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Variable Geometrie

Subsidiarität und differenzierte Integration im Mehrebenensystem der Europäischen Union

von Marjolaine Savat-Gündüz (Autor:in)
©2014 Dissertation XVI, 175 Seiten

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage nach der ungleichzeitigen oder differenzierten Integration in der Europäischen Union. Gegenwärtig kann von verschiedenen Integrationsstufen der Mitgliedstaaten in einem Mehrebenensystem ausgegangen werden. Hier kommt die Frage der Finalität der Europäischen Union ins Spiel, die ungeklärt im Raum steht. An dieser Stelle vertritt die Autorin die These eines Föderalisierungsprozesses der EU. In den gegenwärtigen Debatten über die EU pendeln die Meinungen zwischen zwei hauptsächlichen und schematischen Ansätzen, um die auf einigen Mitgliedstaaten schwer lastende Wirtschaftskrise zu bewältigen. Auf der einen Seite wird mehr, auf der anderen weniger Europa gefordert. In diesem Zusammenhang argumentiert die Autorin, dass hier verstärkt die Frage nach den effektivsten Entscheidungsebenen innerhalb der EU-Strukturen gestellt werden muss. Deshalb nimmt in dieser Arbeit die Frage nach dem Subsidiaritätsprinzip und seiner Anwendung eine zentrale Stellung ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung in die Fragestellung
  • 1- Föderation als Finalität der Europäischen Union: Ein überholter Gedanke?
  • 2- Föderalisierungsprozess der Europäischen Union und Mehrebenensystem
  • 3- Föderalisierungsprozess der Europäischen Union und Subsidiaritätsprinzip
  • Teil I: Organisation und Möglichkeiten einer Mehrebenenstruktur
  • A- Symbolische Darstellung und konkrete Strukturierung des europäischen Mehrebenensystems
  • I- Die „europäischen Kreise“ als Symbolik der europäischen inneren Architektur: Von der symbolischen Darstellung zu einer konkreten Struktur
  • 1. Von griechischen Tempeln und französischen gotischen Kathedralen: Die schwierige Übung, eine adäquate Symbolik für das europäische Gefüge zu finden
  • 2- Konzentrische Kreise als Symbole für das europäische Mehrebenen system: Schwierigkeiten und Anpassungsmöglichkeiten des Modells
  • a- Von konzentrischen Kreisen und Dantes Hölle
  • b- Konzentrische Kreise plus Mehrebenensystem gleich „europäische Kreise“
  • II- Die Struktur der „europäischen Kreise“
  • 1- Der erste und äußerste Kreis: die EU und die Welt
  • a- Die europäischen Grundlagen zum Handeln
  • b- Die Vielseitigkeit der europäischen Partner im Rahmen des ersten Kreises
  • 2- Der zweite und mittlere Kreis: die „intereuropäische“ Ebene
  • a- Subsidiäres Handeln
  • b- Interregionale Bündnisse am Beispiel der Charta von Florenz
  • 3- Dritter und letzter Kreis: das Zentrum oder die Unionsebene
  • a- Die Union als Zentrum der europäischen konzentrischen Kreise
  • b- Die leitende Rolle der Union in den Beziehungen Mitgliedstaaten-EU
  • B- Die europäischen Kreise und die Möglichkeit eines „Mehrebenen systems der Integration“
  • I- Föderalisierungsprozess durch differenzierte Integrationsniveaus
  • 1- Von differenzierter Integration und differenzierten Integrationsniveaus
  • 2- Der institutionelle Rahmen der differenzierten Integration
  • a- Die “negativ“ differenzierte Integration
  • (1)- Die Situation vor dem Unionsvertrag am Beispiele der ordre public-Vorbehalte der Grundfreiheiten
  • (2)- Die Entwicklung der negativen differenzierten Integration ab dem Unionsvertrag
  • (a)- Die Opt Out-Klausel
  • (b)- Differenzierte Integration durch spezielle Abkommen
  • b- Die “positiv” differenzierte Integration
  • (1)- Der Fall von regionalem Zusammenschluss zwischen Mitgliedstaaten
  • (2)- Verallgemeinerung und Anerkennung der differenzierten Integration durch den Unionsvertrag: die verstärkte Zusammenarbeit
  • (a)- Die Entwicklung der verstärkten Zusammenarbeit in den aufeinander folgenden Verträgen
  • (b)- Die Kernbedeutung der verstärkten Zusammenarbeit
  • II- Möglichkeiten und Grenzen einer verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen dem europäischen Mehrebenensystem
  • 1- Die Voraussetzungen einer verstärkten Zusammenarbeit
  • 2- Formelle Kriterien
  • 3- Materielle Kriterien
  • a- Die „Besser-Klausel“
  • b- Die Achtung der Einheitlichkeit des Unionsrechts
