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Beiträge zu einer Geschichte der Translation

Vom Wirken bedeutender Dolmetscher und Übersetzer

von Heidemarie Salevsky (Autor:in) Ina Müller (Autor:in)
©2015 Sammelband XII, 272 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch befasst sich mit bedeutenden Dolmetschern und Übersetzern aus 5000 Jahren auf der Basis umfangreicher Recherchen in Archiven und Bibliotheken. Aus der Geschichte der Translation sind erstmals aufgearbeitet: die Dolmetscher im Alten Testament, die Rolle der Pfortendolmetscher im Osmanischen Reich, die Dolmetschermemoiren über die Kriegserklärung Deutschlands an die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in der Gegenüberstellung mit neuen Dokumenten aus Archiven in Moskau und Washington sowie die Geschichte des Simultandolmetschens in der DDR. Gründlich beleuchten die Autorinnen die Tätigkeit der Russisch-Dolmetscher auf dem Nürnberger Prozess anhand schriftlicher und mündlicher Erinnerungen. Den Abschluss bilden Leben und Wirken der Übersetzer der ersten russischen Ausgabe des Kapitals von Karl Marx.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Die Anfänge des Dolmetschens
  • 1 Aus der Geschichte des Dolmetschens im weltlichen Bereich
  • 2 Das Relief aus dem Grab des Haremhab in Saqqâra – die erste (erhaltene) Darstellung eines Dolmetschers
  • 3 Die Dolmetscher im Alten Testament
  • 3.1 Der Dolmetscher in Nehemia 8
  • 3.2 Zur Entstehung der Targumim
  • 3.3 Mündliche und schriftliche Targumim
  • 3.4 Die Targumim im Synagogengottesdienst
  • 3.5 Regeln für das Wirken des Meturgeman in der Synagoge
  • 3.6 Der Meturgeman als Akteur, Rabbiner und Märtyrer
  • 4 Zur Herkunft der Berufsbezeichnung Dolmetscher
  • II. Der Pfortendolmetscher Yunus im Osmanischen Reich und seine Moschee
  • 1 Einleitung
  • 2 Die Moschee Tercüman Yunus Camii
  • 3 Zur Stellung des baştercüman am Hofe des Sultans
  • 4 Yunus – Dolmetscher und Botschafter
  • 5 Zur Bedeutung interkultureller Mittler
  • III. Berichte russischer und deutscher Dolmetscher über den 22. Juni 1941 (Dolmetschermemoiren als historische Quelle)
  • 1 Einleitung
  • 2 Zur Situation in den deutsch-sowjetischen Beziehungen vor dem 22. Juni 1941
  • 3 Aus den Erinnerungen Gustav Hilgers
  • 4 Aus den Erinnerungen Valentin M. Berežkovs
  • 5 Aus den Erinnerungen Erich F. Sommers
  • 6 Aussagen im Nürnberger Prozess und die Frage der Glaubwürdigkeit
  • 7 Zum kritischen Umgang mit persönlichen Erinnerungen
  • IV. Die Russisch-Dolmetscher auf dem Nürnberger Prozess
  • 1 Die äußeren Rahmenbedingungen
  • 2 Die Hauptangeklagten
  • 3 Der Prozess
  • 4 Die Arbeitsbedingungen für die Dolmetscher und Übersetzer
  • 5 Zur Auswahl der Dolmetscher und Übersetzer
  • 6 Die russischen Dolmetscher und Übersetzer
  • 6.1 Evgenij Abramovič Gofman (1918-1986)
  • 6.1.1 Das Simultandolmetschen als neuer Dolmetschmodus
  • 6.1.2 Sprachlich-terminologische Probleme
  • 6.1.3 Der "Mitschnitt"
  • 6.2 Tat'jana Sergeevna Stupnikova (1923-2004)
  • 6.2.1 Zur Biografie
  • 6.2.2 Probleme für Tat'jana Stupnikova in Nürnberg
  • 6.2.2.1 Die ständige Überwachung durch den Geheimdienst
  • 6.2.2.2 Die psychische Belastung durch die eigene Biografie
