte, dass die Gelehrten dazu neigen, ihre Körperlichkeit zu vergessen17. Wenn also die Philosophie als Disziplin übergeordnet und dominierend erscheinen konnte, so blieb der Philosoph als Individuum nach Vischers Auffassung hinter dem Künstler zurück. Dass er selbst nie ganz das eine oder das andere sein würde, macht eine Stelle aus einem Brief seines Freundes Strauß deutlich, in dem Vischer als „ein wissenschaftlicher Künstler“18 bezeichnet wird, der die Kunst „wissenschaftlich“ betrachtet, während Strauß sich selbst „künstlerischer Wissenschaftler“ nennt, der wissenschaftliche Themen auf künstlerische Weise behandeln kann. Nicht von ungefähr sollte Vischer ein anerkannter Ästhetiker werden, der eine monumentale Abhandlung in 6 Bänden mit dem Titel Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–1857) verfasste, mit der er nie ganz zufrieden sein würde19, was ihn als ruhelosen Geist einer unruhigen ← 22 | 23 → jungen Wissenschaft wie der Ästhetik erwies, die zu dem Zeitpunkt, als Vischer schrieb, kaum 100 Jahre alt war: „so muß man gestehen: die Ästhetik ist noch in den Anfängen20.

Mit seinen Schriften lieferte Vischer einen bedeutenden Beitrag zur Ausformung der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Seine Studien – gespalten zwischen einer Metaphysik des Schönen und deren Ablehnung, was ihn nach 1857 zu einer Psychologie des Schönen führte – bleiben beispielhaft für eine epigonale Zeit, die versucht, sich von dem schwierigen Erbe des hegelschen Systems freizumachen, um sich neuen Erfahrungen zu öffnen. Dabei darf die persönliche Geschichte Vischers nicht übersehen werden, der als Sohn eines Archidiakons, der im Tübinger Stift erzogen und anschließend zum Vikar wurde, nahezu alle seine Kräfte einer Disziplin wie der Ästhetik widmete, die keine fest umrissenen Grenzen hatte, in gewisser Weise grenzenlos war. Seine berühmte Akademischen Rede zum Antritte des Ordinariats am 21. November 1844 behandelt die Ästhetik als weit gefasste Wissenschaft des Schönen: „Die Wissenschaft der Ästhetik“ ist nämlich als „ein integrierendes Glied im Kreise der akademischen Wissenschaften“21 vorgestellt, eine Art Kulturphilosophie, die ihre Herrschaft nach allen Seiten ausdehnt und bald zum Kreuzungspunkt von Philosophie und Naturwissenschaft werden wird. ← 23 | 24 →

Man kann wirklich sagen, das Problem des wahren Verhältnisses zwischen Philosophie und Naturwissenschaft springe gerade in der Ästhetik mit seiner ganzen unendlichen Schwierigkeit hervor. Wo ist die Grenze? Wieviel kann die Ästhetik von der Naturforschung lernen und wo hört dies Lernen auf und beginnt Beweisführung aus rein inneren Gründen?22

Diesen Weg einzuschlagen, der sich zunächst entschieden an der Kunst, der Schönheit in all ihren Formen und später an der symbolischen Bedeutung des Bildes und ihrer einfühlenden Rezeption ausrichtete, war durchaus revolutionär und ließ das eklektische Wesen Vischers erkennen23, das sich in einem Bereich voll entfalten sollte, den er mit dreißig Jahren für einen schmerzlichen Kompromiss gehalten hatte, der sich aber später als der „Mittelpunkt“ seiner Studien erweisen sollte24. Vischer selbst war sich über die durchlässigen Grenzen seiner ästhetischen Untersuchungen völlig im Klaren. In seiner Kritik meiner Aesthetik stellt er 1866–1873 die zahllosen Einwirkungen und Anregungen fest, die er von der Physik, der Psychologie, der Physiognomie und der Mimik übergenommen hatte, und er erfasste die fließende, magmatische Natur einer aufstrebenden Disziplin, die im 20. Jahrhundert eine bedeutende Entfaltung erfahren sollte und die uns heute noch erstaunt. Aber es handelte sich um eine Forschung ohne Ende, die in den Augen Vischers nie das angestrebte Ziel erreichte. „Immer deutlicher wird, wie dunkel noch so Vieles ist“25, schreibt er im Alter in der Kritik, ohne zu versuchen, ein Gefühl der Ratlosigkeit zu verbergen, das nicht nur ihn persönlich, sondern eine ganze Epoche betraf.

