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Die Romane Thomas Glavinics

Literaturwissenschaftliche und deutschdidaktische Perspektiven

von Jan Standke (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 433 Seiten

Zusammenfassung

Seit Erscheinen der Erfolgsromane Der Kameramörder (2001) und Die Arbeit der Nacht (2006) gehört Thomas Glavinic zu den wichtigen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In seinen Romanen erzählt er auf immer wieder neue Weise von Welten und Figuren, die dem Leser gleichermaßen vertraut und bedrohlich fremd erscheinen. Die Beiträge des Bandes erschließen die facettenreiche und vielfach ausgezeichnete Prosa des Autors aus zwei sich ergänzenden Perspektiven: Im ersten Teil des Bandes sind literaturwissenschaftliche Einzelanalysen der Romane sowie Studien zu den poetologischen Texten versammelt. Der zweite Teil bietet literatur- und mediendidaktische Beiträge, die sowohl in theoretischer wie auch konkret methodischer Absicht nach der Bedeutung von Glavinics Werk für den Deutschunterricht fragen. Ein ausführliches Interview mit Thomas Glavinic leitet den Band ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zu diesem Band
  • Ich bin ich, und ich bin nicht ich. Interview mit Thomas Glavinic
  • Gegenwartsliteraturforschung – Gegenwartsliteraturunterricht? Thomas Glavinics Romane in literaturwissenschaftlicher und deutschdidaktischer Perspektive
  • Literaturwissenschaftliche Perspektiven
  • Das bin doch ich – Was denn eigentlich? Zu Strategien der Definition eines Autor-Ichs in Das bin doch ich
  • Atmosphärenmagie. Autorbild, Wirkungsästhetik und Werkverständnis in Thomas Glavinics poetologischen Texten
  • „Das Ich. Das Ich der anderen.“ Identität als zwischenmenschliches Ereignis bei Thomas Glavinic
  • Autor-Anti-Helden. Literarische Inszenierungspraktiken zwischen Autofiktion und Parodie bei Bret Easton Ellis, Michel Houellebecq und Thomas Glavinic
  • Vom „gesteigerte(n) Sich Ernstnehmen“. Thomas Mann und Thomas Glavinic
  • Die Poetik der ‚snap shots‘. Thomas Glavinics Beschreibungsästhetik oder die Angst vor dem Verlust des Augenblicks
  • Die Jonas-Romane. Überlegungen zu Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht, Das Leben der Wünsche und Lisa
  • Solipsismus in der Großstadt. Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht
  • Die Zukunft einer Illusion? Zur Medialität des Glaubens in Thomas Glavinics Reiseerzählung Unterwegs im Namen des Herrn
  • Unterwegs im Namen des Erzählers. Faktualisierung des Fiktiven in Thomas Glavinics Unterwegs im Namen des Herrn
  • Multiple Inszenierungen. Thomas Glavinics Lisa
  • Man kommt nicht als Mann zur Welt, man wird es. Genderkritische Leseweise von Thomas Glavinics Wie man leben soll
  • Deutschdidaktische Perspektiven
  • (Medien-)Sprache zwischen Bild, Wort und Tat. Sprachlich-literarische Erfahrungen der Menschen-Technik-Symbiose an Glavinics Roman Der Kameramörder
  • Wenn der Erzähler der Mörder ist. Ein Unterrichtsmodell zu Thomas Glavinics Roman Der Kameramörder
  • Das Verschwinden des Unmittelbaren. Der Kameramörder und Lisa als unheimliche Geschichten von der neuen Einsamkeit
  • Medienkompetenz erlesen. Zu Thomas Glavinics fiktionalen Medienkulturen
  • Wenn Wünsche wahr werden. Glavinics Das Leben der Wünsche im Literaturunterricht der Sekundarstufe II
  • Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht als Beispiel für modernes Erzählen im Deutschunterricht der Sekundarstufe II
  • Tod des Autors und Satire auf den Literaturbetrieb. Thomas Glavinics Roman Das bin doch ich im Literaturunterricht der Sekundarstufe II
  • Die Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

