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Schätze der Kinder- und Jugendliteratur wiederentdeckt

Frühe Lektüreerfahrung und Kanonbildung im akademischen Kontext

von Anja Ballis (Band-Herausgeber:in) Birgit Schlachter (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 284 Seiten

Zusammenfassung

In den Beiträgen dieses Bandes setzen sich an Hochschulen Lehrende verschiedener Generationen mit den eigenen kindlichen und jugendlichen Lektüreerfahrungen auseinander. Wenn es um die Auswahl zu behandelnder kinder- und jugendliterarischer Texte in Seminaren an Hochschulen geht, wird nur zu oft auf Werke zurückgegriffen, die in der eigenen Kindheit und Jugend gelesen wurden und zu denen ein affektives Verhältnis fortbesteht. Das aktuelle kinder- und jugendliterarische Angebot ist von verwirrender Vielfalt; gleichzeitig fehlt es an einer stabilen Kanonbildung auf diesem literarischen Feld. So bietet sich den Lehrenden ein biografisch-lesesozialisatorischer Zugriff als Lösungsweg an. Dabei erweist sich die Relektüre von in der Kindheit gelesenen Werken als eine (Wieder-)Entdeckung ungeahnter literarischer Schätze.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Schätze der Kinder- und Jugendliteratur. Überlegungen zur subjektiven Relevanz von Lektüreerfahrungen an Hochschule und Universität
  • Johann Peter Hebels Der geheilte Patient als „Sinnstruktur ärztlichen Handelns“. Zur Rezeption und Aktualität einer alten Kalendergeschichte
  • „Gont ist ein guter Ort.“ U. K. LeGuins Erdsee-Trilogie
  • Von Tieren erzählen. Meindert de Jong und sein vergessenes Werk Komm heim, Candy
  • „Die grünen Blätter färbten sich golden“. Howard Pyles The Merry Adventures of Robin Hood (1883)
  • Felix und das liebe Geld. Roman vom Reichwerden und anderen wichtigen Dingen von Nikolaus Piper
  • Bilder des Orients oder wie Karl May über Orte schreibt, die er nicht gesehen hat
  • Elsa Beskows Hänschen im Blaubeerenwald. Ein Reformprojekt um 1900
  • Bibi. Pippi Langstrumpfs vergessene Schwester
  • Mit Pucki, Trixie, Tina, Tini, Hanni und Nanni erste Leseerfahrungen sammeln
  • Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Von der Übersetzung zum Original und zurück
  • Basiliskenblicke. Erfindergeist, Entdeckerfreude und fiktionale Logik in Hannes Hüttners fantastischem Roman Das Blaue vom Himmel (1974)
  • „Dort kniet ein Mann und guckt ins Moos. Was sieht er da? Wie heißt er bloß?“ Der „Kinderdichter“ Josef Guggenmos und seine Liebe zum Kleinen
  • Das Geheimnis einer Suche. Identität in Josefine Ottesens Feder und Rose
  • Von hässlichen Windsbräuten und orangenfarbenen Katzen. Interkulturalität durch multiple Autorschaft in der Kinderliteratur der 60er- und 70er-Jahre

← 6 | 7 →Anja Ballis und Birgit Schlachter

Schätze der Kinder- und Jugendliteratur

Überlegungen zur subjektiven Relevanz von Lektüreerfahrungen an Hochschule und Universität

Schätze entdecken, heben und konservieren

Im Wintersemester 2013/14 fand an der Pädagogischen Hochschule Weingarten eine Ringvorlesung zum Thema „Weißt du noch? Kennst du noch? Vergessene und wiederentdeckte Schätze der Kinder- und Jugendliteratur“ statt. Ausgangspunkt dieser Veranstaltungsreihe war ein doppelter: Zum einen ist die Kinder- und Jugendliteraturproduktion durch eine große Unübersichtlichkeit gekennzeichnet; dieser Fülle und Vielfalt begegnen Lehrende und Studierende, indem sie entweder lieb gewonnene, z. T. aus der eigenen Kindheit stammende Texte lesen und zum Gegenstand von Seminaren und Unterricht machen; eine andere Strategie besteht in der Konzentration auf aktuelle Tendenzen und Trends, um Entwicklungen nachzeichnen und einschätzen zu können. In unseren Vorbereitungen auf Seminare stellen wir als Lehrende immer wieder fest, dass wir unsere Lektüreauswahl zuweilen nicht systematisch reflektieren und begründen. Oft lassen wir uns von subjektiven Einstellungen und Neuerscheinungen des Buchmarktes leiten; manchmal stoßen wir bei der Vorbereitung auf längst vergessene Schätze der Kinder- und Jugendliteratur, die uns bewegen und einer Relektüre Wert erscheinen. Selten gelingt es, diese vergessenen Texte zu konservieren und nachhaltig aufzubereiten.

