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Distribution und Funktionen von Vergangenheitsformen im älteren Obersorbischen

Eine empirische Untersuchung unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Altpolnischen und Alttschechischen

von Katja Brankackec (Autor:in)
©2014 Dissertation 186 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit befasst sich mit der Verteilung zwischen Aorist/Imperfekt und l-Perfekt sowie der Verwendung der Resultativkonstruktionen mit n/t-Partizip im Westslavischen. Grundlage für die Untersuchung ist ein Korpus des älteren Obersorbischen. Inwieweit spiegelt sich im ungewöhnlich langen Erhalt des sorbischen Präteritums der Kontakt zum Deutschen wider? Zur Beantwortung dieser Frage werden Kenntnisse über die Entwicklung der Vergangenheitstempora im Alttschechischen und Altpolnischen herangezogen. Darüber hinaus wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Vereinfachung des Tempussystems und der Grammatikalisierung des Verbalaspekts im Westslavischen gestellt. Es zeigen sich deutliche Parallelen, aber auch markante Unterschiede unter den westslavischen Sprachen bei der Verwendung der Vergangenheitstempora und der Grammatikalisierung des Aspekts.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Bisherige Forschungen zu den Vergangenheitsformen im Westslavischen
  • 1. Allgemeines zu Tempora und Aspekt und Eingrenzung des Themas
  • 2. Grammatikalisierung von Vergangenheitstempora und Aspekt im Westslavischen im Vergleich zum Deutschen
  • 2.1. Der Aspekt
  • 2.1.1. Der Aspekt im Sorbischen
  • 2.1.2. Der Aspekt im Polnischen
  • 2.1.3. Der Aspekt im Tschechischen
  • 2.2. Das Präteritum und das l-Perfekt
  • 2.2.1. Das Präteritum und das l-Perfekt im Sorbischen
  • 2.2.2. Das Präteritum und das l-Perfekt im Polnischen
  • 2.2.3. Das Präteritum und das l-Perfekt im Tschechischen
  • 2.3. Das Perfekt und das Resultativum
  • 2.3.1. Das l-Perfekt und das Resultativum im Slavischen
  • 2.3.2. Zur Trennung zwischen Resultativum und Passiv im Slavischen
  • 2.4. Das Plusquamperfekt
  • II. Material und Methode
  • 1. Anmerkungen zur Methode
  • 2. Das Korpus sorbischer Texte
  • 3. Alttschechische Texte
  • III. Datenanalyse
  • 1. Das l-Perfekt und das Resultativum
  • 1.1. Das l-Perfekt
  • 1.1.1. Die l-Perfekta in den Bibelübersetzungen
  • 1.1.2. Die l-Perfekta bei Dejka und Jordan
  • 1.1.3. Zusammenfassung zum l-Perfekt
  • 1.2. Die Resultativ-Konstruktionen mit być und měć + n/t-Partizip
  • 2. „Ausnahmen“ unter den sorbischen Formen des synthetischen Präteritums
  • 3. Imperfekt und Aorist bzw. ipf. und pf. in Handlungsketten
  • 3.1. Die Beispiele aus den Bibelübersetzungen
  • 3.2. Die Beispiele bei Dejka und Jordan
  • 4. Imperfekt und Aorist bzw. ipf. und pf. bei Inzidenz
  • IV. Schlussfolgerungen
  • 1. Ergebnisse
  • 2. Ausblick
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Register

I.  Bisherige Forschungen zu den Vergangenheitsformen im Westslavischen

„Wer über Tempus und Aspekt arbeitet, sollte sich wohl besonders eingehend Gedanken darüber machen, ob seine Bemühungen überhaupt nötig sind. Denn angesichts der unübersehbaren Fülle von Publikationen, die sich in irgendeiner Form mit diesem Gegenstand bereits befasst haben, erscheint die Möglichkeit, wirklich etwas Neues zu sagen, auf den ersten Blick sehr gering“ (Mugler 1988, 11, zit. nach Schwenk 2009, 11).

Dieser Umstand hat weder den Autor der oben zitierten Worte A. Mugler noch den ihn zitierenden H.-J. Schwenk sowie viele weitere Forscher davon abgehalten, eigene Monographien und Aufsätze über Aspekt und Tempus in europäischen Sprachen zu veröffentlichen. Dazu gehört auch eine wachsende Zahl an konfrontativen und kontrastiven Betrachtungen von Tempus und/oder Aspekt sowohl innerhalb der slavischen Sprachen (z. B. Dickey 2000, Breu 2000a, Berger 2013b, Nádeníček 2011) – als auch im Vergleich mit nicht-slavischen Sprachen (z. B. Stegu 1985). So liegt u.a. auch eine Reihe an Untersuchungen zur Aspektualität im Polnischen im Vergleich mit dem Deutschen vor (u.a. Czochralski 1972, Czarnecki 1998, Guławska 2000, Schwenk 2009) und es gibt konfrontative Arbeiten zum Polnischen und Bulgarischen (z. B. Karolak 2008). Alle diese Arbeiten konzentrieren sich auf die gegenwärtige Sprache und sind teilweise theoretisch, teilweise praktisch motiviert (Übersetzungen, Sprachdidaktik).