  • (1)- Die Achtung der Einheitlichkeit der europäischen Rechtsordnung
  • (2)- Das Verbot der Beeinträchtigung des Unionsrechts
  • Teil II: Das Subsidiaritätsprinzip: ein kompetenzregulatives Prinzip für das europäische Mehrebenensystem?
  • A- Ursprung und Grundlagen des Subsidiaritätsprinzips
  • I- Von Thomas von Aquin bis Jacques Delors: zur Geschichte eines kontroversen Prinzips
  • 1- Der theologische Ursprung des Prinzips
  • a- Allgemeinwohl und Begrenzung des Staates bei Sankt Thomas von Aquin: erste Umrisse des Subsidiaritätsprinzips
  • b- Die Subsidiarität: einer wiederkehrende Idee in der katholischen Kir che vom Mittelalter bis heute
  • (1)- Ein moralisches Prinzip gegen den Zentralismuswillen der katholi schen Kirche
  • (2)- Die Katholische Kirche und der Schutz des Individuums
  • c- Die Krönung des Prinzips der Subsidiarität als fester Bestandteil des Dogmas der katholischen Kirche durch die Enzyklika „Quadragesimo Anno“
  • 2- Die Säkularisierung des Prinzips der Subsidiarität
  • a- Ein erster Säkularisierungsversuch des Prinzips durch Johannes Althusius
  • b-Subsidiarität und liberale Staatstheorie
  • 3- Vom moralischen Postulat zur normativen Regel
  • a- Die Subsidiarität und die europäischen Verfassungsordnungen
  • b- Der Beitrag von Jacques Delors zur Vergemeinschaftung des Prinzips
  • II- Zu den Grundlagen eines europäischen und gemeinschaftlichen Rechtsprinzips
  • 1- Die Subsidiarität und das deutsches Verfassungsrecht: zwischen Rechtstradition und Rechtsstreit
  • a- Gebot der Klugheit vs. Verfassungsgrundsatz
  • b- Die Subsidiaritätsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG: Unitarisierungspro-zess oder Wahrung des Föderalismus?
  • 2- Der Blick auf das Subsidiaritätsprinzip in vergleichender Perspektive: Die Bundesrepublik Deutschland und die unteilbare Republik Frankreich
  • a- Staatszentralismus vs. Föderalismus
  • b- Perspektiven einer Angleichung der beiden Staatsordnungen unter dem Impuls des Unionsrechts?
  • B- Ein Prinzip zwischen Eindeutigkeit und Zweideutigkeit: Regulativ der Kompetenzausübung oder uneingeschränkte Ausdehnung der Kompetenzen der Union?
  • I- Das Subsidiaritätsprinzip in der Rechtsordnung der Union
  • 1- Die Prämisse zur Einführung des Prinzips der Subsidiarität in Unionsvertrag: Das „Spinelli Projekt“
  • 2- Geltung, Aufgabe und Kriterien der Subsidiarität in Unionsrecht
  • a- Die Geltung und die Aufgabe des Subsidiaritätsprinzips
  • b- Die Kriterien des Prinzips: zwischen Effektivität und Notwendigkeit
  • (1)- Allgemeine Betrachtung der Kriterien für die Anwendung der Subsidiarität
  • (2)- Der „Notwendigkeitstest“
  • (3)- Die „Besser-Klausel“
  • 3- Die Justiziabiltät der Subsidiarität: eine Kontrolle durch die europäi schen Gerichte
  • II- Ist das Subsidiaritätsprinzip eine „Einbahnstrasse“?
  • 1- Warum wird das Subsidiaritätsprinzip wiederkehrend kritisch beleuchtet?
  • a- Die Subsidiarität und die Hoheitsträger-Hierarchie
  • b- Die Subsidiarität und der Zentralismus
  • 2- Die Subsidiarität in der europäischen Rechtsordnung: ein Prinzip der Regulative der Kompetenzausübung mit Kompetenzzuweisungseffekt
  • a- Das Subsidiaritätsprinzips ist nicht als „Einbahnstrasse“ zu bewerten
  • b- Das Subsidiaritätsprinzip ist als Kompetenzausübungsschranke zu verstehen, weist jedoch Kompetenzausdehnungseffekte auf
  • 3- Worauf sollte bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips geachtet werden?
  • a- „Das Subsidiaritätsprinzip soll die Befugnisse der Gemeinschaft nicht in Frage stellen“
  • b- “Was vermieden werden soll, ist ein Übermaß an europäischen Regelungen“
  • c- Die Rolle der nationalen Parlamente nach dem Inkrafttretens des Reformvertrags
  • Schlussfolgerung: Das Subsidiaritätsprinzip als Triebfeder der Föderalisierung des europäischen Mehrebenensystems
  • Literaturverzeichnis
  • Anhänge
  • Anhang 1: Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidia-rität und der Verhältnismäßigkeit angehängt an den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (konsolidierte Fassung von 1997)
  • Anhang 2: Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Sub-sidiarität und der Verhältnismäßigkeit angehängt an den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte Fassung von 2009)