← 8 | 9 → Zu diesem Band

Wer nach der Gegenwart fragt, zumal nach der literarischen, kommt eigentlich immer schon irgendwie zu spät. Was uns als gegenwärtig gilt, ist in dem Moment der Bewusstwerdung, der reflexiven Durchdringung bereits dem Lauf der Zeit in die Vergangenheit gefolgt. Die Vorbehalte gegenüber der Ergiebigkeit und Unschärfe des Begriffs ‚Gegenwart‘ ließen sich an dieser Stelle weiter entfalten. Von der Auseinandersetzung mit der neuesten Literatur sollten diese Einwände dennoch nicht abhalten. Mit dem Österreicher Thomas Glavinic (* 1972) steht in dem vorliegenden Band ein Autor im Mittelpunkt, der in seinen Romanen mal in fantastischer, mal in realistischer, stets aber in beeindruckender Weise von Welten und Figuren erzählt, die dem Leser gleichermaßen vertraut und bedrohlich fremd erscheinen. Wie kaum ein anderer Autor vermag Glavinic in seinen Texten das post-postmoderne Subjekt zu sezieren und dabei in der scheinbaren Normalität der Existenz das Abweichende, Skurrile, Abgründige offenzulegen, ohne in einen existenziellen Pessimismus abzubiegen. „Alptraum und Glück“ – so der treffliche Titel des Bandes zu Glavinics Poetikprofessur in Bamberg 2012 – durchdringen sich in den Erzählwelten des österreichischen Autors unaufhörlich. Auch sind Gegenwart und Geschichte in Glavinics Romanen motivisch miteinander eng verkoppelt. In seiner poetologischen Reflexion Meine Schreibmaschine und ich (2014) bemerkt er hierzu:

In Wahrheit gibt es nicht viele Motive, und es sind immer schon dieselben gewesen. Der Tod, die Liebe, der einsame Held und die schreckliche Welt, Verrat, der Narr, die Einsamkeit – kein Motiv, das mir einfällt, ist neu, Herausforderung und Aufgabe des Autors ist es, das Motiv mit neuem Leben zu füllen, es mit mir selbst, durch meine Persönlichkeit als etwas Neues, nie Dagewesenes zu gestalten. (S. 56)

Die folgenden Beiträge wollen dem „Neuen“ und „nie Dagewesenen“, man könnte sagen – dem ‚Gegenwärtigen‘, in Glavinics Romanen nachspüren, es zu den ‚Schreibweisen‘ der Gegenwartsliteratur in Beziehung setzen und so das vorliegende Werk des Autors in verschiedenen Rezeptionskontexten möglichst umfassend und differenziert erschließen.

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, stehen literaturwissenschaftliche Studien und deutschdidaktische Reflexionen im vorliegenden Band nebeneinander. Eine solche Konzeption ist durchaus ungewöhnlich. Die Leser sollen so auf Berührungspunkte zwischen den disziplinären Diskursen aufmerksam gemacht werden, die im akademischen Umgang mit der Gegenwartsliteratur allzu oft ausgeblendet werden. Erprobt wurde ein solches Vorgehen im Rahmen eines Master-Seminars an der Universität Osnabrück im Wintersemester 2011/12. Die ← 9 | 10 → Begeisterung der Studierenden für Glavinics Prosa, aber auch die vielen interessierten und kritischen Nachfragen zur Eignung und Relevanz von Gegenwartsliteratur für das kompetenzorientierte literarische Lernen im Deutschunterricht stifteten den Impuls, die Texte des Österreichers im größeren Rahmen zu disku-tieren.

Ein herzlicher Dank gebührt zuerst den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen und zahlreichen hilfreichen Hinweisen zum Entstehen des Bandes beigetragen haben. Christian Dawidowski (Osnabrück) hat den Band mit kollegialem Interesse in die Schriftenreihe Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik aufgenommen, wofür ihm an dieser Stelle ebenfalls gedankt sei. Michael Rücker (Peter Lang Verlag) hat die Entstehung des Buches zuvorkommend und geduldig begleitet. Besonderer Dank gilt auch den Organisatoren der Bamberger Poetikprofessur für Thomas Glavinic, Andrea Bartl, Jörn Glasenapp und Iris Hermann. Die Vorbereitungen zu diesem Band haben sich mit der Bamberger Planung überschnitten. Die freundliche Einladung, im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums in der Villa Concordia literatur- und mediendidaktische Überlegungen zum Werk Glavinics vorzustellen und zu diskutieren, hat der Arbeit am vorliegenden Band wichtige Anregungen geliefert.

