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«Æeneas i Carthago» von Joseph Martin Kraus

Oper als Spiegelbild der schwedischen Hofkultur

von Jens Dufner (Autor:in)
©2015 Dissertation 287 Seiten

Zusammenfassung

Æneas i Carthago von Joseph Martin Kraus bildete das umfangreichste und langwierigste Opernprojekt am Hofe des schwedischen Königs Gustav III. Das Libretto verfaßte der Dichter Johan Henrik Kellgren nach einem Entwurf des Königs. Etwa ein Jahrzehnt, von 1781 bis 1792, wurde an dem opulenten Werk gearbeitet, ohne dass es zu einer Aufführung gekommen wäre. Das permanente Scheitern erweist sich freilich aus Sicht der heutigen Forschung als Glücksfall, da die reichhaltig überlieferten Quellen Entstehung und Entwicklung der Oper anschaulich dokumentieren. Jens Dufner untersucht die dramaturgische und musikalische Umsetzung des Aeneas-Stoffes am schwedischen Hof und analysiert anhand der Genese von Libretto und Musik die komplexen Rahmenbedingungen der «gustavianischen Oper».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Verzeichnis der benutzten Abkürzungen
  • Vorwort
  • 1 Einleitung: Æneas i Carthago und die gustavianische Oper
  • 1.1 Das Opernleben in Stockholm 1771-1792
  • 1.2 Die gustavianische Oper
  • 1.3 Nationaloper
  • 1.4 Vermischter Geschmack
  • 1.5 »Le genre sérieux et noble«: die ernste Oper und andere Gattungen
  • 1.6 Die Bedeutung von Æneas i Carthago für die gustavianische Oper
  • 1.7 Forschungsüberblick
  • 1.8 Zielsetzung dieser Arbeit
  • 2 Joseph Martin Kraus als Opernkomponist
  • 2.1 Die Kraus zugeschriebene »Hälfte eines Musikspiels« (VB 24)
  • 2.2 Zwischen Göttingen und Schweden: Azire (VB 18)
  • 2.3 Die erste >große< Oper: Proserpin (VB 19)
  • 2.4 Ein Bühnenerfolg aus den späten 1780er Jahren: Soliman II (VB 22).
  • 2.5 Opernprojekte in Frankreich
  • 2.5.1 Zélia, ou Lorigine de la félicité (VB 20)
  • 2.5.2 Œdipe (VB 21)
  • 2.6 Schauspiel- und Ballettmusiken
  • 3 Entstehungsgeschichte von Æneas i Carthago
  • 3.1 Anlaß und Beginn der Komposition (1781-1782)
  • 3.2 Die Auslandsreise (1782-1786)
  • 3.3 Zurück in Stockholm: die letzten Jahre (1786-1792)
  • 3.4 Krisenmanagement: die Stockholmer Oper in Kriegszeiten
  • 3.5 Grenzen der biographischen Quellen
  • 4 Mögliche Konkurrenz: ein weiteres gustavianisches Aeneas-Projekt
  • 4.1 Uttini und Ristell als Verfasser einer Aeneas-Oper
  • 4.2 Das Fragment einer Dido-Oper in Kungliga Teaterns bibliotek
  • 4.2.1 Inhalt des fragmentarisch überlieferten Librettos
  • 4.2.2 Sprachliche und musikalische Gestaltung
  • 5 Die Werkgenese im Spiegel der musikalischen Quellen
  • 5.1 Methodische Überlegungen zum Quellenmaterial
  • 5.2 Die überlieferten Textzeugen der Oper
  • 5.2.1 Die Arbeitspartitur aus Kungliga Teatern Stockholm (PartKT)