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Einführung in die Fragestellung

 

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Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet der Satz eines der Gründungsväter Europas, Robert Schuman: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine bloße Konstruktion“1. Viel zitiert und viel kommentiert behält dieser Satz eine beständige Wahrheit. Beinahe sechzig Jahre nach seiner Rede ist die Union „immer enger“2 zusammengewachsen, obgleich die Schwelle des föderalen Staates - oder nach Jacques Delors Bezeichnung: der „Föderation der Nationalstaaten“ 3 - noch nicht überschritten ist. Da die Verträge zu dieser Frage schweigen, bleibt die Finalität der europäischen Einigung Diskussionsthema.4 Dabei stehen sich zwei Projekte der Union gegenüber, und zwar die „Staatenverbund“-Konzeption und die föderale Option. Bedenkt man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zur Frage der Vereinbarkeit des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Lissabon und des diesbezüglichen Grundgesetzänderungsgesetzes mit dem GG, das der EU auch mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon jeglichen „staatsanalogen Aufbau“5 anzuerkennen verweigert, können die Hürden abgeschätzt werden, die vor Erreichung einer Föderation der europäischen Nationalstaaten noch zu bewältigen sind.

1- Föderation als Finalität der Europäischen Union: Ein überholter Gedanke?

Für die Gründungsväter Europas war die Errichtung eines wirtschaftlichen, rechtlichen und darüber hinaus sozialen Zusammenhalts Mittel zum Zweck der Verwirklichung einer europäischen Föderation. Wie es Manfred Zuleeg betont, war „die Zielvorstellung einer Föderation […] von vornherein einbezogen“.6 Nunmehr sind seit den Gründungszeiten und der Schuman-Erklärung sechzig Jahre vergangen. Die europäische Integration ist zwar weit fortgeschritten, die föderale Lösung für die Union bleibt dennoch lediglich ein Modell und eine Möglichkeit, jedoch nicht das absolut zu erreichende Ziel. „Die Zielvorstellung ← 2 | 3 → einer Föderation“7 konnte in sechzig Jahren nicht gegen die nationalstaatlichen Belange durchgesetzt werden. Sie büßt hingegen die Stimmung de l’air du temps ein. Ist die Verwirklichung einer europäischen Föderation noch realistisch oder war sie nur eine Nachkriegszeit-Utopie, die nicht mehr zum derzeitigen europäischen Kontext passt?