  • 6.2.2.3 Das Problem Katyn
  • 6.2.2.4 Das Geheime Zusatzprotokoll zum Sowjetisch-Deutschen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939
  • 6.2.2.5 Sprachlich-terminologische Probleme
  • 6.2.2.6 Bewusste Beschuldigungen der Dolmetscher
  • 6.2.2.7 Simultandolmetscher und Übersetzer in einer Person
  • 6.2.2.8 Redaktionelle Arbeit
  • 7 Die Russisch-Dolmetscher aus der Außensicht
  • 8 Nachwirkungen des Nürnberger Prozesses und die persönliche Verantwortung
  • V. Aus der Geschichte des Simultandolmetschens in der DDR
  • 1 Vom Konsekutivdolmetschen zum neuen Modus Simultandolmetschen
  • 2 Die Anfänge des Simultandolmetschens im internationalen Rahmen
  • 3 Die Anfänge des Simultandolmetschens in Deutschland vor 1945
  • 4 Die Entwicklung des Simultandolmetschens in der DDR (1950er bis 1970er Jahre)
  • 4.1 Die 1950er Jahre – die Zeit der "Pioniere" des Simultandolmetschens
  • 4.2 Die 1960er Jahre – die Zeit der Gründung des Fremdsprachendienstes der DDR und der Berufsvereinigung
  • 4.3 Die 1970er Jahre – die Zeit der Großeinsätze
  • 5 Der Weltkongress im Internationalen Jahr der Frau 1975
  • 6 Die besondere Stellung des Russischen in der DDR
  • 6.1 Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)
  • 6.2 Werner Eberlein (1919-2002) – Chefdolmetscher für Russisch
  • 7 Gesetzliche Grundlagen für Dolmetscher in der DDR
  • 7.1 Die Honorarordnung für Dolmetscher der DDR (1974)
  • 7.1.1 Sprachgruppengliederung
  • 7.1.2 Dolmetschkategorien
  • 7.1.3 Schwierigkeitsgrade
  • 7.1.4 Honorarsätze
  • 7.2 Die Zulassungsordnung 1979/1980
  • 7.3 Die Gerichtsdolmetscherordnung
  • 8 Die Rolle der Association Internationale des Interprètes de Conférence (AIIC) als Berufsorganisation der Simultandolmetscher
  • VI. Zu den Übersetzern und zur russischen Übersetzung des ersten Bandes von Karl Marx' "Das Kapital"
  • 1 Einleitung
  • 2 Der Einfluss von Übersetzern und Übersetzungen auf die Texte der deutschen Ausgaben des ersten Bandes des "Kapitals"
  • 3 Marx und Engels zu Anforderungen an Übersetzer und Übersetzungen des "Kapitals"
  • 4 Zur Entstehungsgeschichte der ersten Übersetzung
  • 4.1 Warum entstand die erste Übersetzung des ersten Bandes des "Kapitals" in Russland?
  • 4.2 Die drei Übersetzer der russischen Erstausgabe des ersten Bandes des "Kapitals"
  • 4.2.1 German Aleksandrovič Lopatin (1845-1918)
  • 4.2.2 Nikolaj Francevič Daniel'son (1844-1918)
  • 4.2.3 Nikolaj Nikolaevič Ljubavin (1845-1918)
  • 5 Zu den Hauptproblemen der ersten russischen Übersetzung
  • 5.1 Zur Übertragung der neuen ökonomischen Termini ins Russische
  • 5.1.1 Zur Übersetzung von Wert mit cmоuмосmь
  • 5.1.2 Zur Übersetzung von Wert mit ценносmь
  • 5.1.3 Rückkehr zur Übersetzung mit cmоuмосmь (ab 1909)
  • 5.2 Zur abstrakten Art der Darlegung
  • 5.3 Zu den Fußnoten
  • 5.3.1 Erläuternde Anmerkungen von Marx
  • 5.3.2 Fremdsprachige Zitate
  • 5.3.3 Fußnoten des Übersetzers
  • 6 Marx und die russische Zensur
  • 7 Russische Übersetzungen des ersten Bandes des "Kapitals" bis 2011
  • 8 Erstausgaben des ersten Bandes des "Kapitals" in weiteren Sprachen
  • Literatur
  • Zitierte Bibeln
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Sachregister
  • Personenregister

