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Repräsentationen des Ethischen

Festschrift für Joanna Jabłkowska- Herausgegeben von Kalina Kupczyńska und Artur Pełka

von Kalina Kupczynska (Band-Herausgeber:in) Artur Pelka (Band-Herausgeber:in)
©2014 Andere 396 Seiten

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt dieser Festschrift für Professorin Joanna Jabłkowska stehen Fragen, die im Zusammenhang mit dem kulturwissenschaftlichen ethical turn in der rezenten literaturwissenschaftlichen Forschung diskutiert werden. Der Zusammenhang zwischen Ethik und Literatur wird sowohl theoretisch erfasst als auch in zahlreichen Einzelanalysen literarischer Werke diskutiert. Die literaturwissenschaftliche Perspektive wird ergänzt durch philosophische und politische Betrachtungsweisen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Literatur versus Ethik – Problemstellungen
  • Ethische Literaturkritik in den Zeiten der postmodernen Blasiertheit
  • Mia gegen den Rest der Welt. Zu Juli Zehs Corpus Delicti
  • „Wirf aus den Armen die Leere“. Eine literaturethische und literaturdidaktische Anmerkung zur Lyrik. Am Beispiel einer Stelle in Rilkes erster Duineser Elegie
  • Rückkehr zum Ethos? – Ansätze zur Erneuerung des Problemstücks bei Dea Loher
  • Philosophie versus Ethik
  • Kategorische Impertinenz. Ungerechte Kant-Anverwandlungen
  • Zum Stand des Hermeneutik-Diskurses heute
  • Anthropologie und Ästhetik. Zu Friedrich Schlegels poetischer Bewusstseinsform
  • „Mit Pflicht, nicht mit Lust!“ – oder doch nicht?!? Überlegungen zur ‚Protestantischen Ethik‘ Max Webers am Lodzer Beispiel.
  • Der Leib, die Erinnerung und das Vergessen
  • Ethisches Selbstverständnis des Autors
  • Unzeitgemäß: Emma Kanns Autobiographisches Mosaik
  • Die Sittlichkeit des Künstlers: Frank Wedekinds Kunstbegriff im Licht seiner Musik-Inspirationen
  • Hermann Brochs poethologisches Programm und dichterische Praxis. Zur Verantwortung des Intellektuellen in dem Roman Die Verzauberung
  • Engagierte Humanität. Zum Selbst-Bild des Dichters in der späten Lyrik von Johann Heinrich Voß
  • Möglichkeiten und Formen einer ethischen Reflexion in der Literatur
  • Konjunktiv(a)e zwischen Ethos und Pathos. (Aus)Bleibende Belichtungen in Marcel Beyers Spione und Paweł Huelles Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala
  • Der unverbesserliche Mensch – über den Fatalismus der Phantastik
  • Zeigen statt belehren, ermächtigen statt predigen: Walter Kempowski als Chronist und Realist
  • Scherz und Ethos in Karl Kraus’ Ehrenkreuz
  • Alttestamentarische Weisheit in der Gegenwartslyrik
  • Handke. Steiner – Unterwegs zur Poetik des Ursprungs
  • Das Denken gegen den Strich. Erscheinungsformen des österreichischen Aphorismus
  • Vervielfachte Umarmungen. Moderne Treulose und ihre ethischen Dilemmata
  • Neosexualitäten und die Moral der Literatur
  • Unbewusste Normabweichung oder bewusste Verletzung der Menschenwürde? – Ethik in interkultureller Kommunikation
  • Grenzfälle der ethischen Verantwortung des Autors
  • Schreiben über den Holocaust. Grenzen der Darstellung am Beispiel von zwei Romanen über das Lodzer Getto
  • Ein Autor und sein späterer Herausgeber 1948 in Wrocław
  • Literatur – Moral – Politik. Einige Bemerkungen zum Günter Grass’ Prosagedicht Was gesagt werden muss im Angesicht der deutsch-israelischen Beziehungen
  • Lessings Nathan und die Frage der Toleranz nach Auschwitz bei George Tabori, Elfriede Jelinek und Robert Schindel
  • „Zwei Rechte gab es, zwei Gesichter der Wahrheit…“ Zur Problematik des Nationalismus und der Heimatliebe in Julian Tuwims Versepos Kwiaty polskie
  • Ethik / Politik / Geschichte
  • Ein Polyhistor zweifelt. Reinhart Koselleck und die Hierarchie der Toten
  • Revolution als utopische Erinnerung bei Gustav Landauer
  • Europa im Kontext kontinentaler Kooperationen: Zu Vergangenheit und Gegenwart des literarischen Europa-Diskurses
  • Von der Europäischen Union zur Weltbürgergemeinschaft. Die Interventionen Jürgen Habermas’ zur Europas Zukunft.
  • Reihenübersicht

← 8 | 9 → Vorwort

Ich überlasse es den Astrologen zu erklären, wieso dieser Komet Ethik regelmäßig gegen Ende des Jahrhunderts […] erscheint. Meine Frage ist, ob und wie wir ihn in der gesellschaftlichen Lage am Ende des 20. Jahrhunderts nutzen können.