Diese Erfahrungen und dieser Umgang sind im Bild des „Schatzes“ aufgehoben, den es für Lehr- und Lernprozesse mit Kinder- und Jugendliteratur zu entdecken, zu heben und zu konservieren gilt. Dabei ist uns wichtig, sowohl auf ein subjektbezogenes als auch auf ein textbezogenes Vorgehen abzuzielen. Unter subjektbezogenes Vorgehen fassen wir „Reiserouten“ der Beiträger(innen), die für uns ihre sozialisatorisch bedingten Lektüren offenlegen und die ihnen wichtige Texte für diesen Band wiedergelesen und vor ihrem heutigen beruflichen Hintergrund gedeutet haben. Dieser Zugang ist in der Lesesozialisationsforschung nicht neu, gelten doch Leseerfahrungen als bedeutsam für das Lesen, Verstehen und Deuten von Texten. Für erwachsene Leser(innen) konnte in Fallanalysen nachgewiesen werden, dass sie ← 7 | 8 →einen ausgewählten Roman auf ihre ganz bestimmte Weise rezipiert haben und zu einem subjektiven Ergebnis gekommen sind: Sie lesen den Roman unterschiedlich und schätzen ihn verschiedenartig ein (vgl. Pette 2001, S. 295f.). Die Handlungen, die sich während der Lektüre zwischen Leser(inne)n und Texten vollziehen, werden als Form der Selbstvergewisserung und Möglichkeit der Konstruktion der eigenen Identität aufgefasst (ebd., S. 303f.). Die Forschungen Grafs zu Lektürebiografien weisen in eine ähnliche Richtung. Lektürebiografien regen dazu an, die eigenen Erinnerungen an Lektüren und Vorstellungen vom Lesen aufzuschreiben und sich so ihrer bewusst zu werden. Solchermaßen wird ein Prozess der Selbstreflexion initiiert, wobei im Schreiben und Erinnern oft zutage tritt, dass unsere Leseerinnerungen umfangreicher, vielfältiger und prägender sind, als wir es vermuten (vgl. Graf 2007, S. 2f.). Eine Lehramtsstudentin formuliert in ihrer Lektürebiografie: „Doch es gibt Bücher, die haben tiefe Spuren in meinem Leben hinterlassen (ja, ja – obschon es noch recht kurz ist), immer wieder erinner’ ich mich an das Geäußerte, denke darüber nach, nehm’ das Buch ein weiteres Mal zur Hand.“ (Zit. nach Graf 1995, S. 98) Dass die Relektüre von Literatur ein Wagnis darstellt, beschreibt der Schriftsteller Horst Krüger am Beispiel seiner Hesse-Lektüre: „Ich den Demian gestern nacht wiedergelesen. Mein Gott, nach genau vierzig Jahren! Man muß sich das vorstellen: nach genau vierzig Jahren legt man sich abends ins Bett mit derselben Geschichte. Welch ein Leichtsinn, welch ein Abenteuer, welch eine Überraschung.“ (Unseld 1975, S. 63)

Mit seinen Äußerungen legt Horst Krüger offen, wie eng subjektive Eindrücke und Rezeption von Texten miteinander verwoben sind: An welche Texte erinnern sich die Beiträger(innen) dieses Bandes? Wie lassen sich diese Texte in die Kinder- und Jugendliteratur einordnen? Das Erinnern von Literatur, das Vergegenwärtigen von Lektüren lenkt den Blick auf Kanonisierungsprozesse. Texte sind auch Ausdruck historischer Strömungen und finden Eingang in Curricula an Hochschulen und Schulen sowie in Diskurse des öffentlichen Lebens – oder eben nicht. Konsens ist mittlerweile, dass Kanonisierungsprozesse nicht einfach zu denken sind. Ein Blick in die Sozialisationsgeschichte von Schriftsteller(inne)n offenbart, dass die Lektüre von kanonischen Texten weder relevant für das Ausprägen einer stabilen Lesehaltung ist noch über Werden und Erfolg eines Schriftstellers entscheidet. So hält der Autor Hans Erich Nossack mit Blick auf seine ersten Leseerlebnisse fest: „Und noch eins fällt mir bei dieser Gelegenheit auf: daß ich als junger Mensch überhaupt nicht von Autoren oder Büchern beinflußt wurde, die damals hoch im Kurs standen und die man gelesen haben mußte.“ (Unseld 1975, S. 24)