1.2  Zwei berühmte Vorgänger Vischers in Italien: Winckelmann und Goethe

Als Friedrich Theodor Vischer 1839 seine erste Italienreise unternahm, war es sicher unmöglich, sich Italien zuzuwenden, ohne sich mit dem Erbe Winckelmanns und Goethes auseinanderzusetzen26. Winckelmann hatte die kulturelle Bedeutung der Italienreise für jeden europäischen Künstler oder jungen Gelehrten, ← 24 | 25 → der sich harmonisch entwickeln wollte, hervorgehoben27. Goethe hatte durch die Reise die persönliche Erfahrung von Flucht und Wiedergeburt gemacht, nachdem er sich darüber klar geworden war, dass die politische Wirklichkeit in Weimar eine humanistische Vollendung unmöglich machte28. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass in dem Moment, als Goethe die Italienische Reise in den Druck gab29, bereits mehrere Jahrzehnte seit seinem tatsächlichen Italienaufenthalt in den Jahren 1786–1788 verstrichen waren. Außerdem hatte Goethe seinerseits seit seiner Leipziger Studienzeit im Leben und in der Persönlichkeit Winckelmanns ein glänzendes Beispiel gesehen30. Er nahm dessen ästhetische ← 25 | 26 → Studien zum Ausgangspunkt für seine eigenen Überlegungen31. Kaum in Rom angekommen, hatte Goethe sich die von Carlo Fea besorgte italienische Ausgabe der Geschichte der Kunst des Altertums (1764) verschafft und sich den einfühlsamen Blick Winckelmanns für die verschiedenen Stile der verschiedenen Völker, zu eigen gemacht32. Aber obwohl er die Kunstwerke der Ewigen Stadt mit Winckelmanns Augen sah33, behielt er eine gewisse Freiheit der Interpretation bei34 ← 26 | 27 → und übernahm das Erbe35 und das künstlerische Urteil Winckelmanns nie auf eine sklavische Weise36.

Ein Grund dafür ist, dass das Italien Winckelmanns (1755–1768) nicht das Italien war, das Goethe auf seiner Reise zwischen 1813 und 1829 kennengelernt und geschildert hat. Goethe selbst hat als erster Abstand von Winckelmann genommen, als er für einen Aufsatz von 1805 den Titel wählte: Winckelmann und sein Jahrhundert37. Dieses „sein“ hat viel Anlass zu Diskussionen gegeben. Welches ist das Jahrhundert Winckelmanns, wenn nicht das achtzehnte, aus dem Goethe selbst entstammte? Aber 1805 wird dem Dichter eine Distanz deutlich und er bezeichnet die Epoche Winckelmanns nicht mehr als die eigene38. Die Wahrnehmung der Antike hat sich verändert, so wie auch das geo-politische Gleichgewicht. Wenn wir also auch nur teilweise die Atmosphäre wiederfinden wollen, die zur Zeit Winckelmanns auf den Straßen und Plätzen geherrscht hat, können wir uns nur an die bildende Kunst jener Zeit halten. Ein großartiges Abbild von Winckelmanns Italien liefert uns ein Gemälde von Giovanni Paolo ← 27 | 28 → Panini von 1754 mit dem Titel Die Ausfahrt des Duc de Choiseul auf dem Petersplatz in Rom. Der Künstler hat hier einen feierlichen Moment festgehalten: den Antrittsbesuch des Herzogs Étienne François de Choiseul bei Papst Clemens XIII. Der Herzog wird von einer langen Schlange von Kutschen eskortiert, während er – von Neugierigen jeden Ranges beobachtet – einen der bedeutendsten Plätze der damaligen Zeit überquert, um dem Papst einen Besuch abzustatten, demselben Papst, der Winckelmann zum Aufseher der Altertümer im Kirchenstaat und zum Scrittore an der Vatikanischen Bibliothek ernennen sollte. Das Italien, in dem Winckelmann 1755 eintraf, stand unter der Herrschaft der Päpste und Kardinäle. Der römische Aufenthalt des Gelehrten aus Stendal, der am 11. Juni 1754, noch vor seiner Abreise zum Katholizismus übergetreten war, gibt uns ein deutliches Beispiel dafür. Wie sehr seine Studien der Antike von der Aufgeschlossenheit und dem Mäzenatentum der Päpste abhingen, geht aus einem Brief Winckelmanns an Hieronymus Dietrich Berendis vom Juli 1756 hervor:

Rom ist unerschöpflich, und man macht noch immer neue Entdeckungen, und wenn einmal ein Papst kommen sollte, der mehr Geschmack, mehr Liebe zu dem Altertum hat als dieser [Benedikt XIV.], der nichts tut, als über die ganze Welt lachen und den Charakter eines bouffon auch in einem so hohen Alter noch nicht abgelegt hat, so würden noch Sachen ans Licht kommen können, die besser sind als alles, was wir haben39.

Details

Seiten
307
ISBN (PDF)
9783653066807
ISBN (ePUB)
9783653998108
ISBN (MOBI)
9783653998092
ISBN (Hardcover)
9783631628805
DOI
10.3726/978-3-653-06680-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Italienreise Hegelianismus Raffael-Forschung Kunstgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 307 S.

Biographische Angaben

Francesca Iannelli (Autor:in)

Francesca Iannelli lehrt an der Università Roma Tre. Ihre Forschungsgebiete sind die Philosophie der Kunst des deutschen Idealismus und deren Rezeption sowie die Ästhetik der zeitgenössischen Kunst. Für ihre Forschung wurde sie mit dem Colletti-Preis und dem DAAD Mittner-Preis für Philosophie ausgezeichnet.

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Titel: Friedrich Theodor Vischer und Italien
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