Niklas Luhmann (Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989)

Seit Ende der 1990er Jahren kann man in der Literatur- und Kulturwissenschaft ein auffälliges Interesse an Problemen der Ethik beobachten. Bei den Debatten, die dabei entstanden, geht es nicht immer sanft zu: Verfechter der ästhetischen Autonomie der Literatur sehen in einer ethischen Annäherung an literarische Werke eine Verengung der Perspektive und wittern darin eine Tendenz zur moralistischen Be- oder gar Verurteilung der literarischen Texte.1 Exemplarisch dafür kann die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des nordamerikanischen ethical turn, den Philosophen und Literaturwissenschaftlern Martha C. Nussbaum und Wayne C. Booth und dem Rechtswissenschaftler und Richter Richard Posner sein, die im Buch Mapping the Ethical Turn (2001) thematisiert wurde.2 Die Debatte ist insofern symptomatisch, als sie die sensibelsten Momente der Diskussionen über Ethik in der Literatur aufzeigt. Diese betreffen die Frage ← 9 | 10 → danach, was die Literatur kann und was die Literatur will, aber auch danach, was der Leser von Literatur erwartet und inwiefern bzw. ob überhaupt das Lesen literarischer Texte seine ethische Haltung wie auch sein soziales Verhalten beeinflussen kann bzw. beeinflussen soll.

Die Fragestellung im Kontext des ethical turn suggeriert, dass die Wiederkehr des „Kometen Ethik“ kein Zufall ist, dass also die Hinwendung zu ethischen Problemstellungen in Literatur- und Kulturwissenschaft einem wiederkehrenden Bedürfnis nach einer Neuaushandlung dieser Fragen entgegenkommt. Eine Diskussion über den Zusammenhang zwischen Ethik und Literatur spitzt sich allerdings unweigerlich in eine Polarisierung von entweder/oder zu: ästhetisch oder ethisch. So verlief auch die Front zwischen Nussbaum und Posner, auch wenn ein genauer Blick auf die Polemik zeigt, dass sich die Kontrahenten in vielen Punkten einig waren. Nussbaums Argumentation zielte auf eine Verteidigung ihrer Thesen, die sie in ihren Studien, allen voran in Love’s Knowledge (1990) und Poetic Justice (1995), darstellte und entwickelte.3 Diese lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: literarische Imagination (literary imagination), die im Akt des Lesens aktiviert wird, hat einen positiven Einfluss auf die Herausbildung bzw. Korrektur der ethischen Haltung und in Konsequenz auf das soziale Verhalten der Leser. Eine Konfrontation mit bestimmten Typen von fiktiven Figuren (allen voran mit Benachteiligten, Verfolgten, Diskriminierten) fördere, so Nussbaum, Sensibilisierung für Probleme anderer, ja wirke bei der Entwicklung des Mitgefühls und der Empathie mit. Entscheidend ist dabei, dass Nussbaum sich klar dazu bekannte, die Auswahl ihrer Beispieltexte auf das behandelte Problem entsprechend zuzuschneiden. Ihr Widersacher, Richard Posner – dem Nussbaum das Buch Poetic Justice widmete –, sah darin eines der zentralen Probleme ihrer Herangehensweise.4 Ist die Auswahl der literarischen Texte von vorneherein auf die Exemplifizierung eines ethischen Phänomens beschränkt, so wird auch der Reflexionsradius noch vor der Analyse festgelegt, was laut Posner darauf hinausläuft, dass wir in Texten suchen, was wir in ihnen finden wollen. Weiterhin bemerkte Posner, dass eine Auseinandersetzung mit moralischen Fragen, die durch literarische Werke vermitteln werden, nicht zwingend dazu führt, dass der Lesende sie verinnerlicht und selbst zu einem besseren Menschen wird, zumal gute Literatur ja selten auf explizite Moral aus ist („Great literature resists being used to edify“,5 so Posner). Demzufolge stellte er fest, dass literarische Texte sehr wohl zu spannenden Diskussionen über moralische und ethische Streitfragen anregen können, so fördern sie – aus seiner Sicht – die diskursive Fähigkeit des Lesenden sowie sein Bewusstsein über gewisse moralische ← 10 | 11 → Dilemmata. Dazu eignen sich literarische Texte viel besser als philosophische Abhandlungen über Ethik, da sie die Probleme entsprechend lebhaft und lebensnah veranschaulichen – in diesem Punkt sind sich Nussbaum und Posner einig. Auch Nussbaum betont die dialogische Disposition einer ethischen Lektüre: „[…] ethical reading is dialogical and conversational, and not all readers will have the same ethical view or project“.6 Aber ihr emphatisches Bekenntnis zur erbaulichen Rolle mancher literarischer Texte, d.h. das Insistieren darauf, dass Verständnis gegenüber moralischen Verhaltensweisen fiktiver Charaktere zur Besserung des Lesenden führt, entlarvt Posner als Fehlschluss. Denn, wie er herausstreicht, „[…] empathy is amoral. The mind that you work your way into, learning to see the world from its perspective, may be the mind of a Meursault, an Edmund, a Lafcadio, a Macbeth, a Tamerlane, a torturer, a sadist, even a Hitler […]“.7