Vor allem ist jedoch Thomas Glavinic zu danken, der sich bei verschiedenen Gelegenheiten als stets aufgeschlossener, interessierter und großzügiger Gesprächspartner – so auch aus Anlass des in diesem Band veröffentlichten Interviews – erwiesen hat.

Magdeburg im Juni 2014

← 10 | 11 → Ich bin ich, und ich bin nicht ich. Thomas Glavinic im Interview1

Jan Standke: Lieber Thomas Glavinic, in Das größere Wunder – Ihrem aktuellen Roman – trifft der Leser auf Jonas. Auch in Die Arbeit der Nacht und Das Leben der Wünsche spielt eine Figur namens Jonas eine zentrale Rolle. Sie haben angedeutet, dass Sie sich Jonas im Rahmen einer Trilogie widmen möchten. Ist die große Erzählung um Jonas nun tatsächlich abgeschlossen? Was würden Sie noch erzählen wollen?

Thomas Glavinic: Ich war mir nie ganz sicher, dass drei Bücher reichen würden, mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich noch einiges zu erzählen habe. Ein viertes wird es wohl geben. Vielleicht auch ein fünftes, ich weiß es nicht.

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JS: Die Jonas-Figuren der drei Romane sind nicht miteinander identisch. Und doch ziehen sich zahlreiche Fäden durch die Romane hindurch, die das Schicksal der Figuren miteinander verweben. Wer also ist Jonas?

TG: Das weiß ich nicht. Ich hoffe, ich erfahre es von Literaturwissenschaftlern. Er hat auf alle Fälle einiges mit mir zu tun, wobei ich das insofern abschwächen möchte, als ich leider nicht behaupten darf, über seine Stärken zu verfügen – mir sind nur seine Schwächen ziemlich vertraut.

JS: Gerade mit Blick auf die Jonas-Romane wurden Sie von der Kritik als versierter Konstrukteur literarischer Doppelbödigkeit und subtiler intertextueller Verweise gelobt. Ist Ihre Poetik mit diesen Zuschreibungen angemessen auf den Punkt gebracht?

TG: Auch dazu kann ich wenig sagen. Das möchte ich anderen überlassen. Im Übrigen habe ich ständig das Gefühl, mich weiterzubewegen, auch und gerade als Autor, das bedeutet, was mich gestern fasziniert hat, interessiert mich heute ← 11 | 12 → vielleicht schon nicht mehr. Das merkt man aber selbst nicht zwingend sofort. Ich kenne mich selbst nicht, ich weiß bloß manchmal ein wenig darüber Bescheid, wer ich gewesen bin.

JS: Sollte die Geschichte um Jonas nun ihr Ende gefunden haben: Wie ist es, ein solches Opus magnum abzuschließen? Welche Spuren hat die Arbeit an Ihrem bislang umfangreichsten Roman hinterlassen?

TG: Die Arbeit der Nacht war schlimmer, es war anstrengender, gedanklich drei Jahre lang jeden Tag durch diese leere Welt zu ziehen. Das größere Wunder sollte trotz allem ein positives Buch sein, ein Buch, das an den Menschen und an das Leben glaubt, in gewisser Weise der genaue Gegensatz zur Arbeit der Nacht. Das fühlt man natürlich auch am Schreibtisch.

JS: Steht Ihnen der Jonas des letzten Romans somit näher als die Figur aus Die Arbeit der Nacht?

TG: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Er ist ja kein anderer. Er ist nur in einem anderen Leben aufgewacht.

JS: Für den Ich-Erzähler Thomas Glavinic in Ihrem Roman Das bin doch ich war eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis keine unwichtige Angelegenheit. Mit eben diesem Roman schafften Sie es auf die Longlist 2007. Und auch im Jahr 2013 waren Sie mit Das größere Wunder auf der Longlist verzeichnet. Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?

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TG: Ich muss ehrlich sagen, als ich mit Die Arbeit der Nacht nicht mal auf die Longlist gekommen bin, war ich sehr enttäuscht. In einiger Hinsicht muss man das jedoch eine heilsame Erfahrung nennen, denn seither nehme ich diese Dinge nicht mehr so ernst. Wenn mir jemand einen Preis geben will, werde ich mich freuen, wenn nicht, auch gut. Meine Arbeit ist mir wichtig, meine Bücher und die Meinung derer, von deren Integrität und Kompetenz ich überzeugt bin. Und selbstverständlich freue ich mich nach wie vor, wenn ein ganz gewöhnlicher Leser, ich meine, jemand ohne professionellen Lesehintergrund, auf mich zukommt und mir erzählt, dass ihm mein Buch gut gefallen habe. Ob sich Jurys ← 12 | 13 → auf Autorin A oder Autor B oder auf mich einigen, hat für mich weniger Relevanz als die Frage, ob meine Bücher noch in zwanzig Jahren gelesen werden. Denn das ist wichtig: dass die Bücher lebendig bleiben. Was freilich auch literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen erfordert.