Die Motivation für die vorliegende Arbeit ist eine etwas andere: Das Hauptinteresse liegt in der möglichst genauen Beschreibung des älteren Obersorbischen, für das ein eigenes Korpus an Daten erstellt wurde. Da dieses in jahrhundertelangem Kontakt zum Deutschen steht, dient der vergleichende Blick auf das (Alt-)Tschechische und (Alt-)Polnische und deren Entwicklung bezüglich Vergangenheitstempora und Aspekt vor allem der Untersuchung, welche Verwendungsmuster im Sorbischen auf diesen langanhaltenden und intensiven Sprachkontakt zurückzuführen sind, und welche im Gegenteil als allgemein (west-)slavisch angesehen werden können. Da über die Vergangenheitsformen in den beiden Nachbarslavinen bisher wesentlich mehr geforscht wurde und aktuell auch geforscht wird, stütze ich mich für diesen Vergleich auf in der Sekundärliteratur zugängliche Daten. Eine eigene Korpusanalyse des älteren Polnischen und Tschechischen war mir innerhalb dieses Projekts aus Zeitgründen nicht möglich, erwies sich aber ← 9 | 10 → dank ausreichend vorhandener vergleichbarer Arbeiten1 der Polonistik und Bohemistik auch nicht als zwingend notwendig.

Was die Intensität des Sprachkontakts der Westslavinen mit dem Deutschen angeht, müssen sich die für die älteren Sprachen festgestellten Fakten nicht mit den Gegenwartssprachen decken. Alle westslavischen Sprachen standen in Kontakt mit dem Deutschen, allerdings bestehen bedeutende Unterschiede in der Dauer und der Intensität dieses Sprachkontakts. Der Vergleich zwischen diesen westslavischen Sprachen lässt daher auch unterschiedlich starke Auswirkungen des Sprachkontakts mit dem Deutschen auf die Entwicklung des Tempus- und Aspektsystems erwarten (z. B. Dickey 2011, 180).

Die Konfrontation mit den Nachbarslavinen soll also weniger der verbesserten Theoriebildung dienen, sie hat auch nicht das Ziel zum besseren zwischensprachlichen Verständnis beizutragen (wie etwa Schwenk 2009), sie will vielmehr Spezifika des Obersorbischen herausstellen und diese einordnen helfen. Der Vergleich muss dabei auf das Obersorbische beschränkt bleiben, da im Rahmen des Projekts leider keine Daten zum älteren Niedersorbischen erhoben werden konnten. Obwohl dies aus typologischer und auch methodischer Sicht für die vorliegende Arbeit sehr wünschenswert gewesen wäre, musste auf eine solche Untersuchung des Niedersorbischen aus Zeitgründen verzichtet werden.

Es ist nicht schwierig eine deutliche Parallelität zwischen den Tempora in den beiden Schriftsprachen festzustellen: Die Angaben in der Literatur zum gegenwärtigen deutschen (z. B. Thieroff 1992) und zum obersorbischen (Faßke/Michalk 1981) Tempussystem wie auch die deutschen Übersetzungen sorbischer Beispielsätze in der Literatur legen diesen Schluss nahe (so auch Breu 2012, 251). Auch in den beiden in der Lausitz gesprochenen Umgangsprachen Deutsch und Obersorbisch lassen sich diese Parallelen feststellen (Scholze 2008, 213 f.). Diese finden sich in den Nachbarslavinen nicht in dieser Intensität: Insbesondere das l-Perfekt wird im heutigen Obersorbischen genauso verwendet, wie das beim Perfekt in der Kontaktsprache Deutsch der Fall ist (vgl. Lötzsch 1995, 175 ff.; Giger 2009, 115f.). Genau wie im Deutschen kann das Präteritum nicht ← 10 | 11 → ohne zeitlichen Bezugspunkt eingesetzt werden, der vor der Sprechzeit liegt (Lötzsch 1995, 176 f.).

