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Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal

Die Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941/42)- Mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen

von Gregor-Sönke Schneider (Autor:in)
©2014 Dissertation XXI, 297 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie, im Sinne der Intellectual History angelegt, rekonstruiert und dokumentiert den originären wie konzeptionellen Beitrag Leo Löwenthals zur frühen Kritischen Theorie, wie sie in den 1930er Jahren von den engsten Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung – Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Friedrich Pollock und Walter Benjamin – entwickelt und in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert wurde. Als verantwortlicher Schriftleiter der Zeitschrift sicherte Löwenthal dem hier gebotenen Forum für kritische Sozialforschung den Fortbestand auch in politisch schwierigen Zeiten. Diese besondere Rolle Löwenthals schmälert nicht die Bedeutung seiner theoretischen Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung, stehen sie doch in enger inhaltlicher Beziehung zu den Arbeiten der anderen Institutsmitglieder und waren wie diese für die Entwicklung der Kritischen Theorie unentbehrlich.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • In memoriam. Alfred Schmidts Idee eines Forums für materialistische Forschung
  • Das Wesen der Kritischen Theorie ist die unerbittliche Analyse des Bestehenden
  • 1 Einleitung
  • 2 Der Produktionszusammenhang der institutionsunabhängigen Institution ZfS
  • 2.1 Einleitung
  • 2.2 A collective entity
  • 2.3 In statu nascendi
  • 2.4 Freie Radikale
  • 2.5 Üble Nachrede
  • 3 Die Konzeption der Kritischen Theorie in der Zeitschrift für Sozialforschung
  • 3.1 Einleitung
  • 3.2 Theorie und Praxis
  • 3.3 Gegenwartswissenschaft
  • 3.4 Skandalon
  • 3.5 Hinter der Sklavensprache
  • 3.5.1 Revolutionärer Materialismus
  • 3.5.2 Ideologie und Ideologiekritik
  • 3.5.3 Materialistische Kunstauffassung
  • 3.6 Sprengung der Grenzen wissenschaftlicher Arbeitsteilung
  • 3.7 Von der Psychoanalyse zur analytischen Sozialpsychologie
  • 3.7.1 Löwenthal und das Thorapeutikum
  • 3.7.2 Psychoanalyse: die „unentbehrliche Hilfswissenschaft“
  • 3.7.3 Zur Konzeption einer analytischen Sozialpsychologie
  • 3.8 Löwenthals Literatursoziologie im Dienst der analytischen Sozialpsychologie
  • 3.8.1 Literatur: Fingerabdruck des gesellschaftlichen Bewusstseins
  • 3.8.2 Rezeptionsanalyse als Methode
  • 4 Analysen zur bürgerlichen Gesellschaft
  • 4.1 Individuum & Ideologie
  • 4.1.1 Einleitung
  • 4.1.2 Individuum und Konkurrenzprinzip
  • 4.1.2.1 Inter-individuelle und inner-individuellen Folgen
  • 4.1.2.2 Relikte des Individuums
  • 4.1.2.2.1 Adjustment und Monade
  • 4.1.2.2.2 Zum Gefühl des bürgerlichen Individuums: Angst
  • 4.1.2.3 Die dialektischen Konsequenzen der patriarchalischen Gesellschaft
  • 4.1.3 Ideologische Individualität
  • 4.1.3.1 Der Begriff der affirmativen Kultur
  • 4.1.3.2 Trug der Freiheit
  • 4.1.3.3 Löwenthals Analysen zur Kulturindustrie
  • 4.1.3.3.1 Biographien: Literatur der Massenkultur
  • 4.1.3.3.2 Ideologie und Zerstörung der Individualität
  • 4.1.3.3.3 Exkurs: Namen in der Kulturindustrie
  • 4.1.3.3.4 Die Produktion ontologischen Scheins: Gesellschaft als zweite Natur
  • 4.2 Das Bewusstsein des Kleinbürgertums im Spät-Liberalismus
  • 4.2.1 Einleitung
  • 4.2.2 Ohnmacht
  • 4.2.3 Der anale und sadomasochistische Charakter
  • 4.3 Anfänge autoritärer Ideologie
  • 4.3.1 Einleitung
  • 4.3.2 Liberalismus und Faschismus
  • 4.3.3 Autoritäre Ordnung
  • 4.3.4 Eine neue bürgerliche Naturverfallenheit
  • 4.3.4.1 Natur
  • 4.3.4.2 Eliminierung der Gesellschaft
  • 4.3.4.3 Reduktion aufs naturhafte Subjekt
  • 4.3.5 The Beginning of The End of Reason
  • 4.3.6 Bewusste Passivität
  • 4.3.7 Der naturhafte Heros
  • 4.3.8 Geächtete Lust und negiertes Glück
  • 4.3.9 Opferbereitschaft
  • 5 Keine Zeitschrift für Sozialforschung ohne Leo Löwenthal
  • 5.1 Einleitung
  • 5.2 Inmitten des Trubels
  • 5.2.1 Rush hour
  • 5.2.2 Trouble
  • 5.2.3 Propaganda
  • 5.3 Wüstenkönig Leo Löwenthal
  • 5.3.1 Der Besprechungsteil
  • 5.3.2 Materielle Flüchtlingshilfe
  • 5.4 Intellektuelle Flüchtlingshilfe
  • 5.5 Das Ende der Zeitschrift für Sozialforschung: Einstellung und Reanimationsversuche
  • 6 Schluss
  • Literaturverzeichnis
  • Dokumente aus der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a. M.
  • Dokumente aus dem Erich-Fromm-Archiv (EFA)
  • Dokumente aus dem Leo-Löwenthal-Archiv (LLA)
  • Dokumente aus dem Max-Horkheimer-Archiv (MHA)