Die Debatte zwischen Nussbaum und Posner illustriert die Besonderheit der Probleme, mit denen der ethical turn zu tun hatte – anders als im Fall anderer kulturwissenschaftlich angeregter turns wurden dabei Fragestellungen angesprochen, die die Substanz dessen, was Literatur ist, was sie kann und was sie darf, unmittelbar tangierten. Sie ist vor allem aus dem Grund erwähnenswert, da sie nicht von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, sondern von einer Philosophin und Rechtswissenschaftlerin und einem Richter geführt wurde. Beide, Nussbaum und Posner, nähern sich literarischen Texten vor allem über die Inhalte, die in diesen zu Wort kommen. Beide rekurrieren auf Literatur als einen Gegenstand, der sehr wohl Wissen über die soziale Wirklichkeit zu vermitteln weiß, auch wenn sie daraus unterschiedliche Schlüsse ziehen – Nussbaum führte an der University of Chicago Law School Seminare über Recht und Literatur, Posner ist Autor des Buches Law and Literature (1998), in dem er die gegenseitige Faszination zwischen den Bereichen Literatur und Recht untersucht. Allein schon die Tatsache, dass Rechtswissenschaftler_innen auf literarische Texte als Vorlage für Diskussionen über soziale und ethische Normen, Regeln und Werte rekurrieren (und über die Implikationen einer solchen Lektüre debattieren), kann als ein Indiz für die Möglichkeit einer ernsthaften Diskussion über das Ethische in der Literatur innerhalb der Literaturwissenschaft betrachtet werden.

Literatur vermag eine therapeutische Funktion zu haben, sie kann Trost spenden, sie hilft bei der Herausbildung der Identität, die Lektüre schwieriger Texte übt unsere Denkfähigkeit, auch unsere Ausdrucksweise kann von Lektüre profitieren. Literarische Texte analysieren menschliche Verhaltensweisen (auch die unmoralischen) und spielen ethische Normen gegeneinander aus. Die Frage ist allerdings, was ein ethical turn zur Diskussion über ethische Fragestellungen ← 11 | 12 → in der Literaturwissenschaft beitragen kann, wenn wir ohnehin wissen, dass bestimmte kognitive Prozesse (wie die von Nussbaum genannte literarische Imagination) im Akt des Lesens eine Rolle spielen und dass Literatur auch ethische Fragen anspricht. Wenn anfangs festgestellt wurde, dass das wiederkehrende Interesse an ethischen Fragestellungen einem Bedürfnis nach Neuaushandlung aktuell vorhandener ethischer Probleme entgegen kommt, so ist damit nur vage eine Antwort angedeutet. Das eigentlich Spannende ist, ob die Diskussion über die Relevanz der Ethik in der Literatur mit einem ethical turn neue Argumente und neue Erkenntnisse liefern kann – und vor allem, in welche Richtung die Zuspitzung der Debatten geht.

Kalina Kupczynska

*

Der vorliegende Band bietet einen Einblick in die aktuelle Sicht auf ethische Fragestellungen in Literatur- und Kulturwissenschaft und möchte zumindest in Ansätzen die Legitimität der Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Literatur verhandeln. Er ist einer Literaturwissenschaftlerin gewidmet, an deren Forschung die Wiederkehr des „Kometen Ethik“ immer wieder sichtbar wird. Die akademische Laufbahn von Professorin Joanna Jabłkowska zeugt von einer konsequenten Verpflichtung zu einer ethischen Haltung, die der protestantischen nahe liegt.8 Ihr Forschungsinteresse gilt gerade Themen, die mit Problemen der Ethik verbunden sind. Flankiert war und ist ihre Auseinandersetzung mit Phänomenen der Toleranz und des Fremden, der Krise der Utopie sowie mit der Relevanz politischen Engagements von Schriftstellern stets durch eine undogmatische, literaturbegeisterte Haltung. Lange bevor der ethical turn lanciert wurde, verstand es Joanna Jabłkowska in ihrer Forschung und Lehre Literatur als Quelles von Wissen, als Anregung zum Nachdenken (auch über ethische Fragen) und als Ort darzustellen, an dem Ethik und Ästhetik keine Gegensätze, sondern eine „symmetrisch nicht fassbare Differenz“ (Karl Heinz Bohrer) bilden.

Das Buch ist eine Hommage an Joanna Jabłkowska anlässlich ihres runden Geburtstags. Bescheiden sei der Jubilarin damit gedankt für ihre enormen Verdienste in der In- und Auslandsgermanistik, für ihren unermüdlichen Einsatz in wissenschaftlichen und administrativen Belangen an der Universität Lodz und sehr weit darüber hinaus sowie keineswegs zuletzt – sondern zuallererst – für ihre Weisheit, ihren Humor und ihr großes Herz.

Herausgeber_innen
samt
Verfasser_innen

1Wichtig ist dabei allerdings, den Begriff der Ethik von dem der Moral zu unterscheiden. Stephanie Waldow formuliert diesen Unterschied folgendermaßen: „Grundlegendes Spezifikum der Ethik scheint es […] zu sein, dass sie sich als ein ständig zu erneuerndes Modell versteht, welches vom Subjekt selbst entworfen wird. Anders hingegen die Moral, die ein von außen gesetztes Wertesystem voraussetzt, an dem sich die Teilnehmer einer gesellschaftlichen Ordnung abarbeiten und dem sie sich letztendlich unterordnen. Moral erhebt Anspruch auf Normativität, Pflicht und Allgemeingültigkeit, während Ethik die Wollens- und Könnensansprüche des Individuums und den Moment der Selbstverpflichtung in den Mittelpunkt stellt.“ In: dies.: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart. Paderborn: Fink 2013, S. 33.