  • 5.2.2 Silverstolpes Partiturabschrift (PartSilv) und ihre heterogene Vorlage
  • 5.2.3 Die Partiturreinschrift aus Akademiska Kapellet Uppsala (PartAK)
  • 5.2.4 Die handschriftlichen Stimmen aus Kungliga Teatern Stockholm (StKT)
  • 5.3 Verschiedene autorisierte Fassungen von Mneas i Carthago
  • 5.3.1 Die Revision einiger Schlüsselszenen Ende der 1780er Jahre
  • 5.3.2 Autographe Ergänzungen in Arbeitspartitur und Stimmen
  • 5.3.3 Die Chronologie des komplexen Werkprozesses
  • 5.4 Fremde Zusätze im authentischen Notenmaterial
  • 5.5 Blieb Mneas i Carthago unvollendet? der problematische letzte Akt
  • 5.6 Überlegungen zu einer Edition von Mneas i Carthago
  • 5.7 Die Wiedergabe der Quellen in der vorliegenden Studie
  • 6 Das Libretto zu Mneas i Carthago und seine Fassungen
  • 6.1 Die überlieferten Textquellen
  • 6.2 Exkurs zum textkritischen Umgang mit den Librettoquellen
  • 6.3 Die späten Textfassungen der 1790er Jahre
  • 6.4 Das Libretto bei Silverstolpe und in der Partiturreinschrift
  • 6.5 Ein handschriftliches Libretto aus Gustavs Handbibliothek
  • 6.6 Zeitgenössische Änderungen im unterlegten Text der Opernpartitur
  • 6.7 Die Bewertung der Textquellen
  • 6.8 Zur Normalisierung der Texte innerhalb dieser Studie
  • 7 Konzeption und Dramaturgie von Mneas i Carthago
  • 7.1 Historische und mythologische Stoffe in der gustavianischen Oper
  • 7.2 Die Verarbeitung des Dido-Stoffs bei Kellgren und Kraus
  • 7.2.1 Ein Relikt aus dem 17. Jahrhundert: der Prolog
  • 7.2.2 Die Haupthandlung bei Kellgren und Kraus
  • 7.3 Die dramaturgische Rolle der Chöre und Ballette
  • 7.4 Die Götter in Mneas i Carthago
  • 7.5 Rückblick: Gustavs eigenhändige Niederschrift
  • 7.5.1 Ein früher Entwurf zu Prolog und Akt I
  • 7.5.2 Eine Reinschrift zum V. Akt
  • 7.5.3 Die Bedeutung der Entwürfe
  • 7.6 Die politische Dimension von Æneas i Carthago
  • 7.6.1 GUSTAVUS - AVGVSTVS
  • 7.6.2 Augustus und Æneas i Carthago
  • 8 Die musikalische Gestaltung von Æneas i Carthago
  • 8.1 Die formale Gliederung der Oper
  • 8.2 Die Gestaltung von Nummern und Szenenkomplexen
  • 8.2.1 Ein Götterauftritt mit einer Nummernarie (Prolog, Nr. 3)
  • 8.2.2 Bewußte Abkehr vom Nummerntypus (Akt II, Szene 1)
  • 8.2.3 Musikalische Dramaturgie an einem Höhepunkt der Oper (Akt II, Nr. 12-16)
  • 8.2.4 Arie statt Rezitativ, Spiel mit der Metrik (Akt III, Szene 3)
  • 8.3 Die Chöre
  • 8.3.1 Minimaler Choreinsatz (Akt III, Nr. 17)
  • 8.3.2 Ein Marsch mit Chor (Akt I, Nr. 10)
  • 8.3.3 Aufwertung des Chores gegenüber dem Libretto (Akt IV, Nr. 2)
  • 9 Schlußbetrachtungen
  • Anhang
  • Formübersicht der Oper Æneas i Carthago
  • Quellen und Literatur
  • Handschriftliche Quellen
  • Gedruckte Quellen
  • Sekundärliteratur
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