1Einleitung

Der Umfang und die Bedeutung der Arbeit von Leo Löwenthal am Institut für Sozialforschung, die sich über den Zeitraum von fast einem Vierteljahrhundert erstreckte, sind in der Rezeption zur Kritischen Theorie vergleichsweise untergegangen. Während den Arbeiten der anderen Mitglieder des engsten Kreises – dem Begründer Max Horkheimer, sowie Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse und zeitweise Erich Fromm – ein hohes, wenn auch unterschiedliches Maß an Aufmerksamkeit zuteil und ihre Bedeutung in der Konzeption der Kritischen Theorie herausgestellt wird, bleibt der Beitrag Leo Löwenthals neben dem von Friedrich Pollock weitestgehend unbeachtet, ignoriert oder vergessen. Dabei wird die Rolle Löwenthals und Pollocks in einer Kritischen Theorie der Gesellschaft, die sich im Gegensatz zur traditionellen Theorie als ein arbeitsteiliger Prozess gestaltete, unterschätzt. Bereits 1926 gehörte Löwenthal dem gerade gegründeten Institut an, aber bis heute erfolgte keine Herausstellung seiner umfangreichen Tätigkeit, die sowohl theoretischer als auch praktischer Natur war. Zum Vergleich: Marcuse und Adorno traten dem Institut viel später bei (1932/33 bzw. 1938), aber ihre Namen fallen neben dem von Horkheimer am häufigsten wenn von Kritischer Theorie die Rede ist. Vergessen wird aber hierbei, dass die Kritische Theorie ein überindividuelles Projekt und ihre Realisierung das Resultat einer kollektiven Leistung war.4 Dies wird aber in der späteren Wahrnehmung nur auf einzelne Personen – wie Horkheimer, Adorno und Marcuse – reduziert, während der Anteil anderer wie der von Leo Löwenthal unbeachtet bleibt.