2Interessant in diesem Zusammenhang sind die Beiträge von Wayne C. Booth: Why Ethical Criticism Can Never Be Simple (S. 17-29) und von Martha C. Nussbaum: Exactly and Responsibly. A Defense of Ethical Criticism. (S. 59-79). In: Todd F. Davis, Kenneth Womack (Hg.): Mapping the Ethical Turn. A Reader in Ethics, Culture and Literary. Charlottesville/London: University Press of Virginia 2001. Der kritische Beitrag von Richard Posner, auf den Nussbaum direkt Bezug nimmt, wurde in diesen Band nicht aufgenommen.

3Siehe dazu den Beitrag von Karolina Sidowska im vorliegenden Band.

4Richard Posner: Against Ethical Criticism. In: Philosophy and Literature 21.1 (1997), S. 1-27.

5Ebd., S. 16. Hervorhebung im Original.

6M.C. Nussbaum: Exactly and Responsibly, S. 71.

7R. Posner: Against Ethical Criticism, S. 19.

8Siehe den Beitrag von Frank M. Schuster im vorliegenden Band.

← 12 | 13 → Ethische Literaturkritik in den Zeiten der postmodernen Blasiertheit

Karolina Sidowska

Mit dem obigen Titel wage ich hiermit eine verkürzte Diagnose in Bezug auf die zeitgenössische Gesellschaft, um vor diesem Hintergrund weiterhin einige Facetten der gegenwärtigen Literaturwissenschaft unter die Lupe zu nehmen. Der Begriff „Blasiertheit“ stammt vom Soziologen Georg Simmel, der vor über hundert Jahren mit dieser Bezeichnung die Kondition des modernen Menschen auf den Punkt brachte.1 Nun scheint der Terminus nach einem Jahrhundert überaus aktuell, nur das dazugehörige Adjektiv muss mit dem „post“-Suffix geliftet werden, sonst entspricht der Sachverhalt Simmelschem Verständnis. Man könnte sogar behaupten, dass das Phänomen an sich, statt überwunden zu werden, sich in dieser Zeitperiode zugespitzt und potenziert hat. Das „Großstädter-Sein“ entwickelte sich von einer soziologischen Lebensform zum Gemütszustand, irgendwie sind wir alle zu Großstädtern in einem globalem Dorf geworden. In der multimedialen Wirklichkeit nimmt die alltägliche Überflutung von Impulsen verschiedenster Art enorm zu und die Überforderung unseres kognitiven Apparates ist trotz Gewöhnungs- und Anpassungsmechanismen nach wie vor eine Tatsache. Die psychologischen Folgen sind bekannt, wenn nicht aus eigener Erfahrung, dann aus zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Studien: Unfähigkeit zur längeren Konzentration, Zerstreutheit, Übergereiztheit bis zu scheinbar grundlosen Wutausbrüchen und gleichzeitig eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Vorkommnissen der äußeren Welt. Die Auflockerung der Normen und Grenzen, sowohl im sozialen Leben, als auch in der Wissenschaft – die Fayerabendsche Formel „anything goes“2 ist inzwischen zum Motto der Postmoderne geworden – führt zur Situation, wo die Überraschung immer seltener wird, wo fast alle Tabus aufgehoben werden und die Menschen schwer zu empören und schockieren sind. Sind sie denn noch überhaupt empathiefähig, gemeinschaftsbewusst und offen für Fragen der Ethik? Mit diesen Fragen im Hinterkopf möchte ich auf bestimmte Tendenzen in der ← 13 | 14 → heutigen Literaturwissenschaft eingehen, die man unter dem Begriff „ethische Literaturkritik“ – im Englischen: „ethical criticism“3 – zusammenfassen kann.

1. Warum „ethische Kritik“? Hintergründe und Antezedenzien

Im Kontext der gerade beschriebenen psychosozialen Entwicklungen mag es paradox erscheinen, dass das Problem der Ethik und damit verbundene Aspekte wie intentionales Handeln, Wertesetzung, Empathie, Gewissen, Verantwortung, Qualität des individuellen Lebens und der intersubjektiven Relationen im Mittelpunkt des Interesses rücken. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet scheint dies kein Paradoxon, sondern eher eine bloße Konsequenz der fortschreitenden Blasiertheit und gesellschaftlicher Abstumpfung zu sein, die nach dem Erreichen einer kritischen Stufe der Verdichtung eine Abwehrreaktion und entgegengesetzte Impulse hervorrufen.4 Je mehr man durch die Komplexität der äußeren Welt überfordert wird, umso mehr sehnt man sich nach der (Wieder)Herstellung der ordnungsstiftenden Regeln und Hierarchien, auch wenn es einen Mühe und gewisse Selbstanstrengung kosten würde. Die gesellschaftlichen Prozesse der Dissoziation und Anonymisierung, scheinbar im Wiederspruch und in der Tat engzusammenhängend mit den Globalisierungstendenzen, sind ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen und beeinflussen die Lebensform der Individuen. Das gezielte Streben nach einer Erneuerung humanistischer Werte, etwa im Geiste der Wiederbelebung der Gemeinschaften, kann hier als eine mögliche Antwort auf die geschilderte Lage gelten.