Wie kommt es nun aber, dass – gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur – der Wunsch nach einem Kanon vorhanden ist? Verlage und Zeitschriften reagieren darauf mit Sondereditionen; Empfehlungen werden über Buchgesellschaften und Webseiten ausgesprochen; mit Preisen, wie dem ← 8 | 9 →Deutschen Jugendliteraturpreis, werden „innovative Texte“ ausgezeichnet und mit didaktischen Materialien angereichert. Mittlerweile herrscht Konsens darüber, dass sich nicht nur vermeintlich wertvolle Literatur durchsetzt und ein Kanon kein Spiegel literarischer Qualität ist. Vielmehr ist ein Kanon als historisch und kulturell bedingt, variabel und veränderbar sowie als Ergebnis von Deutungs- und Selektionsprozessen zu denken (vgl. Rippl/Winko 2013). Die Kinder- und Jugendliteratur wiederum stellt in gewisser Weise einen „kanonischen Sonderfall“ dar, da zum einen ihr Stellenwert innerhalb der universitären Germanistik bzw. Komparatistik noch nicht geklärt ist; zum anderen ist gerade hier das Bestreben des Marktes nach Kanonisierungstendenzen unübersehbar, um spezifische Vorstellungen im Zusammenspiel von Kind und Literatur niederzulegen. Kümmerling- Meibauer spricht von Prozessen „heimlicher Kanonisierungstendenzen“, die zwischen Verlagswesen, in den Feuilletons renommierter Zeitschriften, bei der Verleihung von Kinderliteraturpreisen und in Eintragungen zu Lexika und Handbüchern zu beobachten seien (Kümmerling- Meibauer 2003, S. 3). Die Wendung des „heimlichen Kanons“ greifen wir gerne auf, fügen ihr jedoch eine andere Prägung hinzu: Wir verstehen darunter die Beschäftigung mit Texten, denen Leser(innen) einen individuellen Wert zuschreiben und deren Stellenwert im Literaturbetrieb unsicher und vage ist; dies schließt mit ein, dass ein vergessener, unbekannter Text den Weg zu einem subjektiven Leseerlebnis ebnen kann, wie dies gerade bei jüngeren Beiträger(inne)n unseres Bandes der Fall ist.

Literatur an Hochschulen lesen

In der Lesesozialisationsforschung weiß man um die Bedeutung von individuellen Zugängen zum Lesen. Jedoch werden diese Vorlieben ab einer bestimmten Phase der Sozialisation sowie mit zunehmender Professionalisierung der Leser(innen) kaum noch reflektiert. Betrachtet man die Modelle der Lesesozialisation, dann scheint mit endender Adoleszenz die Ausbildung zum Leser bzw. zur Leserin unwiderruflich abgeschlossen: Die von Garbe, Holle und Jesch entwickelten Plateaus der literalen und literarischen Entwicklung enden mit 22 Jahren (vgl. Garbe/Holle/Jesch 2008, S. 37). Ähnliche Tendenzen sind bei Graf auszumachen, der von einer sekundären Phase der literarischen Initiation nach der pubertären Lesekrise spricht. Diese führt dann zu spezifischen Rezeptionsmodi von Literatur und steht gleichermaßen für eine Ausweitung des Spektrums der Lektürepraxis am Ende der Jugendphase (vgl. Graf 2007, S. 37).1