Verzeichnis der benutzten Abkürzungen

Kurztitel häufig zitierter Literatur

ALMANACH [Jahr] Kongl. svenska theaterns Almanach [Kongl. Theatrens Almanach] för året [År] 1779 [1781, 1782, 1783, 1784, 1785, 1786, 1787]. Stockholm 1779-1786 [siehe die leicht variierenden Titel der Einzeljahrgänge im Literaturverzeichnis].
ENGLÄDER/KRAUS Richard Engländer, Joseph Martin Kraus und die Gustavianische Oper, Uppsala (Almqvist & Wiksell) et al. 1943 (Skrifter utgivna av K. Humanistiska vetenskapssamfundet i Uppsala, 36/1).
GUSTAVIANOPERA Inger Mattsson (ed.), Gustavian Opera. An Interdisciplinary Reader in Swedish Opera, Dance and Theatre 1771–1809, Uppsala (Royal Swedish Academy of Music) 1991 (Publication issued by the Royal Swedish Academy of Music, 66).
KELLGREN/SKRIFTER Johan Henrik Kellgren, Samlade skrifter (ed. Sverker Ek et al.), Stockholm (Svenska vitterhetssamfundet) 1923 ff. (Svenska författare, 9).
KELLGREN/SvAk Johan Henric Kellgren, Skrifter. Under redaktion av Carina och Lars Burman och med inledning av Torgny Segerstedt. vol. 2: Dramatik. Kommentarer och ordförklaringar till volym I och II. Stockholm (Atlantis) 1995 (Svenska klassiker, utgivna av Svenska Akademien).
LEUX-HENSCHEN Irmgard Leux-Henschen, Joseph Martin Kraus in seinen Briefen, Stockholm (Svenskt Musikhistoriskt Arkiv) 1978 (Musik in Schweden, 4).
MGG 2 Ludwig Finscher (ed.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel/ Stuttgart 1994–2008.
SCHREIBER 2006 Karl Friedrich Schreiber, Joseph Martin Kraus (1756–1792). Biographie. Im Auftrag der Internationalen Joseph Martin KrausGesellschaft e. V. neu hg. von Helmut Brosch, Gerhart Darmstadt und Gerlinde Trunk, Buchen (Bezirksmuseum) 2006 [Kommentierter Nachdruck von Schreibers Biographie aus dem Jahr 1928]. ← 9 | 10 →
SILVERSTOLPE/KRAUS Fredrik Samuel Silverstolpe, Biographie af Kraus. Med bilagor af Femtio Bref ifrän honom. Stockholm 1833.
SVOPFÖD Marie-Christine Skuncke, Anna Ivarsdotter, Svenska operans födelse. Studier i gustaviansk musikdramatik. Stockholm (Atlantis) 1998.
STRIDSBERG Carl Stridsberg, Åminnelse-Tal öfver Kongl. Svenska Musicaliska Academiens Ledamot Framl. Kgl. Hof-Capellmästaren Herr Joseph Kraus, Hället I stora Riddarhus Salen, d. 24. Maji 1798, Stockholm (Nordström) 1798.
VB 1998 Bertil van Boer, Joseph Martin Kraus (1756–1792). A Systematic Thematic Catalogue of His Musical Works and Source Study, Stuyvesant / NY (Pendragon Press) 1998 (Thematic Catalogues, 26).
VB [Nr.] Werknummer nach VB 1998, teilweise abweichend von VB-Nummern aus der 1. Auflage des Werkverzeichnisses von 1988 (siehe Literaturverzeichnis).

Periodika werden in den Fußnoten verkürzt wiedergegeben nach MGG2, Sachteil Bd. 1, S.XIII-XVIII.

RISM-Sigel der angeführten Bibliotheken

A-Wgm Wien, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde
D-BNba Bonn, Beethoven-Haus
S-Sk Stockholm, Kungliga biblioteket
S-Skma Stockholm, Musik- och teaterbiblioteket (1996–2009: Statensmusikbibliotek, davor: Kungliga musikaliska akademiens bi- bliotek)
S-Sm Stockholm, Musikmuseet
S-Sn Stockholm, Nordiska museet
S-So Stockholm, Kungliga Operan
S-Sr Stockholm, Riksarkivet
S-St Stockholm, Kungliga Teaterns bibliotek (in: S-Skma)
S-Uu Uppsala, Universitetsbiblioteket

Zu den verwendeten Quellenkürzeln siehe S. 86 f. (musikalische Quellen) bzw. S. 130 (Librettoquellen). ← 10 | 11 →

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Jahr 2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet und aktualisiert sowie mit einem Personenregister versehen.

Die Idee zu der Dissertation entstand im Rahmen eines mehrmonatigen Forschungsaufenthaltes in Stockholm und Uppsala, bei dem ich für die Internationale Joseph-Martin-Kraus-Gesellschaft sämtliche Autographe und zeitgenössischen Abschriften von Kraus untersucht habe. In der Folgezeit konzentrierte sich mein Interesse auf die Oper Æneas i Carthago. Mir wurde schnell bewußt, wie zentral dieses Werk für das Verständnis des Kulturlebens um Gustav III. ist und daß hier noch Forschungsbedarf bestand.