Ethische Literaturkritik, in der man ein Bedürfnis nach einem „neuen Humanismus“ in der Literaturwissenschaft sieht, hängt mit dem sog. ethical turn in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen. Gemeint ist der Erneuerungsversuch in literaturtheoretischer Forschung und lesekritischer Praxis, dessen Ausgangspunkt die Publikation von Wayne C. Booths Buch The Company We Keep. An Ethics of Fiction 1988 markiert.5 Auch andere Literaturtheoretiker, die ← 14 | 15 → bisher, wie James Hillis Miller, eher dekonstruktivistische Positionen vertraten, haben sich zunehmend ethischen Aspekten des Umgangs mit einem literarischen Werk zugewandt.6 Dieser Bewegung geht eine philosophische Reflexion voran, wo v.a. die Schriften von Martha C. Nussbaum als besonders relevant und wirkungsvoll gelten.7 Die Hervorhebung des ethischen Charakters der Lektüre, der in einer Orientierung auf den Leser, seine Wertehierarchie und sein Handeln in der Gesellschaft besteht, wird aus heutiger Perspektive als eine Alternative zu poststrukturalistischen Theorien der 70er und 80er Jahre gesehen. Diese haben sich entweder fast ausschließlich mit dem Text beschäftigt (Dekonstruktion) oder verschiedene außersprachliche Kontexte fokussiert (Postkolonialismus, feministische Kritik, gender studies etc.), während ethische Kritik, diese beiden Aspekte vereinbarend, sich eher auf die Wirkung der Literatur auf den Einzelnen und auf seine Relationen mit der Umgebung konzentriert. Darin sah man den Ansatz zur humanistischen „Erneuerung“, wobei, wie die polnische Literaturwissenschaftlerin Danuta Ulicka zu Recht bemerkt, wurden diese neuen Tendenzen zu keinem klaren theoretischen und methodologischen Programm ausformuliert und zum empirisch anwendbaren Paradigma gemacht, sondern sie blieben ein breiter „Interpretationshorizont“, der verschiedene Prozesse und Fakten berücksichtigt.8 Ulicka schreibt in diesem Zusammenhang etwas herabsetzend von „allwesentlicher Verschwommenheit“ („wszystkoistyczna niewyrazistosc“9) und verweist dabei auf die generelle Abneigung gegen eine klare Grenzsetzung in den Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein möglicher Grund für diese Abneigung wäre vielleicht die ← 15 | 16 → ansetzende Popularität von Fuzzylogik, der „unscharfen Logik“, die u.a. von dem Literaturwissenschaftler George Lakoff bekannt gemacht wurde10 und die sich aus seiner Sicht besser als traditionelle Theorie für Beschreibung der Lese- und Interpretationsprozesse eignet. In diesem Fall kommt noch hinzu, dass Ethik an sich, im Gegensatz zu Moral, nicht als ein definitiv bestimmtes Set von Regeln zu verstehen ist und als Begriff selbst eine Erklärung benötigt.

Trotz der erwähnten methodologischen Unschärfe der ethischen Literaturkritik weist sie m.E. einige Ähnlichkeiten mit den Theorien auf, die sich schon in den 70er Jahren vorigen Jahrhunderts bemerkbar machten, nämlich der Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule11 und der anglo-amerikanischen Reader Response-Theorie, wie sie z.B. von Stanley Fish formuliert wurde. Hier wie dort steht der Moment der Lektüre im Vordergrund und die Aufmerksamkeit ist auf den Leser gerichtet, dem eine wichtige, aktive Rolle bei der sinnhaften Vollendung des jeweiligen literarischen Werkes zugeschrieben wird.12 Der Text wirkt auf den Rezipienten durch seine Struktur und Semantik, aktiviert bei ihm bestimmte Denkmuster, bestätigt oder enttäuscht seine Leseerwartungen (Jauß’ Erwartungshorizont), fordert nach seiner Kooperation. In diesem Sinne wird eine Lektüre zum ethischen Akt. Die ethische Literaturkritik unterstreicht dies, indem die Begegnung des Lesers mit dem Text als Begegnung mit dem anderen Subjekt aufgefasst wird (wobei dieses nicht mit der realen Person des Autors identisch sein muss), die den Leser unvermeidlich zur Stellungnahme zwingt. Die durch den Text vermittelten Ansichten und Werte werden mit den Ansichten und Werten des Rezipienten konfrontiert. Unabhängig vom Ergebnis dieser Auseinandersetzung kommt im dargestellten Vorgang der ethische Moment in Form aktiver Selbstbestimmung des lesenden Subjekts zum Vorschein. Das Sich-Entscheiden und Wahl-Treffen ist hier mit intentionalem Gebärde, ja mit dem Handeln gleichgesetzt.