I. Die Anfänge des Dolmetschens

1 Aus der Geschichte des Dolmetschens im weltlichen Bereich1

Das Dolmetschen als mündliche Form2 der Vermittlung zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Sprachen gehört zu den ältesten Berufen und lässt sich bis ins 3. Jahrtausend v.u.Z. zurückverfolgen.

Zur Erleichterung der politischen und wirtschaftlichen Auslandsgeschäfte hatte sich in Ägypten bereits im Alten Reich3 (etwa 2700-2200 v.u.Z., die Angaben dazu differieren) der Stand der "Dragomane" oder Auslandsexperten herausgebildet, die neben den organisatorischen Expeditionsleitern, den "Schatzmeistern des Gottes" (Königs), die Reisen begleiteten. Die Grafen von Elephantine, denen die Beaufsichtigung des Verkehrs durch das "Südtor" Ägyptens anvertraut war, führten zur Zeit der 6. Dynastie mit Stolz den Titel "Vorsteher der Fremdländer" und "Vorsteher der Dragomane" (vgl. Gardiner 1915:124). Der Titel "overseer of all dragomans", wie ihn z.B. Pepinacht-Heqaib führte, kann als Anzeichen für eine Art Dolmetscherzunft gewertet werden. Diese "Vorsteher der Dragomane" wurden in der Nähe ihres Amtssitzes beigesetzt (vgl. Gardiner 1915:125).

In der ägyptischen Hieroglyphenschrift wird das Wort für den Dragoman mit einem groben Schurz mit zwei herunterhängenden Bändern dargestellt. Die ← 1 | 2 → se Bänder sollten wahrscheinlich gebunden bzw. verbunden werden (zu den verschiedenen Formen vgl. Gardiner 1915). Für diese Deutung beruft sich Gardiner (1915:118) auf M. Golenischeff (in: Zeitschrift für ägyptische Sprache vol. 45, 1908:85). Die Dragomane wurden als zur Klasse der Schreiber gehörig betrachtet.

Das Sprachmittlertum wurde durch das gesamte Altertum als eine auf göttlicher Inspiration beruhende Fähigkeit angesehen (vgl. Hermann 1956:33-36), nicht zuletzt dank der Philosophie,4 die diese Tätigkeit in ein göttliches Licht rückte (vgl. Hermann/Soden 1959:25). Im 3. Jahrtausend war der Dolmetscher im ägyptischen Alten Reich als der Kauderwelschredende5 seit der 6. Dynastie des Alten Reichs bekannt (vgl. Hermann 1956:26-33). Man nahm an, dass der Dolmetscher, der Dragoman, sowohl zwischen Menschen verschiedener Sprachen als auch zwischen Menschen und Göttern sowie zwischen König und Volk vermitteln könne. Die Verbindung von Dolmetscher- und Arzttitel wird darauf zurückgeführt, dass sich der Arzt mit dem personifiziert gedachten Krankheitsdämon wie mit einem Menschen in einer anderen Sprache verständigte (vgl. Hermann 1956:29 – mit Bezug u.a. auf Kees, der dafür den Titel "Dragoman [Expert] der geheimen Kunst" anführt – vgl. Kees 1933:306; vgl. Pohling 1971:126).6

Die Dragomane stammten meist aus zweisprachigen Grenzgebieten, so z.B. aus dem südlichen Gau von Elephantine, wo sie zwischen den Südvölkern und Ägyptern vermittelten. Der südliche Grenzgau von Elephantine war Ausgangsort mancher Expedition (vgl. Kees 1933:120). Die Leitung solcher Expeditionen war sehr verantwortungsvoll, daher finden sich dafür selbst königliche Prinzen und Gaufürsten sowie Provinzialverwalter (vgl. Kees 1933:120 und 122).