In der Literatur zur Geschichte der Kritischen Theorie ist die Rolle Löwenthals in der Zeitschrift für Sozialforschung (ZfS) und damit für die Entwicklung dieser Theorie in den 1930ern allenfalls angedeutet. Seine praktische Arbeit an der Zeitschrift als dessen Organisator wird zwar erwähnt, jedoch ohne dabei näher darauf einzugehen. Dem theoretischen Anteil zur Konzeption der Kritischen Theorie im ersten Jahrzehnt unter Horkheimers Direktorat, die sich nicht nur in einer Literatursoziologie erschöpfte, fehlt es gänzlich an einer adäquaten Darstellung. Symptomatisch für diesen eklatanten Mangel ist Rolf Wiggerhaus´ Studie Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, die 1986 veröffentlicht wurde. In dieser oft als Standardwerk zur Kritischen Theorie gerühmten Arbeit wird ← 2 | 3 → Löwenthal als „verantwortlicher Schriftleiter“5 der Zeitschrift für Sozialforschung angeführt, ohne dass dies weiter ausgeführt ist. Noch schlimmer ist es um die theoretische Arbeit Löwenthals bestellt: Nur zwei der sechs Aufsätze, die Löwenthal in der Zeitschrift veröffentlichte, finden Beachtung. Diese bleibt marginal, wenn Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur auf nicht mal einer Seite zusammengefasst wird6 und die Arbeit über Hamsun lediglich einen flüchtigen Blick geschenkt bekommt7. Alle übrigen Aufsätze erfahren keine Darstellung – weder in Form einer Zusammenfassung, erst recht nicht in einer inhaltlichen Einordnung. Noch dazu steckt Wiggershaus Löwenthal in seiner theoretischen Arbeit in die Zwangsjacke eines Ideologiekritikers und verzerrt damit die Bedeutung seines Beitrages an der Kritischen Theorie.8

Die vorliegende Schrift soll dazu beitragen diesen Missstand zu korrigieren. Die Konzeption der Kritischen Theorie geschah hauptsächlich im Rahmen der Zeitschrift für Sozialforschung, die fast die gesamten 1930er Jahre (von 1932 bis 1941/42) zum Institut für Sozialforschung gehörte. Nicht zufällig ist in einer Selbstdarstellung des Instituts von 1934/1935, das nach der Flucht vor den Nazis in New York Anschluss an die akademische Fachwelt suchte, die ZfS als ein „Journal of Social Theory and Research“9 angeführt. Die Zeitschrift war für die Entwicklung einer Kritischen Theorie der Gesellschaft durch ein Kollektiv unersetzlich, weil sie eine institutionsunabhängige Institution darstellte, mit der diese Theorie erst entwickelt werden konnte.

Eine besondere Rolle spielte hierbei Leo Löwenthal, der für die Herausgabe der Zeitschrift verantwortlich war und darüber hinaus auch theoretische Beiträge lieferte. Die Arbeit Löwenthals im Rahmen der Zeitschrift für Sozialforschung war für eine überindividuelle Kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie von Max Horkheimer in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts angestrebt wurde10, konstitutiv. Leo Löwenthal stellt in seiner theoretischen und praktischen Arbeit an der Zeitschrift für Sozialforschung, an der er entscheidend mitgewirkt hat, die Inkorporation des überindividuellen Charakters der Kritischen Theorie dar. Nicht nur, dass Löwenthal mit seiner redaktionellen Tätigkeit jenes Forum der ← 3 | 4 → kritischen Theoretiker am Laufen hielt, das knapp zehn Jahre – die meiste Zeit davon im Exil –, für die Mitglieder des Instituts den Fluchtpunkt theoretischen Denkens darstellte, sondern auch seine theoretischen Arbeiten stehen in enger Beziehung zu den Beiträgen der Anderen, die wiederum durch Löwenthals Beiträge ergänzt bzw. weitergeführt werden.

Ziel dieser Arbeit ist es im Sinne einer Intellectual History, die in der angloamerikanischen Sozialwissenschaft ihren festen Platz hat, während sie sich in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften noch schwer tut, Löwenthals Beitrag an der Konzeption der Kritischen Theorie im Rahmen der von ihm organisierten Zeitschrift für Sozialforschung herauszuarbeiten. Dabei wird der theoretische Anteil nicht nur dargestellt, sondern auch die inhaltliche Beziehung zu den Arbeiten der anderen Institutsangehörigen aufgezeigt. Die detaillierte Schilderung der praktischen Arbeit an der Zeitschrift für Sozialforschung vermittelt Löwenthals Rolle als Organisator im wissenschaftlichen Prozess. Beide Aspekte – theoretischer und praktischer – geben zusammen ein genaues Bild davon, dass Löwenthals Arbeit ein unentbehrlicher Teil des kollektiven Projektes einer Kritischen Theorie war. Verzichtet wird hingegen auf eine biographische Darstellung, zumal diese genügend dokumentiert ist.