← 9 | 10 →Dass die Abgrenzung zwischen Jugend- und Erwachsenenalter mithilfe von Altersmarken nur bedingt hilfreich ist, haben in jüngerer Zeit Forschungen von Oerter und Dreher belegt. Sie sprechen sich dafür aus, anhand von Funktionsbereichen, wie der Aufnahme beruflicher Tätigkeit und Rollenübergänge, die einzelnen Entwicklungsphasen zu modellieren. Dabei favorisieren sie die Vorstellung von einer Lebensspanne und die damit verbundenen Fragen nach Richtung und Funktionalität von Veränderungen als Dimensionen menschlicher Plastizität (vgl. Oerter/Dreher 2002, S. 260). Ein solches Verständnis legen wir unseren Überlegungen zur Entwicklung von Leser(inne)n zugrunde. Insbesondere interessiert uns, wie bei Vermittler(inne)n von Literatur in Schule und Hochschule individuelle und subjektive sowie berufsbezogene Dimensionen von Lektüreprozessen „ausbalanciert“ werden. Die mit diesem Prozess einhergehenden Veränderungen hat Martin Walser am Beispiel seiner Hölderlin-Lektüren beschrieben: „Plötzlich zählt man zu den Erwachsenen. Plötzlich darf man nur noch sagen, was den Namen ‚Meinung‘ verdient.“ (Unseld 1975, S. 79) Walser fährt fort, dass gerade im Umgang mit Literatur nur noch von Bedeutung ist, was bewiesen werden kann. Erwachsene trügen Ranglisten der Qualität in sich, Urteile über Texte werden gefällt. Walser möchte demgegenüber stark machen, „daß Literatur in der Naturgeschichte eines Lebens eine Rolle spielen kann, die so wichtig ist wie die Rolle des Vaters, des ersten Gewitters oder ersten Eisenbahnfahrt“. (Ebd., S. 79) Seine Hölderlin-Lektüre im Alter von 15 Jahren verknüpft er mit seiner Lebens-Lektüre-Biografie: Es handelt sich um das Gedicht Heimkunft, das er – ohne den Autor zu kennen – auf dem Dachboden zwischen umschlaglosen Gedichtbündeln entdeckte. Später, auf der Universität, habe er erfahren, was Heidegger zu diesem Gedicht formuliert hat, habe sich Gedanken über die Namen und den Dichter gemacht; er habe sich eines sachlichen Umgangs mit dem Gedicht befleißigt, so wie es von Erwachsenen gefordert wird: „Aber dieser expertenhafte, sachliche Umgang mit dem Gedicht kann glücklicherweise nicht verhindern, daß das Gedicht immer wieder an die Rolle erinnert, die es früher einmal gespielt hat. Ja, diese Erinnerung verhindert sogar, daß man dem Gedicht gegenüber je ein reiner Experte werden kann.“ (Ebd., S. 88)

Doch wie verhalten sich Expert(inn)en zu Texten und ihren Erinnerungen an sie? Nur wenige Studien liegen über das Lesen von Literatur an deutschen Hochschulen vor. In seiner Studie Lesesozialisation und Germanistikstudium ← 10 | 11 →(1999) bündelt Eicher die Diskussion der 90er-Jahre und streift dabei das damalige Selbstbild von Hochschulehrkräften: Bei Dozent(inn)en der Germanistik spielt die Lektüre literarischer Texten eine herausragende Rolle und kann mit 12 % der wöchentlich zu veranschlagenden Arbeitszeit ausgewiesen werden; bei Universitätsprofessor(inn)en liegt dieser Wert noch über dem Zeitaufwand, der für die „Arbeit an wissenschaftlichen Publikationen“ aufgewendet wird (Eicher 1999, S. 45). Inwiefern eine solche Haltung durch Studierende und ihre Leseleistungen enttäuscht wird, legt die Studie von Schädlich offen. Jüngst analysiert sie in ihrer Dissertationsschrift Literatur lesen lernen literaturwissenschaftliche Seminare im Fach Französisch aus der Perspektive der Lehramtsausbildung; dazu befragt sie Lehrende und Studierende und kann einige interessante Einblicke bieten. Sie konstatiert für die fremdsprachige Philologie einen „Teufelskreis“: Aus Sicht der Lehrenden sinkt das „mitgebrachte Bildungswissen“ ihrer Studierenden, sodass dies erst einmal aufgeholt werden muss und deklarativ Fakten vermittelt werden müssen. Die Studierenden wiederum nehmen diese Seminarstruktur als „langweilig“ wahr und zeigen sich im Seminar kaum motiviert; Lehrende klagen dann wieder über mangelndes Engagement im Seminar (vgl. Schädlich 2009, S. 395). Als eine Möglichkeit, dieses Dilemma in Lehr- und Lernsituationen zu minimieren, schlägt Schädlich u. a. eine kritische Subjektivierung als mögliche Grundlage einer akademischen Literaturdidaktik vor. Darunter fasst sie die „nur scheinbar paradoxe Forderung, einerseits individuell-subjektive Sichtweisen der Studierenden aktiv in das Unterrichtsgeschehen einzubeziehen und andererseits diese Sichtweisen in ihrer ‚Einzigartigkeit‘ kritisch zu hinterfragen und ihre ‚Fremdanteile‘ erkennbar werden zu lassen“. (Ebd., S. 402)