Die Dragomane nahmen als Karawanenführer, Prospektoren für Auslandsunternehmungen, Leiter von Expeditionen (z.B. berühmter Sudan-Expeditionen) und Geschäftsunterhändler (z.B. im Kupferminengebiet des Sinai, wo eine semi ← 2 | 3 → tisch sprechende Bevölkerung lebte) eine wichtige Stellung ein (vgl. Pohling 1971:125). Sie waren für Unternehmungen im Sinai und in den asiatischen Nachbarländern ebenso im Einsatz wie auf Schiffsreisen (vgl. Hermann/Soden 1959:26).

In der Residenz von Memphis werden Dolmetscher mit Diplomatentiteln genannt. Wenn dort ein Mann "Vorsteher der Dolmetscher, Leiter der Botschaften, Hüter des weißen Stiers und Hofmann" hieß (vgl. Hermann 1956:28-29), belegt dies, dass Dolmetscher außer an der Grenze und im fremden Land auch in der Zentralverwaltung von Bedeutung waren.

Während sich Zweisprachige zunächst vor allem bei den Kriegsgefangenen und Sklaven fanden (vgl. dazu Hermann/Soden 1959:24), zogen Ägypter seit dem Mittleren Reich (etwa 2050 v.u.Z. bis 1610 v.u.Z.) auch Söhne fremder Fürsten heran (z.B. Söhne asiatischer Prinzen sowie Söhne nubischer Stammesfürsten). Für das 7. Jh. berichtet Herodotus (Historiae. Bd. 2, S. 154, zit.n. Hermann 1956:30), Pharao Psammetich I. habe hellenischen Ansiedlern im Nildelta ägyptische Knaben zur Erlernung der griechischen Sprache übergeben. Von diesen solle der Stand der Dolmetscher abstammen.7 Dies mag eine aus Persien stammende Sitte gewesen sein. Hervorgehoben sei, dass Psammetich I. nicht Ausländer das Ägyptische, sondern Ägypter eine Fremdsprache erlernen ließ. Dass es die Ägypter waren, die (sich selbst als "Menschen", die Fremdvölker als "Barbaren" ansehend) schon sehr früh fremde Sprachen lernten, geht aus Tontafelfunden um 1400 v.u.Z. hervor, auf denen akkadische Inschriften gefunden wurden (vgl. Pohling 1971:125), z.T. mit ägyptischen Äquivalenten und damit wohl einem der frühesten Versuche von zweisprachigen Wortlisten (vgl. Pohling 1971:155).

Die ältesten Zeugnisse für das Wort targumannu (vgl. die Stichwörter Dolmetscher und targuman in Klauser Bd. 4, 1959) weisen auf das Handelszentrum Kanisch (heute: Kültepe) bei Caesarea (heute: Kayseri) in Kappadokien hin, eine mehrsprachige Stadt mit assyrischer Handelskolonie. Bereits vor 1800 v.u.Z. wird hier schon ein "rabi targumannē", Chef der Dolmetscher, erwähnt (vgl. Pohling 1971:126). Eine ebenso polyglotte Stadt war Babylon zu Hammurabis Zeiten (etwa um 2100 v.u.Z.). Auf Sprachmittlertum lässt sich nicht zuletzt durch die Existenz von Wortlisten schließen. Bereits seit 1900 v.u.Z. sind zweisprachige sumerisch-akkadische Wörterbücher bekannt (vgl. Pohling 1971:126), einsprachige Wortlisten werden bis 2600 v.u.Z. zurückdatiert (vgl. Lambert 1964). Rap'anu aus Ugarit besaß eine wahrscheinlich vollständige Sammlung ← 3 | 4 → sumerisch-akkadischer Glossare, außerdem ein viersprachiges Wörterbuch mit Worteintragungen auf Sumerisch, Akkadisch, Hurritisch und in der Sprache von Ugarit (vgl. Lambert 1964).