Verschiedene Archive und Bibliotheken haben mich freundlich aufgenommen und mir Recherchen ermöglicht: Musik- och teaterbiblioteket (bis 2010: Statens musikbibliotek), Kungliga biblioteket, Kungliga Operan, Riksarkivet (Marieberg, Arninge und Slottsarkivet), Sveriges Teatermuseum (mittlerweile aufgegangen in Musik- och teaterbiblioteket) in Stockholm sowie Universitetsbiblioteket in Uppsala. Die Mitarbeiter dieser Institutionen haben mir einen sehr unkomplizierten Zugang zu den Archivalien ermöglicht und standen bei gezielten Fragen und Recherchewünschen hilfsbereit zur Seite. Stellvertretend möchte ich Anna Lena Holm † (damals Statens musikbibliotek) nennen, mit der ich viele fachliche Diskussionen führen durfte und die meine Forschungen mit großer Hilfsbereitschaft unterstützte. Aber auch vielen anderen, nicht im einzelnen namentlich genannten Mitarbeitern der von mir besuchten Archive sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

Verschiedene weitere Personen haben Anteil an der vorliegenden Studie. Einige Fachkollegen haben den Text vorab ganz oder in Teilen gelesen und dabei Fehler eliminiert und sprachliche und inhaltliche Verbesserungsvorschläge gegeben. Mit anderen habe ich methodische und inhaltliche Diskussionen geführt, etwa über operngeschichtliche, literaturwissenschaftliche, sprachliche oder philologische Fragen. Oft war es auch einfach hilfreich, über bestimmte Probleme in Gegenwart anderer laut zu denken. Auch hier möchte ich exemplarisch einige Personen nennen: Bernhard R. Appel, Inga Mai Groote, Arnold Jacobshagen, Helga Lühning, Dominik Rahmer, Julia Ronge, Margot Wetzstein und Reinhard Wiesend.

Thomas Betzwieser danke ich für sein sorgfältiges Lektorat und fruchtbare Diskussionen über die Arbeit. Ihm und Jürgen Maehder sei ferner für die Aufnahme in den Perspektiven der Opernforschung gedankt. Ein herzlicher Dank gilt schließlich meinem Doktorvater Wolfram Steinbeck, der mich von Beginn meines musikwissenschaftlichen ← 11 | 12 → Studiums an über das Magisterexamen hinaus begleitete und der auch die vorliegende Arbeit betreute.

Mein letzter Dank geht an meine Familie, die mich im Hintergrund unterstützte und auf deren Kosten die Arbeit an diesem Buch manchmal ging. Meine Frau Regina Jucknies hat neben vielem anderen auch meine Übersetzungen aus dem Schwedischen entscheidend verbessert.

Bonn, im Frühjahr 2015
Jens Dufner

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1Einleitung: Æneas i Carthago und die gustavianische Oper

Die Auszeichnung »Wiederentdeckung des Jahres« vergab die Zeitschrift Opernwelt im Jahr 2006 für ein Bühnenwerk, das in jenem Sommer an der Stuttgarter Staatsoper aufgeführt wurde: die Oper Æneas i Carthago1, komponiert von Joseph Martin Kraus (1756–1792) zum Libretto des schwedischen Dramatikers Johan Henrik Kellgren (1751–1795). Die Oper nimmt sowohl in bezug auf Kraus als auch auf das Umfeld, in dem sie entstand, eine zentrale Rolle ein. Ihre Erforschung erhellt daher nicht nur das Bild einer interessanten Komponistenpersönlichkeit, sondern kann auch zum Verständnis der Oper beitragen, die für etwa zwei Jahrzehnte um den schwedischen König Gustav III. (1771–1792) florierte und die – abgeschnitten von der europäischen Musikwelt – Stockholm zu einer eigenwilligen Opernmetropole des ausgehenden 18. Jahrhunderts machte.