Sich der eigenen Vorannahmen und Vorstellungen bewusst werden, sollte für Lehrende und Lernende an Schule und Hochschule gleichermaßen von Relevanz sein; dadurch finden Gespräche über Literatur einen Ankerpunkt, der nicht notwendigerweise auf Printfassungen von Texten beschränkt bleiben muss. Vielmehr wird Lektüre als Prozess erfahrbar, der den Dozenten nicht nur als Meisterleser versteht, dessen Deutung es nachzuvollziehen gilt; vielmehr wird der Weg in Texte – in schönster hermeneutischer Tradition – geebnet. Martin Walser fasst diesen Prozess der lebenslangen Lektüre und der Anhäufung von Wissen so zusammen:

„Manchmal wird dann aus einem Gedicht eine Lebens- und Zeitlandschaft, und wenn man es wieder liest, ist man wieder dort, wo man auf keinem anderen Weg mehr hinkommen könnte, und jetzt beim Wiederlesen ist man vielleicht noch mehr dort als damals, man weiß jetzt ein bißchen besser, warum einem das Gedicht damals so gut in den eigenen Kram paßte, obwohl man es damals sozusagen nicht begriff.“ (Unseld 1973, S. 89)

← 11 | 12 →Zu den Beiträgen

Bei der Gewinnung der Beiträger(innen) zu diesem Band war uns zweierlei wichtig: Einerseits wollen wir unterschiedliche Generationen von Dozent(inn)en an Hochschulen nach ihren Lektürepräferenzen befragen. Dadurch erstreben wir einen generationellen und sozialisatorisch grundierten Zugriff auf die Beschäftigung mit Literatur, die im wissenschaftlichen Kontext nur selten gepflegt wird. Neben den verschiedenen Geburtsjahrgängen der Beiträger(innen) möchten wir den Versuch wagen, die Relevanz subjektiver und persönlicher Rezeptionen von Texten zu plausibilisieren. Uns interessieren die Relektüren und die Text-Schätze der Beiträger(innen).

Kurt Franz (geb. 1941) kommt in seinem Beitrag „Johann Peter Hebels Der geheilte Patient als ‚Sinnstruktur ärztlichen Handelns‘. Zur Rezeption und Aktualität einer alten Kalendergeschichte“ unserer Programmatik sehr nahe; eingangs zitiert er als Motto seiner Ausführungen „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ (Bücher haben ihre Schicksale, je nachdem wie der Leser sie aufnimmt). Mit dieser gebrauchten Wendung des Grammatikers Terentianus Maurus verweist er sowohl auf die subjektive Erschließung eines Textes durch die Leser(innen) als auch auf die Zeitgebundenheit der Rezeption, die den Deutungsrahmen von Texten maßgeblich beeinflusst. Franz selbst befasst sich mit seinem persönlichen Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes von Johann Peter Hebel. Die erste Begegnung mit Texten Hebels erfolgte vermittelt durch den Vater, einem Lehrer. Immer wieder hat Franz sich in seiner Laufbahn mit Texten Hebels auseinandergesetzt, insbesondere Dem geheilten Patienten. Diesen Text lernte er in der 6. Klasse am Gymnasium kennen und hält ihn heute für aktueller denn je: Neben der Verortung im Hebel’schen Werk wird der Text sowohl vor dem Gesundheitsdiskurs des 19. Jahrhunderts reflektiert als auch seine Rezeption in Schulbüchern nachgezeichnet, die in der Gegenwart mit einer Exklusion der Texte Hebels aus Deutschbüchern endet.