Der erste Teil dieser Schrift dreht sich um den wissenschaftlichen Produktionszusammenhang in der institutsunabhängigen Institution Zeitschrift für Sozialforschung, der sich – im Gegensatz zur traditionellen Wissenschaft – im Kollektiv vollzog. In diesem Kapitel wird herausgestellt, wie dieser kollektive Prozess im Detail ablief. Auf diesem Kapitel bauen sowohl die folgenden Kapitel zur Theorie als auch das Kapitel zur Praxis der Zeitschrift für Sozialforschung auf.

Im zweiten Kapitel erarbeite ich den Begriff der Kritischen Theorie der 1930er Jahre, zu der Löwenthal mit seinen Schriften entscheidende und ergänzende Aspekte lieferte. Ihn auf die Rolle des Literatursoziologen zu reduzieren, hieße seinen theoretischen Anteil zu verwässern. Seine Beiträge werden dabei zum inhaltlichen Kontext der anderen Aufsätze herausgearbeitet und gestellt, womit sich ein Gesamtbild ergibt, das das Kollektive am Begriff der Kritischen Theorie wiedergibt, aber auch Löwenthals Anteil daran darstellt. Da alle Beiträge unter Mitwirkung einer Vielzahl von Menschen entstanden, ist es notwendig sie unter dem Aspekt des Kollektiven zu lesen, wenn man den theoretischen Inhalt voll erfassen will. Dabei gehe ich nicht auf die Zeit vor Horkheimers Direktorat – also den späten Zwanzigern – ein, da sich die vorhergegangene Ära unter Carl Grünberg und die Zeit unter dem Direktorat Horkheimers sich völlig unterscheiden wie Pollock noch 1965 gegenüber Ernst ← 4 | 5 → Herhaus betonte.11 Bereits in einer Institutsveröffentlichung zur Geschichte des Instituts von 1934/1935 wird auf diese Differenz aufmerksam gemacht.12

Wenn Löwenthals Beiträge um der Skizzierung eines Begriffs von Kritischer Theorie willen im sachlichen Bezug zu den Aufsätzen der engsten Mitarbeiter Horkheimers – Adorno, Marcuse, Pollock, Fromm und Benjamin – gelesen werden müssen, so gilt dies auch für die Ergebnisse seiner Analysen zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Ausführungen in seinen Aufsätzen stehen ebenfalls in Beziehung zu den Arbeiten der anderen Autoren. Auch hier kommt im Zusammenspiel der neuen oder sich ergänzenden Aspekte das Kollektive an der Kritischen Theorie zum Vorschein, wobei wiederum von Löwenthals Arbeiten ausgegangen wird. Das zweite, sowie das dritte Kapitel ist nicht im Sinne einer Zusammenfassung von Löwenthals theoretischen Arbeiten geschrieben, sondern mit Anspruch diese Beiträge in die Konzeption und Ergebnisse der Kritischen Theorie der 30er Jahre einzuordnen. Diese Darstellung erfolgt im theoretischen und inhaltlichen Zusammenhang mit den Arbeiten der anderen Institutsangehörigen.

Im vierten und letzten Teil beleuchte ich Löwenthals praktische Arbeit an der Zeitschrift für Sozialforschung, ohne die das dreimal jährlich erschienene Periodikum nicht möglich gewesen wäre. Seine redaktionelle Arbeit, die sich vielfältiger gestaltete als aus der bisherigen Literatur hervorgeht, und die Leitung des Rezensionsteils, der nicht nur wissenschaftliche Bedeutung hatte, sondern auch für viele eine lebensgeschichtliche, sicherten von 1932 bis 1941/1942 das Erscheinen einer Zeitschrift, die bisher einzigartig blieb.