Æneas i Carthago ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Werk, das aus der breiten Masse des damaligen Opernrepertoires herausfällt. Bereits in der immensen Ausdehnung wird das deutlich: Mit einem Prolog und fünf Akten mag das Mammutwerk in der ungekürzten Fassung vielleicht fünf bis sechs Stunden dauern – wie lang genau, läßt sich nicht bestimmen, da niemand es bislang gewagt hat, das Werk ohne Streichungen aufzuführen, und weil bei manchen Nummern gar nicht eindeutig entschieden werden kann, ob sie Bestandteil des eigentlichen ›Werks‹ sind.2 Die Handlung ist dabei trotz ihrer Länge ausgesprochen kompakt, denn die Oper kommt ungeachtet ihres Umfangs weitgehend ohne Nebenhandlungen aus. Auch in seiner ungewöhnlich langen Entstehungsgeschichte setzt sich Æneas i Carthago vom Gros der Opern des ausgehenden 18. Jahrhunderts ab. Etwa zehn Jahre hat sich der Komponist mit ihr beschäftigt in einer Zeit meist kurzlebiger Bühnenwerke. Dabei ist nicht einmal klar, ob Kraus das Werk ← 13 | 14 → in dem heute überlieferten Stadium als vollendet ansah, denn das Stück kam zu seinen Lebzeiten nicht mehr auf die Bühne. Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert – in den Jahren 1799 und 1801 – gab es einige postume Aufführungen, welche allerdings stark in die Werkgestalt eingriffen und nur noch bedingt die eigentliche Oper wiedergaben. Etwa 175 Jahre sollte das Bühnenwerk danach in den Archiven schlummern, bis es in den 1970er Jahren – wenngleich stark gekürzt und lediglich in einer konzertanten Aufführung – erstmals wieder in Stockholm erklang.3 Im Jahr 2006, zum 250. Geburtstag des Komponisten, kam es schließlich nach über 200jähriger Unterbrechung in Stuttgart wieder auf eine richtige Opernbühne. Auch dabei erklangen nicht sämtliche überlieferten Nummern der Oper.

Seine Entstehung verdankt Æneas i Carthago der ungewöhnlichen Biographie seines Komponisten: Der aus dem Odenwald stammende Kraus war 1778 nach Stockholm ausgewandert und versuchte sich dort – obwohl er eigentlich auf außermusikalischem Gebiet ausgebildet war – als Komponist zu etablieren. Erst nach drei Jahren sollte er dort Fuß fassen und sich die Gunst des schwedischen Königs Gustav III. erwerben. Im Jahr 1781 erhielt Kraus neben einer Festanstellung als zweiter Kapellmeister auch den Kompositionsauftrag zu der Aeneas-Oper. Der König selbst verfaßte einen Prosaentwurf, den Johan Henrik Kellgren in Verse übertrug.4 Geplant war die Oper zur Einweihung eines neuen Opernhauses im folgenden Jahr. Aus Gründen, auf die noch einzugehen sein wird, scheiterte dieser Plan jedoch, und das Opernhaus wurde letztlich mit einer bereits zuvor gespielten Oper eingeweiht: Cora och Alonzo des ebenfalls zeitweise in Stockholm tätigen deutschen Komponisten Johann Gottlieb Naumann (1741–1801).

Unmittelbar nach Eröffnung des Opernhauses verließ Kraus Schweden, nun allerdings sozusagen als Schwede: Er machte eine vom König geförderte mehrjährige Auslandsreise, die ihn unter anderem nach Wien, Italien, Paris und England führen sollte. Diese Bildungsreise schob das Projekt Æneas i Carthago zwar weiter auf, doch beendete sie es keineswegs. Möglicherweise bereits auf der Reise, spätestens nach seiner Rückkehr in Stockholm widmete sich Kraus wieder intensiv seiner Oper. Bis zuletzt hat er nicht nur auf eine Aufführung gehofft, sondern hat immer weiter an dem Werk gefeilt. Doch bevor es tatsächlich auf die Bühne kam, starben 1792 sowohl Gustav III. als auch Kraus; nur wenige Jahre später folgte auch Kellgren. Mit dem Tod von König, Komponist und Librettist war letztlich auch das Projekt Æneas i Carthago gestorben.