Auch in Europa lässt sich für die Antike zeigen, dass die Tätigkeit des Dolmetschers als eng mit der des Interpreten verbunden angesehen wurde. Das hellenistisch-jüdische Schrifttum verlieh dem Dolmetscher den Charakter eines inspirierten Propheten, Sehers oder Weisen, im Einklang mit der etymologischen Verknüpfung mit dem Namen des Gottes Hermes (zur Nachbarschaft mit Propheten vgl. Fascher 1927:125, 134).

Die Griechen entwickelten kein eigenes Dolmetschertum, sie erwarteten von den anderen, dass diese Griechisch lernten. Höchstens mit Blick auf das Staats- und Rechtswesen lernten Griechen Latein, während jeder gebildete Römer im allgemeinen Griechisch beherrschte, d.h. sich ohne Dolmetscher verständigen konnte. Aus Prestigegründen war dies jedoch nicht immer der Fall. Beispielsweise musste bei Audienzen griechischer Gesandter im römischen Senat ein Dolmetscher offiziell hinzugezogen werden, "da ein Magistratsgesetz aus Gründen der Würde verbot, den Griechen anders als lateinisch zu antworten" (Hermann 1956:41-42), bis Sulla (138-78 v.u.Z.) Griechisch als Verhandlungssprache zuließ. Mit Karthagern und Spaniern allerdings durfte nur über einen Dolmetscher verhandelt werden. Die Dolmetscher unterstanden dem magister officiorum, dem die auswärtigen Angelegenheiten oblagen (vgl. u.a. Helm 1932:422 et passim). Noch um 400 werden für die Kanzlei des magister officiorum Dolmetscher der Barbarensprachen erwähnt (vgl. Hermann 1956:42). Jedoch nicht nur in der Verwaltung in Rom und in den Provinzen spielte der Dolmetscher eine wichtige Rolle, sondern auch als Handels- und Heeresdolmetscher. Als dreisprachig (Lateinisch, Griechisch und Gallisch) gerühmt wurden Vermittler aus Massilia (Marseille) sowie Sizilianer, die Griechisch, Lateinisch und Punisch beherrschten (vgl. Hermann 1956:44-45).

Auf dem Zug Alexanders des Großen (*356 v.u.Z., †323 v.u.Z.) nach Zentralasien ist von persischen, hyrkanischen, sogdischen und indischen Dolmetschern die Rede. In den punischen, gallischen und jugurthischen Kriegen ist Dolmetschertum ebenso belegt wie für das karthagische Vielvölkerheer des Hannibal, in dem den Dolmetschern eine Art Ordnerrolle zukam (vgl. Hermann 1956:44-45; zum auswärtigen diplomatischen Verkehr vgl. Helm 1932:417, 423, 424; zu den Traditionen in den einzelnen Ländern vgl. auch Baker/Saldanha 2009:313-559). Bei Begegnungen antiker Heerführer aus feindlichem Lager zu Friedensverhandlungen wurden diese meist nur von ihrem Dolmetscher begleitet (vgl. Hermann/Soden 1959:39). ← 4 | 5 →

2Das Relief aus dem Grab des Haremhab in Saqqâra – die erste (erhaltene) Darstellung eines Dolmetschers (14. Jh. v.u.Z.)

Eindrucksvoll gestaltet ist die Rolle des Dolmetschers in der Reliefszene aus dem Grab des Haremhab8 in Saqqâra. Haremhab bestieg 1308 (oder 1305) v.u.Z. als Pharao den Thron (die Regierungszeit dauerte 13 Jahre), nachdem er unter Tutanchamun und Eje höchste Regierungsämter, u.a. das des höchsten Armeeführers, bekleidet hatte.