← 16 | 17 → In diesem Hinblick beruft sich die ethische Auffassung des Leseaktes auf die Thesen des Neuen Pragmatismus13, indem sie den nie endenden Prozess der Selbstbildung durch immer neue Erfahrungen, darunter auch Leseerfahrungen hervorhebt. Das Wissen über prozessualen und vorläufigen Charakter des Ich und der Wirklichkeit führt zu einer distanzierten, antifundamentalen Haltung; Rorty verwendet dafür den Begriff der „Ironie“14. Die Pragmatisten setzen außerdem auf Verifizierung bzw. Falsifizierung der Ideen durch Lebenspraxis – das Wahre und Richtige ist, was sich in unserem Handeln bewährt, einen praktischen Wert erlangt. In Bezug auf Literatur würde das bedeuten, dass ihr Wert und Nützlichkeit nach konkreten Effekten im Verhalten des Lesers zu messen sind. Es ist natürlich vereinfacht und zugespitzt dargestellt, trotzdem hat dieser Gedanke ein Potenzial, auf das die ethische Literaturkritik zurückgreift. Es geht natürlich nicht um die naive Annahme, das Gelesene hätte einen direkten Einfluss auf unser Verhalten und Wirken, z.B. indem wir voller Begeisterung für literarische Vorbilder selber ihre Tugenden im wirklichen Leben nachahmen.15 Im Großen und Ganzen ist jedoch der Einfluss der Literatur bemerkbar, was erfahrene Leser bestätigen und was Martha Nussbaum in einfachen Worten zu fassen vermochte: „People care for books they read; and they are changed by what they care for – both during the time of reading and in countless later ways more difficult to discern.“16

2. Was ist Ethik und wie kann eine ethische Literaturkritik in Praxis aussehen?

Kehren wir zum Problem der Ethik zurück. Kurz gefasst ist Ethik eine Philosophie der Moral, eine „praktische Philosophie“, deren Ziel ist, den gesamten ← 17 | 18 → Bereich des menschlichen individuellen und kollektiven Handelns zu untersuchen und durch Reflexion darüber normative Regeln zu formulieren.17 Diese sollten zu moralisch richtigem und gutem Leben verhelfen, das nicht nur evaluativ als gelungen und glücklich empfunden wird, aber auch zum Wohlergehen der Gemeinschaft beiträgt. In diesem Sinne hat Ethik als philosophische Reflexion über Moral eine pragmatische Orientierung, ist aber nicht mit der Moral gleichzusetzen, die eine Zusammenstellung von konkreten Parolen und Prinzipien darstellt. Es gibt hier kaum Platz für eine differenziertere Auseinandersetzung mit der inzwischen sehr umfangreichen Forschungsliteratur zur Ethik. In den literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die dieser Problematik gewidmet sind, wird auffallend oft Emmanuel Levinas und seine Philosophie des Gesichts herbeizitiert.18 Vereinfacht gesagt geht es um die Tatsache, dass wir uns immer in einer Gegenüber-Stellung befinden und alle unsere Handlungen, darunter auch verbale Akte, sich in Relation zum Anderen abspielen, auch wenn sie nicht direkt an ihn gerichtet sind. Dieses Bewusstsein hat Folgen für unser Benehmen; Levinas schreibt in diesem Kontext vom In-Frage-Stellen eigener Spontaneität durch die Anwesenheit des anderen Menschen, was für ihn das Wesen der Ethik ausmacht.19 Das ethische Subjekt nach Levinas ist durch seine Offenheit und Anerkennung des Anderen im Sinne dessen ständiger Berücksichtigung bestimmt. Dies schafft eine perfekte Ausgangssituation für fruchtbaren Kontakt und Austausch.

Dieser Aspekt Levinas’ Philosophie lässt sich ohne weiteres auf das Verhältnis zwischen dem Leser und einem literarischen Werk beziehen, zumal der Akt der Lektüre als Begegnung zweier Subjekte verstanden wird. Die Subjektivität des Lesers erweckt keine Zweifel, problematisch wird es bei der Subjektivität des Textes – es wäre kurzschlüssig und vereinfacht zu behaupten, dass dahinter der Autor als reale Person steckt. Eine plausible Unterscheidung liefert hier Martha Nussbaum im Rekurs auf die Ausführungen von Booth, nämlich, dass wir im Text zwischen dem Erzähler (narrator), impliziertem Autor (implied author) und dem Verfasser (writer) unterscheiden sollen.20 Das setzt eine ← 18 | 19 → bewusste und aufrichtige Analyse der Struktur des jeweiligen Werks voraus. Damit wird gleich der häufig gestellte Einwand widerlegt, ethische Literaturkritik verleugne die ästhetische Autonomie des literarischen Werks, indem sie sich hauptsächlich auf seine moralische Aussage konzentriert. Nussbaum kommentiert diese Kritik folgendermaßen: „Good ethical criticism, then, does not preclude formal analysis, but actually requires it. Style itself shapes the mind; and these are the effects that a good ethical criticism discerns.“21 Es besteht jedoch kein Zweifel, dass sich die ethische Herangehensweise bei der Lektüre von dem strukturalistischen oder dekonstruktivistischen Lesen und Interpretieren im Weiteren unterscheidet. Ich glaube, entscheidend ist hier eine andere Metapher, die genauso wie die Gesichts-Metapher anthropomorphisierend wirkt und den hier dargestellten Theorien einen stark humanistischen Charakter verleiht, nämlich dass unser Verhältnis zu Büchern dem Verhältnis zu Freunden gleicht. Die Metapher der Freundschaft spielt eine zentrale Rolle in The Company We Keep, sie ist auch für Nussbaum sehr erleuchtend für das Verständnis einer oft überwältigenden und dauerhaften Wirkung der Lektüren auf unser Denken und Tun – genauso werden wir von unseren Freunden in vielen Entscheidungen, Vorlieben und Wahlen beeinflusst.22