Die wirtschaftliche Krise im Jahr 2010, die den europäischen Raum, vor allem die Eurozone erschüttert, bringt eindeutig die Mitgliedstaaten in Schwierigkeiten, was ihre Entschlossenheit anbelangt, „den Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“8. Dies umso mehr, als die Eurokrise von 2010 lediglich die letzte in einer Reihe von politischen und wirtschaftlichen Krisen darstellt. Im Grunde genommen konnte sich die EU seit dem „Nein“ der Franzosen und der Niederländer zum Europäischen Verfassungsvertrag im Jahr 2005 kaum erholen, während politische und wirtschaftliche Krisen in einem erschreckenden Rhythmus darauf folgten.9 Die Lage ist derzeit ernst für die EU, nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch betrachtet. Denn die Zukunft wird mit großer Wahrscheinlichkeit Aufschluss bei der Frage geben, ob die Mitgliedstaaten ihre Kohäsion und Loyalität zur EU bewahren können oder ob sie eine Politik der Durchsetzung nationaler Interessen verfolgen werden. Wie man es auf Französisch ausdrückt, ist die Union möglicherweise „à la croisée des chemins“.10 Bereits in der Vergangenheit wurden Krisen als eine Möglichkeit gesehen, die europäische Integration voranzutreiben. Jacques Derrida und Jürgen Habermas messen Krisenzeiten sogar eine wichtige Bedeutung für die Bestimmung der europäischen Zukunft bei: „Eine attraktive, ja ansteckende ‘Vision’ für ein künftiges Europa fällt nicht vom Himmel. Heute kann sie nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren werden“.11 Wie zudem Roland Bieber nüchtern bemerkt, gibt es „tatsächlich […] selten ‚bessere’ Zeiten im fortdauernden Entwicklungsprozess der Europäischen Einigung. Jede Zeit ← 3 | 4 → hat ihre eigenen Schwierigkeiten und Chancen“.12 Die Frage, ob in dem derzeitigen Kontext die Anknüpfung an die föderale Finalität der Union in einer juristischen Dissertation nicht von Makel der Unsachlichkeit geprägt und zudem unrealistisch ist, wird hier verneint. Die föderale Finalität der Union ist zwar nicht in Stein gemeißelt, sie ist und bleibt jedoch ein erstrebenswertes Ziel. Die Krise der Eurozone hat noch nicht die Zukunft und die endgültige Orientierung der Union besiegelt. Ebenso steht die Antwort zur Frage, ob die gemeinsame Währung tatsächlich demnächst noch zusammenbrechen könnte,13 und wenn ja, welche Konsequenz es für die gesamte Union mit sich bringen würde, in den Sternen. Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank (im Folgenden EZB), zeigt sich in einem Interview mit der Zeitung Le Monde vom 01. Juni 2010 sehr zuversichtlich, dass die finanzielle- und wirtschaftliche Krise überwältigt werden kann. Der Euro bleibt für ihn „une monnaie très crédible, qui inspire la confiance“.14 Trichet erkennt die historische Bedeutung der derzeitigen Situation für die EU und plädiert für eine „fédération budgétaire“15. Dabei äußert er sich positiv zur Frage der Gründung einer europäischen Wirtschaftsregierung.16 Trichet schlägt folgendes Rezept vor, um aus der Krise zu kommen: eine systematische Maximierung der in den Verträgen niedergeschriebenen Möglichkeiten sollte erstens zur Stärkung der europäischen Institutionen führen und zweitens zu einer Verstärkung der europäischen Integration. Für Trichet liegt also die Rettung des europäischen Systems nicht in weniger17, sondern in ← 4 | 5 → mehr Integration, die gewissermaßen über die Föderalisierung bestimmter Bereiche (z. B. der Haushaltspolitik) geschieht.