Der große Umfang des Æneas war Programm: Alle Facetten des Opernbetriebes, auf dessen Qualität man in Stockholm überaus stolz war, sollten präsentiert werden. ← 14 | 15 → Chor und Ballett mußten ebenso mit großer Präsenz in Szene gesetzt werden wie das Orchester und die Solosänger. Auch das Bühnenbild und die Maschinerie des neuen Opernhauses sollten angemessen zur Geltung kommen. Die Fülle dieser Voraussetzungen spiegelt sich auch in der Musik wider: Die Oper ist, positiv formuliert, deutlich vielfältiger als die Mehrzahl der zeitgenössischen Bühnenwerke. Diese Vielfalt kann man freilich auch in einem negativen Sinne verstehen, denn man kann der Oper ebenso gut mangelnde Homogenität vorwerfen. Um Wertungen soll es hier jedoch gar nicht gehen, und gerade die große Heterogenität macht Æneas i Carthago zu einem lohnenden Forschungsgegenstand. Die Oper steht in nahezu allen Aspekten in einem Spannungsfeld verschiedener Stile, Nationaleinflüsse und bisweilen nur schwer vereinbarer ästhetischer Konzepte. Gerade dieses Spannungsfeld und die zahlreichen Widersprüche machen Æneas i Carthago zu einem Spiegel des Phänomens ›gustavianische Oper‹, dem in dieser Studie nachgegangen wird.

1.1 Das Opernleben in Stockholm 1771–1792

Das Jahr 1771 markiert eine starke Zäsur innerhalb der schwedischen Geschichte. Nachdem König Adolf Fredrik (1751–1771) überraschend verstorben war, folgte ihm sein Sohn Gustav auf den Thron; mit ihm begann eine gänzlich neue Epoche in der Geschichte des Landes. Als dritter Gustav trat er unweigerlich in die großen Fußstapfen seiner Namensvorgänger Gustav I. Wasa (1523–1560) und Gustav II. Adolf (1611–1632), die beide zu den herausragenden schwedischen Regenten zählten. Gustav III. hat die Namensgleichheit nicht als zufällig empfunden und tat zeit seines Lebens alles dafür, sowohl von seinen Zeitgenossen als auch von der Nachwelt als würdiger Nachfolger der beiden großen Staatsmänner wahrgenommen zu werden.

Gustav III. war nicht nur als Person eine sehr viel schillerndere Figur als sein Vater und direkter Vorgänger Adolf Fredrik, auch für die politische und gesellschaftliche Situation in Schweden markiert sein Amtsantritt einen entscheidenden Einschnitt: Während er sich anfangs dem einflußreichen Adel gegenüber noch loyal zeigte, gelang ihm schon 1772 ein Putsch, der die Elite des Ständereichstages praktisch ausschaltete. Die Macht lag nun vor allem in seinen eigenen Händen. Zwei Jahrzehnte sollte seine absolutistische Herrschaft dauern, bis Gustav schließlich im Jahre 1792 durch eine Verschwörung des Adels auf dem berühmten Maskenball (der später die Vorlage für Giuseppe Verdis Oper Un ballo in maschera lieferte) ermordet wurde. Mit einer ähnlich deutlichen Zäsur, wie Gustavs Regierungszeit begonnen hatte, endete sie auch. Nachfolger wurde sein Sohn Gustav IV. Adolf (1792–1809), dessen Regentschaft jedoch nur wenige Akzente setzte. Er war ein innen- wie außenpolitisch blasser und wenig erfolgreicher Herrscher, der 1809 schließlich vom Ständereichstag abgesetzt und wenig später des Landes verwiesen wurde. ← 15 | 16 →