Haremhab hat sich im Tal der Könige in einem Grab bestatten lassen, das sich nicht von den übrigen Königsgräbern des Neuen Reiches unterscheidet, zuvor aber hatte er sich als der einflussreichste Beamte unter Tutanchamun bei Memphis (in der alten Nekropole von Saqqâra, in Sichtweite der Pyramiden, vor dem Totentempel des Teti) ein fürstliches Grab hergerichtet (bis etwa 1351 v.u.Z.) und es mit Reliefs schmücken lassen, die seine Taten darstellen. Das Grab bildet einen Höhepunkt der ägyptischen Reliefkunst (vgl. Gardiner 1953; vgl. Hornung 1971; vgl. Martin 1989-1996). Von diesen Reliefs sind Blöcke in verschiedene Museen gelangt, der größte Teil nach Leiden, in das Rijksmuseum van Oudheden (hier befindet sich das Fragment mit dem Dolmetscher), andere Fragmente nach Berlin, Bologna, Kairo, London, New York, Paris und Wien (vgl. Hornung 1971:14; vgl. H. Schäfer 1928:37-38). Das Relief ist für die Geschichte des Dolmetschens interessant, da es wohl die älteste überlieferte künstlerische Darstellung eines Dolmetschers ist (vgl. dazu auch Kurz 1986; Snell-Hornby 1991; Salevsky 2002:16-18).

Was lässt sich erkennen, wenn man sich die verschieden Stücke zusammengesetzt vorstellt? (Vgl. dazu die digitale Rekonstruktion der Gesamtszene aus ← 5 | 6 → dem Grab im "Album 'Das Grab des Haremhab in Saqqâra' von Haremhab", 48, Szene 76-3). Links steht unter einem erhöhten Thronhimmel das Herrscherpaar. Am Fuße des zu ihm hinaufführenden Treppchens spricht Haremhab als Heerführer in ehrfurchtsvoller Haltung zum König (Tutanchamun). Was er sagt, findet sich in den Zeilen auf dem Reliefgrund vor ihm. In der beigegebenen Rede spricht nicht der König, sondern Haremhab zu den "Häuptlingen aller Fremdländer", so wie er sich vorher (als "Oberster Mund des Landes"9) in ihrem Namen an den König gewandt hat. In der seiner Figur den Rücken wendenden zweiten Figur ist er nochmals zu sehen, wie er vom Dolmetscher die Bitte einer fremden Gesandtschaft entgegennimmt und ihm die Antwort des Königs mitteilt. Auch der Dolmetscher ist als Doppelfigur dargestellt, der die Antwort an die stark bewegte Gruppe von Ausländern übermittelt, die stehend, kniend und liegend die Arme flehend zu den Ägyptern recken. Von den Liegenden liegt einer auf dem Bauch, der andere auf dem Rücken. Dies entspricht der Grußformel, die in erhaltenen Briefen die palästinensischen Vasallen Ägyptens an ihren Oberherrn richteten: "Zu den Füßen des Königs, meines Herrn, werfe ich mich nieder siebenmal und siebenmal auf Brust und Rücken." (zit.n. H. Schäfer 1928:38) Was der Dolmetscher diesen Ausländern übermittelt, sollte in das Relieffeld über ihm geschrieben werden, ist aber aus irgendeinem Grunde nicht eingesetzt worden. Nach H. Schäfer (1928:38) handelt es sich bei den Bittstellern um Gesandte von Menschen, die den Pharao anflehen, ihnen tatkräftige Truppenhilfe zu schicken. Der Pharao erfüllt diesen Wunsch, indem er durch den Mund des allmächtigen Haremhab den Beamten die Sicherung der Grenzen der bedrohten Länder aufträgt. Eben das teilt der Dolmetscher den Fremden mit. Das Relief stellt somit eine prächtige ägyptische Illustration zu den Hilferufen dar, die die vorderasiatischen Untertanen des Reiches so auf den 1887 im Archiv von Amarna gefundenen Tontafeln an ihren Oberherrn geschickt haben (vgl. H. Schäfer 1928:37-38).