Jedoch verdunkeln sich immer stärker die Perspektiven auf das föderale Organisationsmodell in den europäischen öffentlichen Meinungen. Nicht nur auf der europäischen Ebene erlebt dieses Modell schwere Zeiten, sondern auch auf der mitgliedstaatlichen Ebene. In Belgien z. B. lauert seit 2006 eine ernsthafte „Föderationskrise“. Schon vor den vorgezogenen Wahlen zur Abgeordnetenkammer vom 13. Juni 2010 warnte der belgische Journalist Jean-Pierre Stroobants18, dass die Addition der verschiedenen flämischen Parteien, die eine Aufteilung Belgiens favorisieren, ca. zweiundvierzig Prozent der Wählerstimmen darstellen würde. Tatsächlich erreichten die flämischen Nationalisten der N-VA (Neuflämischen Allianz) fast ein Fünftel der Sitze in der föderalen Kammer. Dies ist ein Ergebnis, das berechtigte Fragen für die belgische EU-Ratspräsidentschaft ab 01. Juli 2010 aufwirft. Spanien kämpft auch wiederkehrend gegen den separatistischen Willen der ETA. Dies zeigt, dass die föderale Organisation des spanischen Staates nicht unbeschränkt Akzeptanz gefunden hat.

Zum einen sollte man das Abkommen von der föderalistischen Idee nicht überbewerten. Denn es kann im Gegenteil auch angenommen werden, dass in Finanz- und Wirtschaftskrisenzeiten die EU-Mitgliedstaaten sowie die europäischen Regionen vereint bessere Chancen für die Krisenbewältigung haben als wenn sie vereinzelt gegen Finanzmärkte und eine schlechte wirtschaftliche Konjunktur kämpfen müssen. Im Kantischen Sinn ausgedrückt, kann man pessimistisch sein, was die Motivation einer Stärkung des europäischen Integrationsprozess angeht, optimistisch dennoch, was die Richtung der Geschichte anbelangt. Vernunft ist auf der Seite der Union.

Zum anderen sollte man extremistischen Bewegungen nicht allzu viel Glaubwürdigkeit beimessen. Die Tatsache jedoch, dass sie in der Bevölkerung ein Echo finden, sollte nicht übersehen werden. Daher braucht man starke Gegenkonzepte, die solchen Ideologien entgegengesetzt werden können. In diesem Sinne hatten die Gründungsväter der europäischen Einigung nach den Erfahrungen des 2. Weltkrieges gegen Nationalismus und kriegerische Anwandlungen kämpfen wollen. Der Plan ist aufgegangen und der Prozess der europäischen Einigung hat über sechzig Jahre Demokratie und Frieden in Europa gebracht. Die Anknüpfung an dieses starke europäische Projekt kann ohne Zweifel als Wegweiser dienen in der derzeitigen schweren wirtschaftlichen Konjunktur, die auf den europäischen Mitgliedstaaten lastet. So wie in den Gründungszeiten eine Wirtschafts- und Zolleinigung für die Stabilisierung der Mitgliedstaaten erstrebenswert war , erscheint nun ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen ← 5 | 6 → Integration erforderlich, um die kumulativen negativen Aspekte der Wirtschaftsund Finanzkrise von 2008 und 2010 zu bewältigen. In diesem Sinne verliert das Ziel einer „Föderation der Nationalstaaten“19 nicht an Relevanz. Ein starker Zusammenhalt der europäischen Mitgliedstaaten ist eine Notwendigkeit geworden.