Für diese Arbeit wurde hauptsächlich auf Primärliteratur zurückgegriffen. Darunter fallen die entsprechenden Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung, der Mitarbeiter des Instituts, die in dem Erscheinungszeitraum Max Horkheimer, dem Begründer der Kritischen Theorie, theoretisch an nächsten waren: dazu gehören neben Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Erich Fromm sowie Walter Benjamin. Vereinzelt tauchen auch andere Arbeiten und Veröffentlichungen des Instituts auf, die aus den 1930er/40er stammen. Erinnerungen der engsten Mitglieder, die lange nachdem das Institut wieder nach Deutschland zurückkehrte, festgehalten und publiziert wurden, waren ebenso wichtig. Darunter fallen Gespräche, Reden und Vorträge oder erst posthum veröffentlichte Schriften. Die Korrespondenz ← 5 | 6 → Löwenthals mit Horkheimer und Adorno wie auch deren Briefwechsel, sei es untereinander oder mit anderen, trugen nicht minder dazu bei.

Hier steht die Kritische Theorie der 1930er Jahre im Mittelpunkt, also die Jahre, in denen überhaupt erstmals von einer „kritischen Theorie der Gesellschaft“ (Horkheimer) gesprochen und geschrieben wurde und in denen das k von kritisch noch klein war. ← 6 | 7 →

4vgl. Detlev Claussen, Die amerikanische Erfahrung der Kritischen Theoretiker, in: Detlev Claussen / Oskar Negt / Michael Werz (Hrsg.), Hannoversche Schriften 1. Keine Kritische Theorie ohne Amerika, Frankfurt a. M. 1999, S. 27-45, S. 44

5Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung [1988], München 2008, S. 135

6vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a. a. O., S. 142

7vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a. a. O., S. 246ff.

8vgl. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a. a. O., S. 222f.

9International Institute of Social Research, A Short Description of its History and Aims, New York 1934/35, aus der Bibliothek des heutigen Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a. M., keine Signatur, S. 10

10vgl. Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie [2003], Frankfurt a. M. 2005, S. 158

11vgl. Ernst Herhaus, Notizen während der Abschaffung des Denkens, Frankfurt a. M. 1960, S. 45

12vgl. International Institute of Social Research, A Short Description of its History and Aims, a. a. O., S. 5

2Der Produktionszusammenhang der institutionsunabhängigen Institution ZfS

2.1Einleitung

Das Institut für Sozialforschung und die Kritische Theorie der 1930er Jahre waren mehr als nur ein Zusammenschluss von einzelnen Wissenschaftlern, die einer sogenannten interdisziplinären Gesellschaftsforschung nachgehen wie es in der Literatur über Kritische Theorie immer wieder heißt. Beispielsweise geht Helmut Dubiel in seiner Arbeit Wissenschaftsorganisation und politischer Erfahrung so vor, indem er das Kollektive an der Kritischen Theorie als „interdisziplinäre Sozialforschung“ bezeichnet.13 Auch Rolf Wiggershaus sieht im Kollektiven der Kritischen Theorie ein „interdisziplinäres Programm“.14 Diese Kritische Theorie war auch kein – wie man heute so oft schreibt – Think Tank.

Das Kollektive in der Kritischen Theorie ist aber mehr als die Summe seiner Teile, denn diese wurde vom Kreis um Max Horkheimer seit den 1930er Jahren bewusst als „überindividuelles Projekt“15 betrieben.16 In den Veröffentlichungen ← 7 | 8 → zur Geschichte und zum Programm des Instituts nach der Emigration in die USA wird immer wieder darauf verwiesen.17 Im Bericht des Instituts von 1944 – Ten Years on Morningside Heights – heißt es dazu: „Thus the Institute has constantly been a collective entity and not merely a more or less artificial and haphazard gathering of scientists working in related fields.“18

Exemplarisch für den überindividuellen Charakter der Kritischen Theorie ist die Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941/42), die nicht als eine klassische Institution zu sehen ist, sondern als ein Widerspruch und Gegenentwurf dazu – als eine institutsunabhängige Institution, da in ihr kollektiv und selbständig an einer Theorie der Gesellschaft gearbeitet wurde. Dies zeigt sich in den Arbeiten der einzelnen Mitglieder. Die theoretische Arbeit im Rahmen der Zeitschrift stellte einen kollektiven Produktionsprozess dar, in dem nicht jeder einzeln vor sich hin arbeitete, um seine Ergebnisse anschließend den Anderen zu präsentieren, sondern die theoretischen Gegenstände wurden gemeinsam und unter verschiedenen Aspekten untersucht. So stehen die einzelnen Aufsätze in inhaltlicher Beziehung zueinander, anstatt isoliert nebeneinander aufzutreten. Jeder Aufsatz der Zeitschrift aus dem engeren Kreis um Horkheimer bzw. die Zeitschrift selbst ist als Ausdruck eines Kollektivs zu begreifen, das ohne formelle Instruktionen arbeitete. Keine vorgegebenen Schemata bestimmten die Konzeption und Erstellung der verschiedenen Arbeiten. Die Zeitschrift für Sozialforschung verkörpert den Diskussionscharakter der Kritischen Theorie.