Haremhab, der als Mittler auftritt, und der Dolmetscher als Mittler sind beide als Doppelgestalt dargestellt. Der Dolmetscher ist wesentlich kleiner, da von niedererem Rang. Die nach links gewendete, gebeugte Gestalt des Dolmetschers steht unmittelbar zu Füßen von Haremhab und blickt zu ihm auf. Wie aus der Gestik zu schließen ist, spricht der Dolmetscher ehrerbietig mit ihm (bzw. hört ihm ehrerbietig zu). Die andere Gestalt, Rücken an Rücken mit der ersten, ist nach rechts zu den Fremden hin gewendet. ← 6 | 7 →

So wie der Stein von Rosette aus der alten ägyptischen Hafen- und Handelsstadt Raschid im westlichen Nildelta aus dem Jahre 196 v.u.Z. (gefunden 1799) einen der ältesten erhalten gebliebenen Nachweise10 für eine Übersetzung aus dem Ägyptischen (in Hieroglyphen, der Schrift und Sprache der Priester sowie in demotischer Schrift und Sprache, die von den einfachen Ägyptern gesprochen wurde) ins Griechische darstellt, so ist das Relief aus dem Grab des Haremhab der erste überlieferte bildliche Nachweis für das Dolmetschen, allerdings bereits im 2. Jahrtausend v.u.Z.

3Die Dolmetscher im Alten Testament11

Im biblischen Buch Genesis 42,23 begegnet der Dolmetscher, der zwischen den von der Hungersnot ins reiche Nilland getriebenen Brüdern Josephs und ihrem vermeintlich ägyptischen Gastgeber am Pharaonenhofe vermittelt (ca. 1700 v.u.Z.): "Sie wußten aber nicht, daß es Joseph verstand; denn er redete mit ihnen durch einen Dolmetscher." (1. Mose 42,23 nach Luther 1984/21992)

Eine besondere Rolle spielte der Dolmetscher im Synagogengottesdienst, weshalb im Folgenden darauf näher eingegangen werden soll. ← 7 | 8 →

3.1Der Dolmetscher in Nehemia 8

Im biblischen Buch Nehemia 8 findet sich das Übertragen der hebräischen Bibelperikope ins Aramäische im Synagogengottesdienst (vgl. P. Schäfer 1980:216).12 Hier spielte der Dolmetscher, der Meturgeman, eine bedeutende Rolle.

Nehemia 8 berichtet von Esra, dem Schreiber,13 dass er die aus dem Exil heimgekehrten Israeliten (im letzten Drittel des 5. Jh. v.u.Z.) auf dem Platz vor dem Wassertor versammelt und vor ihnen das Buch mit dem Gesetz Gottes eröffnet habe, während er ihnen auf einem Gerüst gegenüberstand. Die Leviten ihm zur Seite hätten dann das Volk im Gesetzesverständnis unterwiesen.14

Nehemia 8, 1-9;8,12:

"Vorlesung des Gesetzes durch Esra ← 8 | 9 →

Als nun der siebente Monat herangekommen war und die Israeliten in ihren Städten waren, 1versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz vor dem Wassertor, und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, er solle das Buch des Gesetzes des Mose holen, das der HERR Israel geboten hat.2 Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats 3und las daraus auf dem Platz vor dem Wassertor vom lichten Morgen an bis zum Mittag vor Männern und Frauen und wer's verstehen konnte. Und die Ohren des ganzen Volks waren dem Gesetzbuch zugekehrt. 4Und Esra, der Schriftgelehrte, stand auf einer hölzernen Kanzel, die sie dafür gemacht hatten, und es standen neben ihm Mattitja, Schema, Anaja, Uria, Hilkija und Maaseja zu seiner Rechten, aber zu seiner Linken Pedaja, Mischaёl, Malkija, Haschum, Haschbaddana, Secharja und Meschullam. 5Und Esra tat das Buch auf vor aller Augen, denn er überragte alles Volk; und als er's auftat, stand alles Volk auf. 6Und Esra lobte den HERRN, den großen Gott. Und alles Volk antwortete: 'Amen! Amen!' und sie hoben ihre Hände empor und neigten sich und beteten den HERRN an mit dem Antlitz zur Erde. 7Und die Leviten Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan, Pelaja unterwiesen das Volk im Gesetz, und das Volk stand auf seinem Platz. 8Und sie legten das Buch des Gesetzes Gottes klar und verständlich aus, so daß man verstand, was gelesen worden war. 9Und Nehemia, der Statthalter, und Esra, der Priester und Schriftgelehrte, und die Leviten, die das Volk unterwiesen, sprachen zu allem Volk: Dieser Tag ist heilig dem HERRN, eurem Gott; darum seid nicht traurig und weinet nicht! Denn alles Volk weinte, als sie die Worte des Gesetzes hörten. […] 12Und alles Volk ging hin, um zu essen, zu trinken und davon auszuteilen und ein großes Freudenfest zu machen; denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen kundgetan hatte." (Luther 1984/21992; Markierung: H.S.)