Einen weiteren interessanten Einblick in Lesen – und Schreiben – von Literatur bietet Ulf Abraham (geb. 1954) in „‚Gont ist ein guter Ort.‘ U. K. LeGuins Erdsee-Trilogie“. Abraham widmet sich der Autorin Ursula Kroeber LeGuin und ihren erstmals seit 1968 in englischer Sprache erschienenen Romanen. Dazu gibt er einen Überblick über die renommierte Science-Fiction-Autorin und fasst den Inhalt zusammen; zudem macht er Vorschläge zur Verortung des Werkes im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur unter Berücksichtigung von Gattungs- und Genrefragen. Diese Überlegungen gewinnen vor der individuellen Lektüregeschichte Abrahams an Plausibilität und spiegeln seine Auseinandersetzung mit dem Werk wider: In seinen Mittzwanzigern entdeckt Abraham den Text der Autorin und ist elektrisiert von der dort dargestellten Entstehung einer Welt durch ← 12 | 13 →bzw. in Erzählen – rückblickend reflektiert er die Lektüre dieses Werkes als seinen „cultural turn“. Einordnungen und Einschätzungen prägen seinen Blick auf den Text, da sie seine Auffassung von Literatur bis heute bereichert haben. Produktiv befasst er sich mit der Welt um Gont, als er es im Rahmen eines Literaturwettbewerbs zu einem Sehnsuchtsort werden lässt.

Eine andere Akzentuierung erfährt der biografische Zugriff bei Claudia Vorst (geb. 1963) in „Von Tieren erzählen. Meindert de Jong und sein vergessenes Werk Komm heim, Candy“. Vorst versetzt sich in die Zeit ihrer kindlichen Lektüre in einem Lehrerhaushalt in Ostwestfalen zurück; sie schildert aus der von ihr rekonstruierten kindlichen Perspektive, mit welchen Normverstößen sie das Werk damals konfrontierte: Eigentlich sind Tierfiguren personalisiert und haben einen Namen; eigentlich sind Tiere literarisch gleichwertige Figuren; eigentlich sind Tiere die besseren Menschen. Schritt für Schritt arbeitet Vorst heraus, wie de Jong ihre kindlichen Erwartungen bricht und das Kind in ihr in Schmerz und Verzweiflung zurücklässt. Daran schließt Vorst eine fachlich grundierte Analyse an, die Komm heim, Candy im Gesamtwerk des Autors und in kinderliterarischen Traditionen verortet, die die angelsächsische und europäische Welt gleichermaßen verbindet.

Sven Hanuschek (geb. 1964) bespricht in seinem Beitrag „,Die grünen Blätter färbten sich golden‘. Howard Pyles The Merry Adventures of Robin Hood (1883)“ seine zweitwichtigste Kinderlektüre, da seine Erinnerungen an die wichtigste Kindheitslektüre, die vermutlich ein Pixi-Büchlein über Bambi war, unzuverlässig sind und sich auch durch Recherchen nicht klären bzw. durch handfeste Informationen ergänzen ließen. Ausgehend von mit der Lektüre verbundenen Empfindungen, Stimmungen und kindlichen Annahmen über die Figur des Robin Hood skizziert Hanuschek die Geschichte des Robin-Hood-Stoffes vom 12. Jahrhundert bis zu aktuellen medialen Darstellungen und macht sich in einer subjektiven Relektüre die Prägungen bewusst, die der Text auf ihn ausübt(e). Neben der Darstellung des Waldes als Ort des friedlichen Zusammenlebens und der Freiheit sind es vor allem Einstellungen und Verhaltensweisen im Umgang mit Autoritäten, Hierarchien, Wahrheiten und Pflichten, die aus dem Text herausgelesen, wissenschaftlich kontextualisiert und lesesozialisatorisch reflektiert werden.

Bei Michael Penzold ist es eine emotionale Familienerinnerung, die den Kinderroman „Felix und das liebe Geld. Roman vom Reichwerden und anderen wichtigen Dingen (1998) von Nikolaus Piper“ für den Autor aus der Vielzahl an Lektüren heraushebt und diesen zu einem persönlichen Schatz macht. Während der wirtschaftliche Zusammenhänge thematisierende Roman vom Beltz-Verlag im Sachbuchprogramm platziert wird, deckt Penzold die vielschichtigen narrativen Strategien des Romans auf, die diesen zu einem ästhetisch anspruchsvollen Text machen. Die Komplexität wirtschaftlichen Handelns und die Verwobenheit ← 13 | 14 →des Ökonomischen in verschiedene gesellschaftliche Bereiche wird hier gerade nicht wie im Sachbuch aus einer distanzierten sachlogischen Perspektive erklärt, sondern für Kinder über die Identifikation mit den einzelnen Romanfiguren und den Nachvollzug der verschiedenen Handlungsstränge erfahrbar gemacht. Der Roman zeige so nicht nur die Grenzen des Ökonomischen, sondern vermittle auch eine Freude an „Geld-Schätzen“ und rege so zu einem klischeefreien Nachdenken über Wirtschaft an.