Die Erreichung des föderalen Stadiums wird daher in dieser Arbeit als Finalität der Europäischen Einigung20 angesehen. Dabei handelt es sich hier nicht darum auf eine nostalgische föderale Vision zu pochen, sondern auch die zeitgenössischen Vorschläge hervorzuheben. Überzeugt, dass dieses Prozess jedoch „nicht mit einem Schlage und auch nicht durch eine bloße Konstruktion“ geschehen kann, wird vielmehr von einem Föderalisierungsprozess ausgegangen, der Schritt für Schritt, Bereich nach Bereich die Union in diese Richtung bewegt. Um diesen Prozess hervorzuheben, wird die Kompetenzverteilung im Rahmen der europäischen Rechtsordnung in den Vordergrund der Analyse gestellt. Die Kompetenzverteilung stellt in der Tat den Gewölbestein des föderalen Bauwerks dar. Hier wird zwischen der föderalen Ebene und der föderativen Ebene die Zuständigkeit zum Handeln erteilt, entweder durch ausschließliche oder durch konkurrierende Kompetenzen. Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten ist gleichzeitig eine entscheidende Herausforderung, politisch betrachtet,21 sowie ein Ausdruck des Föderalisierungsprozesses. Denn im Vergleich zu den Gründungsverträgen haben sich die Kompetenzfelder der derzeitigen Union exponentiell vervielfacht. Bereits 1989, in seinem Aufsatz „Quelques observations sur le développement des compétences communau-taires“ merkte Antonio Tizzano, nun Richter am Europäischen Gerichtshof, an, dass „une pratique extrêmement dynamique a conduit, avec des résultats parfois supérieurs aux prévisions les plus optimistes, à une extension progressive et considérable de ces compétences“.22 D.h., dass im Laufe der Entwicklung des Einigungsprozesses die Mitgliedstaaten immer breitflächiger Kompetenzen an die Gemeinschaft übertragen haben. Umso wichtiger ist folglich die Kompetenzverteilung geworden, um eine unkoordinierbare Verflechtung der Kompetenzen zu vermeiden. ← 6 | 7 →

Zwei Untersuchungspfade werden in dieser Arbeit eingeschlagen, um die Kompetenzverteilung im Kontext des Föderalisierungsprozesses zu analysieren. Zunächst befasst sich die Arbeit mit dem Gefüge selbst, in dem die Kompetenzverteilung stattfindet. Anhand der Theorie des Mehrebenensystems wird die Organisation der Union dargelegt, da sich in dieser Struktur eindeutige föderale Merkmale verkörpern. Im späteren Verlauf der Arbeit wird auf das Subsidiari-tätsprinzip eingegangen, da man kaum die Frage der Kompetenz in der Union stellen kann, ohne dieses Prinzip zu erwähnen, dessen Geist unweigerlich mit dem föderalem System verbunden ist.

Im Vorfeld der Verdeutlichung der zwei ausgewählten Untersuchungspfade sollen dennoch einige Bemerkungen über die materielle Begrenzung des Forschungsfeldes der Arbeit erörtert werden. Die erste Bemerkung betrifft die Auswahl eines Referenzgebiets. Da die Föderalisierung der EU nicht durch die Durchsetzung einer globalen Dynamik erfolgen kann, wird das Forschungsfeld auf einen bestimmten materiellen Bereich des Europarechts begrenzt: die Lebensmittelsicherheit. Dieser Bereich bietet ein interessantes Forschungsfeld, da es durch seine Entwicklung und seine Struktur einen Mikrokosmos der europäischen Herausforderung darstellt. Viele Beispiele der Arbeit beziehen sich auf den Bereich der Lebensmittelsicherheit, der als Referenzgebiet dient.

Unter dem Impuls von verschiedenen Faktoren hat sich das ursprüngliche Lebensmittelrecht in Richtung auf die so genannte Lebensmittelsicherheit entwickelt. Vom Gemeinschaftsrecht bis zum Unionsrecht hat dieser Bereich starke Wandlungen erlebt. Das Gemeinschaftsrecht befasste sich zwar früh mit der Gesundheit der Verbraucher, doch hatte am Anfang das Handeln der Gemeinschaft eher bei der Prävention gelegen. Allmählich haben sich ihre Aktivitäten in diesem Bereich vervielfältigt23. Es geht nun nicht mehr lediglich um Prävention, sondern auch um Krisenmanagement, Verbraucherschutz sowie um Positionierung auf der internationalen Ebene.