„Es ist zu vermuten, daß die schon seit langem zweisprachigen Sorben die einzelnen Kategorien, die schon in der Bildungsweise – synthetisch oder analytisch – ihren deutschen Pendants sehr ähneln, mit diesen semantisch identifizieren.“ (Lötzsch 1995, 178)

Dieser Befund gilt zweifellos für das moderne Obersorbische, wie es in den Grammatiken (v. a. Faßke/Michalk 1981) beschrieben wird. Inwieweit dies auch für ältere Varietäten des Obersorbischen gilt, oder ob wie von Scholze (2008) vermutet, deutliche Veränderungen im Laufe des letzten Jahrhunderts stattgefunden haben, soll in der vorliegenden Arbeit anhand eines Textkorpus des älteren Obersorbischen untersucht werden.

1.  Allgemeines zu Tempora und Aspekt und Eingrenzung des Themas

Aus der überaus reichhaltigen Literatur zu Tempora, Aspekt und Genus verbi in den indoeuropäischen Sprachen geht vor allem eines hervor: Um die Entwicklung der einzelnen Formen in den jeweiligen Sprachen erklären zu können, muss das Gesamtsystem in seiner Entwicklung betrachtet werden. Das Verschwinden einer Form hängt mit dem Aufbau einer anderen unmittelbar zusammen (z. B. Lehmann 1990; Lehmann 1999a). Vergleicht man die Sprachen untereinander, stellt man fest, wie sich solche Zusammenhänge jeweils ähneln: So hat der Abbau des Aspektsystems im Germanischen/Gothischen die Entstehung eines neuen Perfekts mit sein und haben initiiert (Leiss 1992, 68 f.; 2002, 12 f.; Piskorz 2012, 28 f.), welches im gegenwärtigen Deutschen als Vergangenheitstempus grammatikalisiert ist und somit auch das Präteritum ersetzen kann. Diese Entwicklung im Deutschen hat ihre Parallele in den slavischen Sprachen: Auch hier führt die Aufgabe der aspektuellen Unterscheidung im Präteritum durch weitgehende Homonymie zwischen Aorist und Imperfekt zu einer Grammatikalisierung des l-Perfekts als Vergangenheitstempus, wobei hier das ursprüngliche Präteritum meist aufgegeben wird. Die vollständige Aufgabe des synthetischen Präteritums wird vor allem durch die fortschreitende Grammatikalisierung der derivativen Aspektopposition der Verben ermöglicht (vgl. Klemensiewicz 1999, 25; Mazur 1993, 61; Piskorz 2012, 69; Lehmann 1990, 178, 183 f.). Dabei wird die Kategorie des Perfekts in den slavischen Sprachen weiter ausgedrückt – sowohl mit Hilfe des l-Perfekts, aber auch mit Konstruktionen mit n/t-Partizip sowie weiteren Mitteln (Tommola 2000). Sowohl im Altrussischen als auch im Alttschechischen scheint außerdem ← 11 | 12 → vorübergehend eine funktionale Verteilung von l-Perfektformen mit und ohne Auxiliar auf die Bedeutungen „Perfekt“ und „aktionales Präteritum“ bestanden zu haben (ebd., Dickey 2013).

Neben diesen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Formen im Sprachsystem wird in der Literatur zur Sprachentwicklung in letzter Zeit auch der Gesichtspunkt des Sprachkontakts als Ursache für den Sprachwandel stärker beachtet (z. B. Wiemer et al. 2012). Untersuchungen in der Sprachtypologie zeigen deutlich areale Ähnlichkeiten, die darauf schließen lassen, dass bei der Aufgabe oder dem Erhalt bestimmter Formen oft auch der Kontakt zu einer oder mehreren Sprachen eine Rolle spielt. So nimmt etwa Dickey (2011) an, dass verbale Präfixe, insbesondere po-, im Westslavischen ihre lexikalischen Funktionen stärker behalten haben als im Ostslavischen und macht dafür ebenfalls den Kontakt zum Deutschen verantwortlich. Die stärker lexikalischen Eigenschaften haben nach Dickey ein semantisches Verblassen des Präfix und folglich die rein aspektuelle Präfigierung mit po- im Westslavischen eingeschränkt. Hieraus ergibt sich auch die häufigere Verwendung von imperfektiven Verben z. B. in Handlungsketten im Westslavischen (vgl. dazu auch Berger 2013b).