JS: Mit Das bin doch ich haben Sie in der Literaturkritik wie auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung die Diskussion um Konzepte von Autorschaft angeheizt: Wie würden Sie das Verhältnis Autor – Text in Ihrem Werk beschreiben?

TG: Ich bin ich, und ich bin nicht ich. Das wechselt. Schlussendlich hat es keine Bedeutung. Alles ist Fiktion. Ich lüge sogar, wenn ich die Wahrheit sage, und wenn ich die Wahrheit sage, enthält sie mit Sicherheit eine Lüge. In dem Moment, in dem ich mich an den Schreibtisch setze, verwandle ich mich – ich würde sagen, nicht in jemanden, sondern in etwas. Ich bin ein Prinzip, eine Idee, ich verknüpfe die Fäden zwischen dem Gesagten und dem Ungesagten, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Wirklichen und dem Unwirklichen, und als das, was sich da in der Mitte befindet, darf ich alles, jedenfalls alles, was stimmt, und die Frage nach dem schreibenden Subjekt stellt sich so nicht mehr.

JS: Eine ‚postmoderne‘ Poetik? Können Sie mir solchen Zuschreibungen etwas anfangen?

TG: Nein, damit beschäftige ich mich nicht.

JS: Ihre Texte wurden in der letzten Zeit verstärkt zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. Als Poetikprofessor an der Universität Bamberg konnten Sie im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums beobachten, wie professionelle Leser mit Ihren Texten umgehen. Wie erleben Sie dieses akademische Interesse an Ihrem Werk?

TG: Sehr schmeichelhaft. Ich staune, wie weit es ein oststeirischen Dialekt sprechender Taxifahrer bringen kann. Diese Auseinandersetzung mit meinen Büchern freut mich wirklich sehr, denn ich schreibe ja nicht zuletzt auch für jene Leser, die sich tiefer in einen Text hineinarbeiten können. Wenn die alle wegschauen würden, käme ich mir ziemlich verschmäht vor. Diesen Korb wollte ich nie kriegen.

JS: Geht Ihnen die literaturwissenschaftliche Interpretation Ihrer Texte manchmal auch zu weit?

← 13 | 14 → TG: Nein, eigentlich nicht. Wobei ich natürlich nicht alles kenne, was über meine Bücher geschrieben worden ist.

JS: In der Forschung werden Sie häufig als ‚Medienautor‘ gehandelt. Tatsächlich spielen Medien in Ihren Texten immer wieder eine große Rolle. Auch als Autorpersönlichkeit sind Sie mit eigener Homepage oder auf Facebook präsent. Wie beeinflussen moderne Informations- und Kommunikationsmedien Sie tatsächlich im Schreiben und Lesen?

TG: Medienautor? Das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Medien unterschiedlicher Art spielen in unserem täglichen Leben eine große Rolle, wir informieren uns nicht nur über das Fernsehen, sondern über verschiedene andere Kanäle, dies ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, jedenfalls für mich und die Leute, die ich kenne. Dass sich das in der Literatur widerspiegelt, ist nur natürlich, man schreibt Romane ja in der Regel aus dem Kern einer Gesellschaft heraus. Was meine Präsenz im Internet anbelangt, so gilt es hier zu relativieren: Sowohl meine Homepage als auch meine Fanseite auf Facebook werden vom Hanser Verlag betrieben, damit habe ich nicht viel zu tun. Ich bin auf Facebook, aber nur privat, so wie fast jeder andere, den ich kenne.

JS: In Die Arbeit der Nacht werden die Videokameras, mit denen Jonas das menschenleere Wien und sich selbst filmt, gewissermaßen zu Erkenntnisinstrumente; in Lisa teilt sich der Ich-Erzähler – ohne genau zu wissen, ob die Übertragung tatsächlich gelingt und gehört wird – ausschließlich über das Internet-Radio mit. Ich habe schon den Eindruck, dass den ‚Medien‘ hier eine besondere Bedeutung zukommt.