Die New Revised Standard Version gibt interessanterweise folgende Übersetzung für Nehemia 8,8: "So they read from the book, from the law of God, with interpretation [Hervorhebung: H.S.]. They gave the sense, so that the people understood the reading." (NRSV 1989)

Was im deutschen Text mit klar und verständlich wiedergegeben ist, erscheint in der Fassung der NRSV als with interpretation, wobei das englische interpretation sowohl die Bedeutung von Interpretation als auch von Dolmetschen haben kann.

Die ältere Revised Standard Version (RSV 1971) gibt zwei Varianten: "And they read from the book, from the law of God, clearly;* and they gave the sense, so that the people understood the reading. *or with interpretation." (In der RSV als Fußnote [Hervorhebungen: H.S.])

Interessant sind Übersetzung und Kommentar dazu in der russischen "Tolkovaja Biblija" (Bd. 1, 1904-1907/1987). Nehemia 8,8 lautet: "И читали изъ книги, изъ закона Божiя, внятно, и присоединяли толкованіе, и народъ понималъ прочитанное." (Etwa: Sie lasen aus dem Buch, aus dem Gesetz Got ← 9 | 10 → tes, vernehmlich,15 und deuteten es anschließend, und das Volk verstand das Gelesene. [Hervorhebungen: H.S.])

Im Kommentar dazu wird davon ausgegangen, dass das hebräische Wort měforasch (das eigentlich die Bedeutung in Abschnitte unterteilt bzw. dargelegt zur Einsicht hat) hier getrennt und klar bedeutet, und es wird darauf hingewiesen, dass es sich um eine Übertragung ins Aramäische handelt. Nach der Anführung von Gegenargumenten kommen die Kommentatoren zu dem Schluss, dass die Leviten die Erklärungen zu dem von Esra Gelesenen in Form einer Paraphrase gegeben haben könnten und im Gegensatz dazu in jedem Fall das, was danach fester Brauch wurde, einen verbindlichen "Urtext" hatte, denn seit Esra/Nehemia ist der hebräische Text der authentische Text (mit Ausnahme der ägyptischen Diaspora).

3.2Zur Entstehung der Targumim

Targum16 meint Übertragung (damit im Zusammenhang steht auch: Meturgeman für Dolmetscher). Am Beginn der Talmudischen Periode war damit meist die Übertragung der Bibelperikope ins Aramäische gemeint (vgl. unter dem Stichwort Targum u.a. Landmann vol. 10, 1948:173-175 und Singer vol. XII, 1906:57-63 sowie unter dem Stichwort Targumim P. Schäfer 1980; vgl. dazu auch Alexander 1985; Billerbeck/Strack Bd. 4.1 1928:161; Gächter 1936; Thieme 1956:13; Ribera 1994).

Die Entstehung der Targumim beruht im Wesentlichen auf zwei zusammenhängenden Faktoren: ← 10 | 11 →

Details

Seiten
XII, 272
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653029819
ISBN (ePUB)
9783653998306
ISBN (MOBI)
9783653998290
ISBN (Hardcover)
9783631628119
DOI
10.3726/978-3-653-02981-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Simultandolmetschen Dolmetschen im Alten Testament Dolmetschermemoiren Pfortendolmetscher im Osmanischen Reich
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XII, 272 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Heidemarie Salevsky (Autor:in) Ina Müller (Autor:in)

Heidemarie Salevsky ist Professorin im Ruhestand und lehrte Translatologie in Berlin, Magdeburg und Istanbul. Ina Müller promovierte zur Fachübersetzung und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.

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