Die bisherige Literatur zeigt auch, dass sich die beiden Erklärungsansätze für Sprachwandel nicht diametral gegenüberstehen, sondern gegenseitig ergänzen. So betont z. B. Piskorz (2012, 97) in ihrer Untersuchung zum Perfekt mit mieć im Polnischen, dass es sich bei der beginnenden Grammatikalisierung dieser Form um eine innersprachliche Entwicklung handeln muss, da sie zum einen systemintern begründet ist (ebd., 73) und zum anderen die Formen in allen Dialekten des Polnischen gleichermaßen gebräuchlich sind (ebd., 97).2 Andererseits ist jedoch die Ähnlichkeit dieser Form mit dem haben-Perfekt im Deutschen und den Resultativa3 in den anderen slavischen Sprachen nicht zu übersehen. Daher folgern Giger/Wiemer (2005, 73; vgl. Nitsch 1913), dass es sich beim Perfekt mit mieć um ein den europäischen Sprachen gemeinsames Phänomen handelt. Das polnische Perfekt mit mieć lässt sich also gleichzeitig auch als Sprachkontaktphänomen deuten, insofern als diese Sprachen geographisch und kulturell miteinander in Kontakt stehen.4 Hinzu kommt, dass solche Konstruktionen ← 12 | 13 → schon länger im Polnischen nachweisbar sind und dass daher solche Formen nicht nur in der gegenwärtigen bzw. in den historischen deutsch-polnischen Grenzregionen zu erwarten sind.

In ähnlicher Weise lässt sich die wesentlich weiter fortgeschrittene Grammatikalisierung der Resultativa zum Perfekt im Kaschubischen und Slovinzischen im Gegensatz zum Sorbischen erklären (vgl. Giger 2009, 115 ff.): Im Sorbischen können trotz des intensiven Kontakts zum Deutschen – wie in den anderen westslavischen Sprachen – keine Resultativkonstruktionen von ‚activity-Verben‘5 und von imperfektiven Verben gebildet werden, unbelebte Subjekte und reflexive Verben sind blockiert (Giger/Wiemer 2005, 101 ff.).

„Die Verhältnisse im Sorbischen sind deshalb instruktiv, weil hier in einer Situation mit intensivem Sprachkontakt offensichtlich nicht die possessive Resultativform, sondern das sich formal viel stärker unterscheidende, funktional jedoch näherstehende alte slavische Perfekt (być ‚sein‘ + l-Form) mit dem deutschen Perfekt identifiziert worden ist und dessen Funktionen getreu nachbildet, einschließlich der Möglichkeit, als Futur II zu fungieren, welche dem Tschechischen oder Polnischen völlig fremd ist (Faßke 1981, 260 f., Scholze 2007, 208).“ (Giger 2009, 115 f.)

Giger schließt sich in der Deutung dieser unterschiedlichen Sprachkontaktergebnisse im Sorbischen und Kaschubischen/Slovinzischen der Meinung Lötzschs (1997, 55) an: Diese unterschiedliche Auswirkung des Kontakts zum Deutschen lässt sich auf Unterschiede im Gesamtsystem der Tempora und des Aspekts zum einen zwischen den slavischen Sprachen und zum anderen zwischen den jeweils relevanten Varietäten des Deutschen zurückführen:

„Die analytischen Tempora im Niederdeutschen sollen sich später entwickelt haben, so dass zum Zeitpunkt intensiverer deutsch-kaschubischer Kontakte im Niederdeutschen noch das einfache Präteritum dominierte. Zugleich waren im Kaschubisch-Slovinzischen die slavischen einfachen Präteritaltempora (Imperfekt und Aorist) bereits weitestgehend verloren, und das ehemalige Perfekt funktionierte – wie im Nordslavischen üblich – als einziges Präteritaltempus, vermutlich bereits ohne Auxiliarverb. Es kam also zur Identifikation des deutschen einfachen Präteritums mit dem kaschubisch-slovinzischen ehemaligen Perfekt, und die ‚fehlenden‘ Tempora Perfekt, Plusquamperfekt wurden später nach deutschem Modell nachgebildet. Im Sorbischen hingegen war das slavische einfache Präteritum noch vorhanden und wurde mit dem deutschen einfachen Präteritum identifiziert, und für ein weiteres Perfekt bestand keine Notwendigkeit.“ (Giger 2009, 123 mit Bezug auf Lötzsch 1997, 55) ← 13 | 14 →

Auch hier wirken also Sprachkontakt und innersprachliche Entwicklung zusammen. Nicht nur der Kontakt zu einer konkreten deutschen Varietät ist bei der Grammatikalisierung des ‚haben‘-Perfekts ausschlaggebend gewesen, sondern auch jener zu den benachbarten slavischen Sprachen und deren Entwicklungsstand bezüglich der Grammatikalisierung des l-Perfekts zur reinen Vergangenheitsform: Wie im Polnischen war im Kaschubischen diese Entwicklung viel weiter fortgeschritten als im Obersorbischen. Eine Identifikation des l-Perfekts mit dem deutschen Perfekt, wie sie im Obersorbischen vorliegt, war daher im Kaschubischen und Slovinzischen nicht mehr möglich.