TG: Gut, ja, stimmt schon. Aber die Frage war ja, inwieweit mich moderne Kommunikationsmedien beim Schreiben beeinflussen, und da würde ich sagen, nicht mehr und nicht weniger als jeden anderen. Sie gehören eben auf das Selbstverständlichste zu unserem täglichen Leben. Ich sehe daher in meinen Büchern nichts, was mich zu jemandem machen würde, auf den der Begriff „Medienautor“ passen würde.

JS: Heutzutage wird verstärkt über einen Wandel der literalen Kultur diskutiert. Besonders die Entwicklung des Buchmarktes und die Veränderungen von Lesepraktiken werden teilweise kritisch beobachtet. Macht es für Sie einen Unterschied, ob man Ihre Texte liest oder als Hörbuch hört?

TG: Das ist ein gewaltiger Unterschied! Das beginnt ja schon mit der Unsitte, Bücher für die Hörbuchfassung massiv zu kürzen! Ich sage, das ist nicht mein Buch, das ist etwas, das Sie neugierig machen soll auf mein Buch. Mein Buch ← 14 | 15 → ist das, was ich geschrieben habe, ohne dass man da eine Zeile stiehlt, ganz zu schweigen von hundert Seiten oder mehr, das ist völlig absurd. Außerdem: Der Sprecher eines Hörbuches bringt seinen eigenen Ton, seine Interpretation in den Text. Dieser Ton kann stimmen oder nicht. Oft stimmt er nicht.

JS: Bleiben wir noch kurz bei diesem Thema: Einige Ihrer Texte wurden bereits medial adaptiert (Verfilmung, Theater). Wie gehen Sie mit diesen Adaptionen um? Schauen Sie sich die Aufführungen bzw. Verfilmungen an?

TG: Manchmal ja, manchmal nein. Mitunter bin ich positiv überrascht, dann stürzt mich das Ergebnis wieder in Verzweiflung. Am besten wäre es natürlich, gar keine Adaptionsrechte zu verkaufen, keine Hörbücher, keine Bühnenfassungen, keine Filmrechte, aber diese Radikalität kann ich mir nicht leisten.

JS: Einige Ihrer Romane werden mit so genannten ‚Buchtrailern‘ beworben. Im Trailer zu Das größere Wunder spielen Sie selbst die ‚Hauptrolle‘. Der Trailer zu Das Leben der Wünsche hingegen setzt eine Schlüsselpassage des Romans szenisch um. Zuweilen ‚verselbständigen‘ sich solche Kurzfilme und werden dann verstärkt mit Blick auf die ihnen eigene Ästhetik rezipiert. Interessieren Sie solche Entwicklungen, die vom Buch ausgehen?

TG: Ehrlich gesagt, nein.

JS: Eine letzte Nachfrage zum Literaturbetrieb: Von der Frankfurter Buchmesse bloggten Sie über eine deutliche Tendenz zur ‚Mistlektüre‘. Wie steht es um die Gegenwartsliteratur?

TG: Diese Frage muss man an Menschen richten, die einen Überblick über die Gegenwartsliteratur haben, mir geht der in Wahrheit ab. Ich lese recht wenig, zumindest sehr wenig deutschsprachige Gegenwartsliteratur.

JS: Der vorliegende Band setzt die literarturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ihrem Werk, von der weiter oben bereits die Rede war, fort. Die Perspektive wird hier jedoch noch erweitert. Im zweiten Teil des Bandes schlagen Literatur- und MediendidaktikerInnen Ihre Texte für die Behandlung im Deutschunterricht vor. Wie fühlt es sich an, zum ‚Bildungsgut‘ zu werden?

TG: Naja, wenn ich morgens in den Spiegel schaue, denke ich ja nicht, ich sehe jetzt gerade Bildungsgut. Für mich ist der Gedanke an meine Rezeption selten präsent. Wenn mir eine kluge Besprechung oder ein Aufsatz vorgelegt wird, lese ich das und freue mich, manchmal schreibe ich sogar dem Menschen, der da etwas gefunden und auf den Punkt gebracht hat, was ich ausdrücken wollte, aber ← 15 | 16 → danach ist dieser Aspekt meiner Arbeit sofort wieder vergessen. Schon aus Vorsicht: Es gibt so viele übereitle Schriftsteller, die an nichts als an ihre Bedeutung denken können – so, habe ich mir zu Anfang geschworen, will ich nie werden. Ich will nichts als immer bessere Bücher schreiben und einigermaßen davon leben können.