Es ist wohl kein Zufall, dass auch Rortys Überlegungen zur Literatur um die Freundschaft-Metapher oszillieren, auch wenn mit Verwendung anderer Begrifflichkeiten. Die anthropomorphisierende Sicht auf die Literatur ist hier jedenfalls ein gemeinsamer Nenner. Die moralische Relevanz der Literatur sieht Rorty in ihrer Fähigkeit, den menschlichen Sinn „für das Mögliche und Wichtige“23 ändern zu können. Es geht also um den Umbau von Wertehierarchien, um das sprichwörtliche Erweitern des weltanschaulichen Horizonts. Die ständige Entwicklung und Selbstbildung, vom Philosophen als die „Erweiterung des Vokabulars“ bezeichnet, geschieht in diesem Fall durch einen gewissen Umgang mit Literatur: sie dient als quasi-Stoff für gedankliche Experimente, für mentale Übungen und das Ausprobieren von alternativen Lebensformen, von denen manche uns nie anders zugänglich gewesen wären:

Also können unsere Zweifel an unserem Charakter oder unserer Kultur nur dadurch beseitigt oder beschwichtigt werden, dass wir unsere Kenntnisse erweitern. Das können wir am einfachsten durch Bücherlesen erreichen, und deshalb verbringen Ironikerinnen und Ironiker mehr Zeit mit dem Zuordnen von Büchern als dem Zuordnen von wirklichen, lebendigen Menschen. Ironikerinnen und Ironiker fürchten, in dem Vokabular steckenzubleiben, in dem sie aufgewachsen sind, wenn sie nur die Menschen ihrer Umgebung kennen, deshalb versuchen sie, mit fremden Leuten ← 19 | 20 → (Alkibiades, Julien Sorel), fremden Familien (den Karamasows, den Casaubons) und fremden Gruppen (den Deutschherren, den Nuern, den Sung-Manderinen) Bekanntschaft zu schließen.24

Rorty setzt ein Gleichheitszeichen zwischen den Kontakten im realen Leben und den Leseerfahrungen, man könnte sogar behaupten, er bevorzugt die letzteren wegen ihrer Einfachheit, Zugänglichkeit und Universalität, was wiederum nicht sehr humanistisch im Hinblick auf unsere soziale Sphäre erscheint. In der weiteren Perspektive sollen aber die freundschaftlichen Beziehungen zu Büchern oder zu bestimmten literarischen Protagonisten einem besseren Zusammenleben in der menschlichen Gemeinschaft dienen: Indem wir uns mit der Fülle und Vielfalt der dargestellten Lebensmodelle auseinandersetzen, erweitern wir nicht nur unseren Wissensstand, sondern auch emotionale, empathische Fähigkeiten, von denen letztendlich unsere Mitmenschen profitieren. An den Texten üben wir die Sensibilität für Vielschichtigkeit der ethischen Fragen.25 Dies gelingt umso besser, je inniger die Freundschaft mit dem jeweiligen Text sich gestaltet, je mehr wir als Leser uns durch ihn bewegt fühlen oder uns überhaupt bewegen lassen. Gerade die ästhetische Gestaltung der literarischen Werke ermöglicht dieses Engagement und die Bildhaftigkeit der Darstellung wirkt viel stärker und suggestiver auf unser moralisches Befinden als abstrakte Prinzipien.26 Die Veranschaulichung der Gewissenskonflikte an konkreten Beispielen macht die Literatur viel pragmatischer als jede philosophische Erörterung und verleiht ihr eine besondere Intensität. Nussbaum bemerkt außerdem, dass wir in Bezug auf Bücher, insbesondere auf Romane, in Anbetracht ihres fiktiven Charakters eigentlich keine negativen Gefühle wie Neid oder Rachewunsch entwickeln, sondern v.a. zu gutmütigen und milden Gefühlen verleitet werden, weswegen sie als „Schule der Gefühle“ fungieren können.27 Ob das immer stimmt, mag in Frage gestellt werden – es scheint doch plausibel, dass man manchmal gegen Bücher, so wie gegen reale Menschen, auch negative Gefühle der Abneigung, des Genervtseins etc. hegt, nun anders als im wirklichen Leben können wir leichter eine solche „Bekanntschaft“ ohne peinliche Konsequenzen ← 20 | 21 → gleich ablehnen. Im Reich der Bücher können wir viel autonomer entscheiden, zu welcher Gemeinschaft wir gehören wollen, mit dem Bewusstsein, dass diese Zugehörigkeit uns weitgehend definiert.