2.2A collective entity

Die Bearbeitung und Beantwortung sozialphilosophischer Fragestellungen bedarf einer Vielzahl verschiedener Wissenschaften, welche zwar ohnehin existieren, aber nicht Teil eines Ganzen sind. Um die gesellschaftliche Situation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu begreifen, ist es notwendig weitere Wissenschaften mit ein zu beziehen, welche aber nicht isoliert voneinander betrieben werden dürfen. In Horkheimers Antrittsrede zum Lehrstuhl für Sozialphilosophie der Frankfurter Universität von 1931 heißt es dazu: ← 8 | 9 →

„Vielmehr kommt es heute darauf an, und ich stehe mit dieser Ansicht gewiß nicht allein, auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen und das gemeinsam tun, was auf anderen Gebieten im Laboratorium einer allein tun kann, was alle echten Forscher immer getan haben: nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren und doch das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren.“19

Eine der Aufgaben des Instituts für Sozialforschung ist die „kollektive Forschungsarbeit“20 wie Horkheimer am Schluss seiner Rede in Bezug auf die einzelnen wissenschaftlichen Tätigkeiten – sei es statistische, empirische, soziologische oder psychologische21 – hinweist. Auf Beibehaltung von Kontinuität, Beständigkeit, Objektivität und Dynamik pochend und auf die Gefahr hinweisend betont er den Mangel einer einzelwissenschaftlichen Erklärung der Gesellschaft:

„Jede dieser Methoden allein ist ganz unzureichend, sie alle zusammen können in Jahren geduldiger und ausgedehnter Forschungen vielleicht für die allgemeine Fragestellung fruchtbar werden, wenn anders die dauernden Mitarbeiter in ständigen Umgang mit dem Material ihre Anschauungen nicht nach ihren eigenen Wünschen, sondern nach den Sachen zu bilden verstehen, von jeder Art der Verklärung sich entschieden abwenden und wenn es gelingt, die einheitliche Intention gleichzeitig vor dogmatischer Erstarrung und vor dem Versinken ins bloß Empirisch-Technische zu bewahren.“22

Die Vielzahl von Wissenschaften hat demnach keinen ergänzenden Charakter, sondern wird Teil des gesamtwissenschaftlichen Prozesses. Das in den 60er Jahren eingeführte Schlagwort „interdisziplinär“ im Sinne des fächerübergreifenden, um das Kollektive an der Kritischen Theorie zu beschreiben, trifft nicht den wahren Gehalt. Kritische Theorie als eine interdisziplinäre Methode aufzufassen entspricht nicht der Intention, die hinter jener steht. So distanziert sich Löwenthal im Gespräch mit Martin Lüdtke von einer als interdisziplinär bezeichneten Arbeit im Zuge der ZfS: ← 9 | 10 →

„Actually, that means nothing more than to leave the disciplines as they while developing certain techniques which foster a kind of acquaintance between them without forcing them to give up their self-sufficiency or individual claims.“23

Schon 1932 schreibt Löwenthal in seinem ersten ZfS-Aufsatz gegen eine interdisziplinär verfahrende Literaturwissenschaft:

Details

Seiten
XXI, 297
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653033885
ISBN (ePUB)
9783653994827
ISBN (MOBI)
9783653994810
ISBN (Hardcover)
9783631641774
DOI
10.3726/978-3-653-03388-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Februar)
Schlagworte
Kritische Theorie Frankfurter Schule Institut für Sozialforschung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XII, 297 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Gregor-Sönke Schneider (Autor:in)

Gregor-Sönke Schneider, promovierter Sozialwissenschaftler, studierte an der Universität Hannover Soziologie, Politische Wissenschaft, Psychologie und Rechtswissenschaften.

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