Markus Raith (geb. 1970) stellt sich die Frage, wie Autor und Leser sich über Orte verständigen, die beide nicht kennen. In „Bilder des Orients oder wie Karl May über Orte schreibt, die er nicht gesehen hat“ legt er offen, welche Relevanz die Relektüren des Textes für ihn hatten – jeweils abhängig von seiner eigenen biografischen Situation. Dies führt ihn zu grundsätzlichen Fragen, inwiefern Karl May – eingedenk stereotyper Wendungen – eigentlich heute noch gelesen werden sollte. Vor der Folie der theoretischen Überlegungen von Said begreift Raith den Orient als Projektionsfläche der eigenen Sehnsüchte. Sukzessive legt er an zwei Textpassagen offen, inwiefern sich diese Texte für die Auseinandersetzung mit Stereotypen der Gegenwart eignen und Bedeutung für Leser(innen) entfalten können.

Einblicke in Tendenzen der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts bieten die Beiträge von Angelika Nix (geb. 1970) und Svenja Blume (geb. 1973). Beiden Abhandlungen ist gemeinsam, dass sie den Zusammenhang zwischen Werken der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur und Ellen Keys einflussreichem Buch Die Pädagogik des Kindes (1901) herstellen. Nix wendet sich Else Beskow zu, die eine Schülerin und Vertraute Ellen Keys war. Am Beispiel des Werkes Hänschen im Blaubeerenwald (1901) unterzieht sie Text und Bild einer sorgfältigen Analyse, indem sie das Buch in der Kunsterziehungsbewegung der Jahrhundertwende verortet und die darin enthaltenen Imaginationsräume als Freiheitsräume des Kindes deutet. Hänschen im Blaubeerenwald deutet Nix als einen wichtigen Schritt in Richtung Pippi Langstrumpf. Ihr selbst ist das Buch seit ihrer frühen Kindheit vertraut, sie fand es im elterlichen Bücherschrank vor. Svenja Blume befasst sich mit „Bibi – Pippi Langstrumpfs vergessener Schwester“; es handelt sich um die Bibi-Bücher der dänischen Autorin Karin Michaëlis, die seit 1929 in deutscher Sprache erschienen sind. Auf diese Autorin und ihr Werk ist sie durch eine Empfehlung einer dänischen Kollegin aufmerksam geworden, als sie – ebenso wie Angelika Nix – ein Seminar zur skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Freiburg vorbereitete. Blume wählt sich bei ihren Analysen zwei Referenzpunkte: Einerseits bezieht sie ihre Überlegungen auf die reformpädagogischen Vorstellungen Ellen Keys; andererseits bildet Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren eine weitere Vergleichsfolie, um Bibi zwischen den Polen Fantasie und Realität zu verorten. Die ← 14 | 15 →Vergleiche fördern frappierende Ähnlichkeiten zwischen den Protagonistinnen Bibi und Pippi zutage, die in der von Ellen Key beförderten Denkfigur des „freien Kindes“ ruhen und die Kinder- und Jugendliteratur maßgeblich geprägt haben.

Details

Seiten
284
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653042634
ISBN (ePUB)
9783653992656
ISBN (MOBI)
9783653992649
ISBN (Hardcover)
9783631646991
DOI
10.3726/978-3-653-04263-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Lesesozialisation Hochschullehre Lektüreerfahrung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 284 S., 13 s/w Abb.

Biographische Angaben

Anja Ballis (Band-Herausgeber:in) Birgit Schlachter (Band-Herausgeber:in)

Anja Ballis ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur sowie des Deutschen als Zweitsprache an der LMU München. Birgit Schlachter ist abgeordnete Studienrätin zur Habilitation an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.

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