So weit, so gut. Lassen sich aber die bisherigen Feststellungen und Überlegungen operationalisieren? Wie ist die ethische Literaturkritik als praktisches analytisches Verfahren möglich? Die Frage erscheint von Bedeutung vor allem in Bezug auf die Tätigkeit der Kritiker und Literaturwissenschaftler, die ja in erster Linie auch Leser sind, um dann selber öfters zu Autoren zu werden. Ihr doppelter Status ist deswegen relevant, weil ihre Lektüre der literarischen Werke besonders deutlich ethische Züge aufweist, indem sie für andere Leser als maßgebend gilt. Die Verantwortung für eigene Urteile ist in diesem Fall entsprechend größer als bei einem durchschnittlichen, niemandem verpflichteten Leser. Unter anderem deswegen wurde und bisweilen wird ethical criticism mit Misstrauen behandelt, weil man subjektive Meinungen und Wertungen des Kritikers als Gefahr der Entstellung der angeblichen immanenten Werkaussage empfand. Tatsächlich kann man weder als Leser noch als Kritiker einen Urlaub von eigenen Werten nehmen, sie sind bei jeder Lektüre, wie auch sonst bei jedem interkommunikativen Akt mehr oder minder bewusst präsent.28 Aus demselben Grund scheint jedoch der Versuch, ethische Fragen bei der Textanalyse ganz außer Acht zu lassen, unsinnig, da sie unvermeidlich im lesenden Subjekt stecken. In einer solchen Situation ist es aufrichtiger, sich dessen bewusst zu werden und gleichzeitig selbsttreu und offen für fremde Ansichten die Diskussion aufzunehmen. Überhaupt scheint mir die Frage der Ausgangsposition, einer gewissen Einstellung, wesentlicher für die Bestimmung der Spezifik ethischer Literaturkritik als die detaillierte methodische Herangehensweise. Es ist eine Haltung der Offenheit, fast einer Gutmütigkeit dem Text als dem Zeugnis der anderen Subjektivität und Weltanschauung gegenüber. Das Bücherlesen ist dann, um an Rortys Metaphorik anzuknüpfen, einer Begegnung mit einem fremden Menschen ähnlich, die möglichst ohne Vor-Urteile, dafür aber mit gutem Willen und Freundschaftsbereitschaft geschieht. Wir können enttäuscht werden oder wir können einen neuen Freund gewinnen; die positive Einstellung verhilft erheblich zu der zweiten Option.

Booth hat in seiner Studie einige Fragen formuliert, die die ethische Dimension der Lektüre hervorheben und die sich u.a. auf ihre Bedeutung für das (gute) Leben des Lesers konzentrieren.29 Wenn man konsequent das Verhältnis zum ← 21 | 22 → Buch mit dem Verhältnis zum Freund gleichsetzt, könnte man weitere Fragen entwerfen, die mehr die Werkanalyse zum Gegenstand machen, wobei deutlich wird, dass formale Aspekte, d.h. die ästhetischen Qualitäten des Textes sehr wohl berücksichtigt werden müssen. Man tritt also in ein Gespräch mit einem (potenziellen) Freund; die ersten Sätze sind entscheidend: fühle ich mich hingezogen oder abgestoßen? Warum? Was will mir der Andere erzählen und wie macht er das? Oder will er mich gar überreden und überzeugen, aber ich erkenne schon seine Tricks? Ist seine Sprache vulgär, künstlich, alltäglich? Sind die Sachen, von denen er spricht, mir nahe oder fremd, sind die Personen, die er beschreibt, sympathisch oder schurkenhaft? Kann ich mich mit ihnen vergleichen, bewundere ich sie, erwecken sie mein Mitleid oder Abscheu? Es gibt auch sog. Skandalbücher, die man noch gründlicher abfragen muss: Womit willst du mich provozieren? Warum willst du es? Was bewegt dich so? Vielleicht entdeckt man hinter der Maske doch einen Freund, einen Gleichgesinnten, dem man zustimmen kann. Oder man findet einen Punkt, wo die Meinungen auseinandergehen – und muss dann entscheiden, ob es nicht die Freundschaft kaputt oder unmöglich macht. Im Grunde geht es um ganz traditionelle Fragen, die sich Leser seit jeher bewusst oder unbewusst bei jedem Buch stellen. Wie auch immer plump und selbstverständlich sie erscheinen, sie bilden eine Grundlage der Leseerfahrung, und jede Literaturkritik beginnt doch mit einer Leseerfahrung. Auf der anderen Seite sind die oben angeführten Aspekte nicht immer leicht zu erörtern. Mark William Roche schreibt dazu:

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396
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653025910
ISBN (ePUB)
9783653998764
ISBN (MOBI)
9783653998757
ISBN (Hardcover)
9783631627136
DOI
10.3726/978-3-653-02591-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Ethik Politik Kulturwissenschaft Literatur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2013. 396 S., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Kalina Kupczynska (Band-Herausgeber:in) Artur Pelka (Band-Herausgeber:in)

Kalina Kupczyńska, Dr. phil., ist seit 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Łódź; DAAD-, Humboldt- und Werfelstipendiatin. Ihre Publikations- und Forschungsschwerpunkte sind die deutsche und österreichische Avantgarde und Experimentalliteratur, intermediale Aspekte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sowie graphische Literatur. Artur Pełka, Dr. phil., ist seit 2001 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Łódź; DAAD-, ÖAD- und Humboldt-Stipendiat. Seine Publikations- und Forschungsschwerpunkte sind das Drama im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt sowie Gender- und Queer-Studies.

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Titel: Repräsentationen des Ethischen
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