Es zeigt sich hier eine komplexe und alternative Erklärung für den Erhalt des differenzierten Tempussystems der Vergangenheit im Sorbischen bzw. dessen verzögerten Abbau im Vergleich zu den Nachbarslavinen: Der Abbau beginnt in Reaktion zu einer ähnlichen Entwicklung in der deutschen Varietät, mit der die jeweilige westslavische Sprache in Kontakt steht.6 Einmal mehr zeigt sich hier zudem, dass das Sorbische mit seinem über viele Jahrhunderte andauerndem und zunehmend intensivem Kontakt zum Deutschen einen anderen Entwicklungsweg einschlägt als die benachbarten Slavinen, in denen der Kontakt zum Deutschen über einen kürzeren Zeitraum andauert, also später an Bedeutung gewinnt und/oder früher an Bedeutung verliert.

2.  Grammatikalisierung von Vergangenheitstempora und Aspekt im Westslavischen im Vergleich zum Deutschen

Die Tatsache, dass es in den slavischen Sprachen eine grammatikalisierte morphologische Kategorie des Verbalaspekts gibt, welche im Deutschen fehlt, während verschiedene Tempora sowohl im Deutschen als auch in den slavischen Sprachen vorhanden sind, legt zunächst nahe, dass es sich beim Aspekt um eine sekundäre Kategorie handelt. Eine solche Vermutung scheint sich in der bisher bekannten Entwicklungsgeschichte dieser Sprachen zu bestätigen: Die Grammatikalisierung des slavischen Aspekts schreitet im Russischen in der historischen Periode voran (Bermel 1997), während die Tempora bereits aus der vorschriftsprachlichen Periode ererbt sind. In Lehmann (1990) findet sich eine plausible Darstellung darüber, ← 14 | 15 → dass der Aspekt im Gegenteil den Tempora zugrunde gelegt werden muss. Ähnlich argumentiert auch Šenkeřík (2005, 22 f.).

Nach Lehmann (1990, 171 f.) besteht eine Parallele zwischen der ontogenetischen Entwicklung des Aspekts in der Sprache bei Kindern und der diachronen Herausbildung der Aspektkategorie. Danach gibt es bei Kindern zuerst aktionale Lexemtypen, die sich zunächst in aktional-temporalen Clustern organisieren: Durative werden der Sprechzeit zugeordnet, während Ereignisse vor oder nach der Sprechzeit angesiedelt sind (ebd., 174). Zur diachronen Entsprechung eines solchen Entwicklungsschrittes bemerkt Lehmann:

„In der Diachronie bedienen im Prinzip neue Formen immer wieder ein System von at-Kategorien.7 Die bekannte […] Ablösung von Imperfekt, Plusquamperfekt und Aorist durch ein neues deiktisches Präteritum (=Perfekt) ist also nur ein Beispiel für solche zyklische Wiederkehr. Sie beruht auf der Tatsache, daß die sprachlichen Formen auch unabhängig von einem Funktionswandel steten Veränderungen unterworfen sind, […]. Das Gesagte bezieht sich auf die Entwicklung der äußeren Formen (unabhängig von den Funktionen) bestimmter grammatischer Kategorien. In unserem Fall geht es jedoch auch um die relative Abfolge verschiedener Kategorien (Aspekt und Tempus) in der Entwicklung. Daß auch hier Zyklen am Werk sind, wäre noch zu beweisen. Einer solch starken Hypothese soll hier nicht das Wort geredet werden. Es erscheint jedoch interessant genug, der These nachzugehen, daß die Abfolge verschiedener Kategorien nicht beliebig ist, sondern bestimmten Prinzipien folgt.“ (Lehmann 1990, 175 f., Hervorhebungen des Autors)

Details

Seiten
186
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041705
ISBN (ePUB)
9783653993172
ISBN (MOBI)
9783653993165
ISBN (Hardcover)
9783631646687
DOI
10.3726/978-3-653-04170-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Schlagworte
Vergangenheitstempora Grammatikalisierung Sprachkontakt Verbalaspekt
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 186 S.

Biographische Angaben

Katja Brankackec (Autor:in)

Katja Brankačkec studierte in Leipzig Sorabistik, Politikwissenschaft und Ost- und Südosteuropawissenschaften. Danach promovierte sie in Prag im Fach Slavische Linguistik. Ihr Interesse gilt besonders der Rolle des Sprachkontakts in der Entwicklung des Sorbischen. Zurzeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Slavischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.

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