JS: Würden Sie selbst einen oder mehrere Ihrer Texte für den Deutschunterricht empfehlen? Wenn ja, welche und warum gerade diese? Oder raten Sie von einer didaktisch motivierten Lektüre Ihres Werks lieber ab?

TG: Ich würde grundsätzlich Gegenwartsliteratur für den Deutschunterricht empfehlen, aber das müssen ja nicht unbedingt meine Bücher sein, obwohl ich nichts dagegen einzuwenden habe. Ich denke, man muss junge Menschen an das Lesen heranführen, und diesem Gedanken erweist man keinen guten Dienst, wenn man gleich den Faust auffährt. Junge Leute brauchen etwas, das sie er-kennen.

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JS: Für Schüler wäre es doch aber sicherlich auch spannend, in Das Leben der Wünsche etwas vom Faust zu erkennen?

TG: Ich bin nicht sicher, ob Sie da die Entdeckerlust der Schüler nicht einen Tick überschätzen.

JS: Welche Texte haben Sie im Deutschunterricht am meisten beeindruckt?

TG: Gar keine. Was mich beeindruckt hat, habe ich unter der Schulbank und zuhause gelesen. An den Deutschunterricht erinnere ich mich mit Grauen. Es war die totale Langeweile. Wie auch jede andere Unterrichtsstunde, vielleicht mit Ausnahme von Geschichte.

JS: Wie muss man sich den Leser Thomas Glavinic vorstellen? Lesen Sie noch ganz frei und lustbetont oder eher ‚verwertungsbezogen‘?

TG: Ich lese alles – und dann wieder längere Zeit nichts, das hängt von meiner aktuellen Lebenssituation ab. Ich lese Clever&Smart-Comics und Denis Johnson, Schachzeitungen und Chandler, Bergbücher und Vargas Llosa. Was mich ← 16 | 17 → fesselt, lese ich weiter. Was mich auf den ersten Seiten nicht packt, lege ich weg.

JS: Eine große deutsche Tageszeitung hat kürzlich Rüdiger Safranski und Daniel Kehlmann über Goethe ins Gespräch miteinander gebracht. Wie wichtig sind ‚Klassiker‘ für Sie?

TG: Sie haben mit meiner Lebensrealität wenig zu tun, was mich nicht daran hindert, Tolstoi oder Hamsun zu verehren. Bei Depressionen gibt es keine hilfreichere Lektüre als Anna Karenina. Trotzdem lese ich normalerweise lieber den neuen Marquez als ein Buch, das vor 250 Jahren geschrieben worden ist. Das ist beim Schach ähnlich: Die alten Meister waren große Vorbilder, sie waren die besten ihrer Zeit, doch das Schach hat sich weiterentwickelt.

JS: Nach der Veröffentlichung von Das größere Wunder: Woran arbeiten Sie zurzeit?

TG: An Lesereisen und der Ordnung meiner Gedanken.

JS: Zum Schluss: Welche Frage würden Sie in einem Interview gern einmal beantworten?

TG: Da fällt mir wirklich nichts ein. Ich finde eher, dass ich in Interviews immer besonders viel Unsinn rede, und jede Frage weniger ist eine Chance mehr, mich nicht vollends unmöglich zu machen.

JS: Vielen Dank für dieses Gespräch.← 17 | 18 →

_______________

1Fotos: Thomas Glavinic © Flora P. Photography, Graz (www.florap.com).

← 18 | 19 → Gegenwartsliteraturforschung – Gegenwartsliteraturunterricht? Thomas Glavinics Romane in literaturwissenschaftlicher und deutschdidaktischer Perspektive

Jan Standke

Für M. & S., meine Liebsten

Gegenwartsliteraturforschung?