Ebenso deutlich wie die politische Ära Gustavs III. aus der schwedischen Geschichte des 18. Jahrhunderts hervorsticht, erlebte auch das kulturelle Leben dieser Zeit eine Blüte. Das kulturelle Interesse war natürlich auch politisch motiviert. Friedrichs des Großen Maxime, »nichts mach[e] ein Reich berühmter, als die Künste, welche unter seinem Schutze blühen«,5 galt auch für Gustav III.; in diesem Sinn verstand sich dieser durchaus als aufgeklärter Herrscher. Als er 1771 den Thron bestieg, sollte das vor allem für das Opernleben in Stockholm große Folgen haben. Das Musiktheater erlebte in den 20 Jahren seiner Regierungszeit die wohl fruchtbarste Epoche in der schwedischen Musikgeschichte. Gustavs Pläne waren überaus ambitioniert: Noch im Jahr seines Regierungsantritts wurde 1771 eine königliche Musikakademie nach dem Vorbild der französischen Académie royale de musique ins Leben gerufen und das Opernleben extensiv ausgebaut. Während zur Regierungszeit Adolf Fredriks das Repertoire wie an den meisten europäischen Höfen bestimmt gewesen war von der metastasianischen italienischen Opera seria, begann Gustav III. nun, eine eigene ›Nationaloper‹ – die freilich noch keine Nationalopoer im Sinne des 19. Jahrhunderts war – einzufordern. Auch der Bau eines neuen Opernhauses auf höchstem europäischen Niveau war Gustav ein zentrales Anliegen. Von langer Hand über viele Jahre geplant, konnte das Gebäude schließlich 1782 eingeweiht werden. Fernab der großen europäischen Musikzentren gehörte es schließlich zu einem der größten Opernhäuser Europas. Als ›groß‹ wurde es von einigen vielgereisten Musikern dabei durchaus auch in einem emphatischen Sinne verstanden.6

Die Idee einer Nationaloper, der Bau eines angemessenen Gebäudes dafür und anderes waren freilich keine Erfindung Gustavs III., sondern fanden bereits Vorbilder in Europa, etwa in den 1750er Jahren im Berlin Friedrichs des Großen (1740–1786), dessen Neffe Gustav war. Dennoch gab es einige entscheidende Neuerungen in Stockholm. Ein wesentlicher Unterschied war, daß Gustav die eigene Nationalsprache für die Oper forderte. Sämtliche Opern ab 1772 wurden ins Schwedische übersetzt bzw. wurden nach einem schwedischen Originallibretto vertont. Unter Friedrich dem Großen wäre eine deutschsprachige Oper noch undenkbar gewesen. Auch in der Musiksprache wollte ← 16 | 17 → man in Schweden eigene Wege gehen. Die italienische Opera seria verlor sehr bald stark an Bedeutung; stattdessen orientierte man sich mehr an der französischen Oper sowie an den Werken Glucks. (Daß diese hier sehr pauschal formulierte Aussage sehr viel differenzierter betrachtet werden muß, wird im Laufe dieser Studie deutlich werden.)

Gustav brachte sich selbst in das Opernleben stark mit ein und verfaßte für die schwedischen Originalwerke meist die Prosatexte, die dann schließlich den renommiertesten schwedischen Dichtern der Zeit zur Versifizierung überlassen wurden. Diese Praxis kennt man auch von anderen ›Nationalopern‹ wie z. B. wiederum bei Gustavs Onkel Friedrich dem Großen oder dessen Schwester Wilhelmine (1731–1758 Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth). Eine wesentlicher Unterschied in Stockholm war freilich die Verwendung der eigenen Nationalsprache.

Bereits Anfang 1773 – nicht zufällig am Geburtstag des Königs – konnte die erste ›eigene‹ Oper Thétis och Pelée uraufgeführt werden. Gustav III. hatte nach einer Vorlage Bernard Le Bovier de Fontenelles den Prosaentwurf gemacht, den dann Johan Wellander (1735–1783), eine zentrale Figur innerhalb der gustavianischen Oper, versifizierte. Die Musik stammt aus der Feder des aus Italien kommenden schwedischen Hofkapellmeisters Francesco Antonio Uttini (1723–1795), der noch stark in den Traditionen der italienischen Oper verwurzelt war. Erst später sollten andere ausländische Musiker die maßgeblichen ›eigenen‹ Komponisten werden, vor allem Johann Gottlieb Naumann, Joseph Martin Kraus und Georg Joseph Vogler (1749–1814).

1.2 Die gustavianische Oper

Details

Seiten
287
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653043099
ISBN (ePUB)
9783653992298
ISBN (MOBI)
9783653992281
ISBN (Hardcover)
9783631647196
DOI
10.3726/978-3-653-04309-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
gustavianische Oper Libretto skandinavien
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 287 S., 10 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jens Dufner (Autor:in)

Jens Dufner studierte Musikwissenschaft, Romanistik/Italienische Philologie und Slavistik in Bonn und Köln, wo er auch seine Promotion abschloss. Der Autor ist langjähriger Mitarbeiter im Beethoven-Haus Bonn und seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der historisch-kritischen Beethoven-Ausgabe.

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