Strukturell betrachtet ist die Lebensmittelsicherheit keine eigenständige Politik der Gemeinschaft im Sinne des Dritten Teils des AEUV, sie ist ein Tätigkeitsbereich der EU. Dies führt zur ersten Feststellung: die europäische Reglementierung in der Lebensmittelsicherheit ist kein einheitliches Recht, sondern fragmentiert. Sie ist nämlich zwischen verschiedenen Politiken der EU geteilt: Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Gesundheitswesen. Diese drei Politiken stellen ← 7 | 8 → eine heterogene Gruppe dar. Die Landwirtschaft ist eine Gemeinsame Politik24 der EU, während der Verbraucherschutz und das Gesundheitswesen als „einfache“ Politiken der Union25 zu kategorisieren sind. Diese Unterteilung wirkt sich auf die Kompetenzgrundlage aus, auf der die Union im Lebensmittelsicherheitsbereich tätig sein kann. Denn es ergibt sich auf diesen drei verschiedenen Grundlagen ein Kompetenzspektrum, das von einer breiten Handlungsfähigkeit bis zur ergänzenden Rolle reicht. Daher werden Beispiele aus diesem Bereich genommen, um die theoretischen Ausführungen zu untermauern.

Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die in der Arbeit überwiegend verwendete deutsch- und französischsprachige Literatur. Vergleiche zwischen diesen zwei Rechtsordnungen mit zwei unterschiedlichen juristischen Traditionen werden oft unternommen und sind ein „Klassiker“ unter den rechtsvergleichenden Untersuchungen geworden. Die in der Literatur vertretenen Standpunkte in diesen „großen“ EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Begriffe „Föderation“, „Kompetenzverteilung“ oder „Subsidiaritätsprinzip“ bleiben jedoch weiterhin attraktiv. Diese Attraktivität resultiert folglich aus den wohl bekannten Unterschieden der Verfassungsordnungen der beiden Staaten, aber auch aus einer gewissen Angleichung dieser Ordnungen durch den Einfluss des Unionsrechts. Dies gilt insbesondere seit der Verfassungsänderung der französischen Konstitution vom 28. März 2003, die die Vertiefung des Dezentralisationsprozesses veranlasste, und nachdem das Subsidiaritätsprinzip Bestandteil der französischen Verfassungsordnung geworden ist.26 Daher wird im Rahmen dieser Untersuchung hauptsächlich auf die deutsche und die französische Literatur Bezug genommen. Nun zu den theoretischen Pfeilern der Arbeit:

2- Föderalisierungsprozess der Europäischen Union und Mehrebenensystem

Seit dem 1. Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon – auch Reformvertrag genannt – in Kraft. Der Art. 1 Abs. 3 EUV legt fest, dass die Union die EG ersetzt und als ihre Nachfolgerin zu betrachten ist, d.h., dass es keine Doppel-Struktur EU/EG mehr gibt, sondern lediglich die EU. Darüber hinaus wirkt er sich auf die so genannte „Säulen-Struktur“ aus, die drei Säulen (die drei Gemeinschaften ← 8 | 9 → als erste, die GASP und PJZS27 als zweite und dritte Säule) sind unter dem Dach der EU vereinigt. Die „Säulen-Struktur verliert insofern an Relevanz, da es keine Pfeiler mehr gibt, obgleich die Methode der intergouvernementalen Entscheidungsmethode nicht aus der europäischen Rechtsordnung verschwindet. Jedenfalls gibt es keine Säulen mehr. Daher gewinnt die Fragestellung nach einem neuen Organisationsmuster für die Union an Interesse. Die Arbeit versucht, dieser neuen Struktur eine Gestalt zu geben, wobei die Eigenheiten einer kreisförmigen Struktur genutzt werden. Hier wird die Union und ihre unterschiedlichen Handlungsebenen mit der Trichterarchitektur der konzentrischen Kreise symbolisch dargestellt. Das Modell der konzentrischen Kreise bietet nicht nur eine symbolische Darstellung der EU, sondern auch eine Korrespondenz ( im Sinne von Verbindung oder Anschluss) zur Theorie des Mehrebenensystems. Die Idee, die Union als ein kreisförmigen Gebilde darzustellen, ist ebenfalls nicht neu, wie der Beitrag von Gianni de Michelis aus dem Jahr 1990 mit dem Titel „Die EG als Gravitationszentrum: für ein Europa der vier Kreise“28 zeigt.