Die Frage, was unter deutschsprachiger ‚Gegenwartsliteratur‘ zu verstehen, wie mit ihr methodisch angemessen umzugehen – kurz: wie über sie ‚zu sprechen‘ sei, ist für die germanistische Literaturwissenschaft traditionellerweise problematisch. Mit verschiedenen – sich in der Fachgeschichte jedoch mitunter wiederholenden Argumenten – wurde die Beschäftigung mit der neuesten Literatur in der Vergangenheit deshalb nicht selten an den Rand des Faches delegiert oder ganz der Literaturkritik überantwortet. Seit einigen Jahren hat die Gegenwartsliteratur im Fachdiskurs jedoch wieder auf breiterer Basis an Attraktivität gewonnen. Dokumentiert wird das Interesse durch Forschungsnetzwerke, zahlreiche Konferenzen und Sammelbände.1 Nicht zuletzt spielt die Gegenwartsliteratur, wie die Lehrveranstaltungsverzeichnisse deutscher Universitäten zeigen, auch im germanistischen Studium und damit in Teilen der Deutschlehrerbildung wieder vermehrt eine Rolle.

Überblickt man vor diesem Hintergrund die germanistischen Debatten zur Bedeutung und Funktion der Gegenwartsliteratur in den letzten Jahrzehnten, so zeigt sich – wie einleitend bereits angemerkt –, dass dieses Engagement der Germanistik keineswegs konstant war. Der aktuellen Phase literaturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gingen Perioden voraus, die von einem konjunkturell deutlich schwankenden Interesse an der jeweils neuesten Literatur geprägt waren.2 Den Rahmenbedingungen dieser wechselhaften und bislang noch weithin ungeschriebenen Geschichte der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚literarischen Gegenwart‘ und den ihm jeweils zugeordneten Autoren und Texten widmet sich mittlerweile eine von der modernen Wissenschaftsforschung inspirierte Fachgeschichte der Literaturwissenschaft. ← 19 | 20 → Gefragt wird dabei nach dem „literaturwissenschaftlichen doing things with text“, das durch „Wertungs- und Zuschreibungsprozesse [bestimmt ist], die durch Wiederholung und Routine“ ein implizites Wissen herausbilden und verfestigen, das in bestimmte Teilzeiträumen der germanistischen Fachgeschichte wiederum die Praktiken im literaturwissenschaftlichen Feld beeinflusst. Neben der Etablierung dieser wissenschaftssoziologischen Perspektive wurde im Rahmen der jüngeren Diskussion noch auf einen weiteren blinden Fleck des literaturwissenschaftlichen Interesses am literarischen Feld der Gegenwart hingewiesen:

Wenig ausgeprägt ist bislang außerdem die Bereitschaft der Wissenschaftler, den Praktiken und Techniken anderer Akteure, die am ‚Gegenwartsliteratur-Machen‘ beteiligt sind – namentlich jener des Literaturbetriebs –, entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken. Insbesondere vor dem Hintergrund des massiven Wandels im literarischen Feld der letzten Jahrzehnte – man denke etwa an aktuelle Konzentrationsprozesse im Buchhandel und Verlagswesen, an die gewachsene Relevanz von Lite-raturvermittlungsformaten wie Lesungen und Festivals oder an die Etablierung der Creative-Writing-Schulen – scheint es aber geboten, Texte verstärkt in ihren Kontexten zu lesen, sprich: die Literatur im Zusammenhang ihrer sozialen, kulturpolitischen und ökonomischen Entstehungs-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen wahrzunehmen. Aufgrund der ökonomischen, medialen und institutionellen Neuerungen im literarischen Feld müsste Literatur auch als kulturelle Praxis und soziales Handeln in institutionalisierten Rollen verstanden werden. Demgemäß gilt es, das gesamte literarische Feld, vor allem auch den Literaturbetrieb, in den Blick zu nehmen.3

Momentan zeichnen sich, so könnte man die hier entworfene sozialgeschichtlich informierte Programmatik zusammenfassen, mehr und mehr die Konturen einer ‚Gegenwartsliteraturforschung‘ ab, die durch die begriffliche und methodische Reflexion sowie die (Rück-)Gewinnung kontextualisierender Sichtweisen – vermutlich langfristig – „historisch begründeten Berührungsängste bezüglich des Forschungsgegenstandes ‚Gegenwartsliteratur‘“4 überwunden zu haben scheint.