Neben dieser symbolischer Darstellung der Union befasst sich der erste Teil der Arbeit mit der Frage der differenzierten Integration oder wie Daniel Thym29 es bezeichnet, mit der „ungleichzeitigen“ Integration, insbesondere mit der Frage, ob differenzierte Integrationskreise im Rahmen des europäischen Mehrebenensystems möglich sind und ob sie für den Föderalisierungsprozess überhaupt förderlich sind. Altiero Spinelli, der am 14. Februar 1984 den „Entwurf eines Vertrags zur Gründung der Europäischen Union“ dem Europäischen Parlament (im weiteren Verlauf der Arbeit: EP) zur Abstimmung vorlegte, schien von der Methode der Differenzierung überzeugt zu sein, um das Ziel eines föderalen Europas zu erreichen. So schreibt Jean-Louis Quermonne in einem vom EP herausgegebenen Sammelband zum 100. Geburtstag von Spinelli: „In der Tat hatte Spinelli durch seine Arbeit in der Kommission einen Eindruck davon erhalten, welche gewaltigen Hindernisse sich auftürmten, wenn es um die Förderung der Sache der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der Verfassung von Philadelphia ging. Und er hatte verstanden, dass das Straßburger Parlament auf dem Boden der Realität bleiben musste, um voranzukommen. Daher fanden in den Vertragsentwurf Bestimmungen Eingang, die zwar ‘nicht in Stein gemeißelt waren’, aber den Staaten, die sich als Vorhut sahen, ihren Weg zu gehenerlaubten, ← 9 | 10 → ohne vom Veto der anderen daran gehindert zu werden. Das Mittel der Differenzierung ist ein Bestandteil dieser Strategie“.30

Über die Darstellung des europäischen Mehrebenensystems und seine Mitwirkung am Föderalisierungsprozess der Union hinaus, setzt sich die Arbeit mit der Frage der Subsidiarität auseinander. Denn um Kompetenzkonflikte oder mögliche Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Verhandlungsebenen des europäischen Mehrebenensystems zu vermeiden, soll das Subsidiaritätsprinzip die Norm sein, die benutzt wird.

Details

Seiten
XVI, 175
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653038088
ISBN (ePUB)
9783653999822
ISBN (MOBI)
9783653999815
ISBN (Paperback)
9783631607978
DOI
10.3726/978-3-653-03808-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Februar)
Schlagworte
Europäische Union Föderalismus Subsidaritätsprinzip Intergration Mehrebenensystem
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2013. XVI, 175 S.

Biographische Angaben

Marjolaine Savat-Gündüz (Autor:in)

Marjolaine Savat-Gündüz ist Juristin mit dem Schwerpunkt Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht. Sie hat u.a. in Paris und Frankfurt am Main studiert und verfügt über eine Maîtrise in Internationalem Recht der Universität Paris I Panthéon-Sorbonne sowie ein Magistra Legum, LL.M. der Universität Frankfurt. Gegenwärtig ist sie in einem französischen Kreditinstitut berufstätig und war nebenberuflich Lehrbeauftragte an der Universität Frankfurt.

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