Dass ein solcher, auf die literarische Gegenwart gerichteter Diskurs seine ‚Vorzeigeautoren‘ kürt, an deren Schaffen sich die neuen Lesarten in exemplarischer Weise besonders eindringlich entfalten und erproben lassen, ist nicht verwunderlich. Unter diesen Autoren, denen sich die neue ‚Gegenwartsliteraturforschung‘ bevorzugt widmet, nimmt der österreichische Autor Thomas Glavinic einen prominenten Platz ein. Kaum ein aktueller literaturwissenschaftlicher Sammelband zur Gegenwartsliteratur, der das Œuvre und die mediale ← 20 | 21 → Selbstinszenierung des Autors nicht berücksichtigt.5 Indem Glavinics Texte – vom literarischen Debüt Carl Haffners Liebe zum Unentschieden (1998) bis zum monumentalen und die Reihe der Jonas-Romane vorläufig abschließenden Roman Das größere Wunder (2013) – auf so unvergleichliche und immer wieder neue Weise „leichtfüßig von der Schwere“ erzählen,6 eröffnen sie der literaturwissenschaftlichen Forschung einen analytisch schwerlich auszuschöpfenden literarischen Kosmos. In diesem ausufernden inhaltlichen und formalen Reichtum erkennt Andrea Bartl jedoch auch einen roten Faden, der sich durch das Werk des Österreichers zieht: „Glavinics Texte erarbeiten in ihren Figurendarstellungen die anthropologische Diagnose, der Mensch sei beständig von Angst, Einsam-keit und dem Tod bedroht, was in ihm aber, neben Verzweiflungs- oder Apathie-Schüben, ‚trotzdem‘ eine paradoxe Suche nach dem Glück und einer utopischen Vorstellung von Liebe auslöst.“7 Glavinics Romane sezieren somit sprachgewaltig die Existenzbedingungen der Gegenwartsgesellschaft und offenbaren dabei treffsicher sowohl die Abgründe des (post-)postmodernen Subjekts als auch dessen Techniken der ‚Selbstsorge‘.8

Aber nicht nur Glavinics Romane sind für die Gegenwartsliteraturforschung von Interesse. Auch die vielfältigen Inszenierungspraktiken der „Subjektform Autor“ – gemeint sind „jene paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von Schriftstellern, mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und / oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen (wollen)“9 – sind Thema zahlreicher jüngerer Untersuchungen. Zu solchen „Techniken und Aktivitäten“ gehört beispielsweise das Format der Poetikvorlesung.10 Glavinic liefert der Gegenwartsliteraturforschung auch hier reiches Material, an dem sich der neue analytische Blickwinkel erproben lässt. Im Sommer 2012 nahm er die renommierte Poetikprofessur der Universität Bamberg wahr. In öffentlichen Vorträgen und Seminaren gab er Einblicke in seine Poetologie ← 21 | 22 → und berichtete über sein Verhältnis zu professionellen Lesern.11 Gegenüber der literaturkritischen Wertung und literaturwissenschaftlichen Deutung seiner Texte ‚inszeniert‘ – um die Terminologie der Gegenwartsliteraturforschung beizubehalten – sich Glavinic als aufgeschlossener Autor:

Ich mag Menschen, die ihr Leben der Literatur widmen und sich mit Respekt und Beharrlichkeit in Romane hineinarbeiten. Es gibt Kritiker, die ich nicht mag, weil es ihnen nicht um die Literatur geht, sondern nur um sich selbst, um ihre Karriere oder ihr Ego. Ich mag Kritiker, die sachlich und zugleich leidenschaftlich für die Literatur arbeiten. Ich mag Literaturwissenschaftler. Ich mag sie besonders, wenn sie Literatur wirklich lieben. Was ich sehr mag, sind kluge Menschen, speziell solche, die über meine Bücher schreiben. In den Zeitungen liest man tiefergehende Betrachtungen zu einem Roman ja selten, weil da zum einen zu wenig Platz ist für eine substanziellere Auseinandersetzung mit einem Buch und weil Rezensenten zum anderen offenbar unter großem zeitlichen und ökonomischen Druck stehen, weswegen sie Bücher zunehmend querzulesen scheinen. So etwas mag ich nicht. Ich mag es, wenn Menschen über meine Romane nachdenken.12

Details

Seiten
433
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653049176
ISBN (ePUB)
9783653996999
ISBN (MOBI)
9783653996982
ISBN (Hardcover)
9783631638996
DOI
10.3726/978-3-653-04917-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Literaturdidaktik Gegenwartsliteratur Deutschunterricht Mediendidaktik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 433 S.

Biographische Angaben

Jan Standke (Band-Herausgeber:in)

Jan Standke ist Juniorprofessor für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Magdeburg.

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Titel: Die Romane Thomas Glavinics
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