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«Christian Rock» – Unterhaltung oder mehr?

Eine Betrachtung unter kulturanthropologischen und musikwissenschaftlichen Aspekten

von Wolfgang Kabus (Autor:in) Tobias Rux (Autor:in)
©2014 Monographie 166 Seiten

Zusammenfassung

Fast unbemerkt hat sich Christian Rock zu einem Phänomen entwickelt, an dem weder Musikwissenschaft noch Kirche vorbeikommen. Sein erklärtes Programm ist die Begegnung mit der Welt des Glaubens. Trotzdem wird er beargwöhnt, ja abgelehnt. So versucht der Autor ganz pragmatisch mit verschiedenen Fragestellungen den wirklichen Sachverhalten auf den Grund zu gehen: Was ist unter Christian Rock zu verstehen? Kann er in seiner musikalischen Grundstruktur überhaupt ein Ort der Gottesbegegnung, ein locus theologicus sein, wie seine Vertreter behaupten? Welche Werte transportiert er? Ist er nicht vielmehr von lasziven Kräften gesteuert, als dass er ein Botschafter christlichen Glaubens sein könnte? Sensibilisiert er für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Kunst, Kultur und Theologie, oder ist er nichts weiter als eine christlich-triviale Musizierpraxis zur Unterhaltung der Menschheit? Diesen Fragen wird in musikwissenschaftlichen sowie kulturanthropologischen Auseinandersetzungen nachgegangen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Erlebniskultur – die Suche nach Lebensglück
  • 1.1 Jugendkultur und Popularmusik
  • 1.2 ›Säkularisierte Religion‹ in der Popularmusik
  • 1.3 Forschungsstand, Aufgaben und Zielsetzung
  • 1.4 Zur Auswahl der Bands
  • 1.5 Zur Auswahl der musikalischen Parameter
  • 1.6 Zur Auswahl der Analysemethode – die ›Hypothetical Substitution‹ von Philip Tagg
  • 2. Was ist Rockmusik?
  • 2.1 Kulturanthropologische Bestimmung
  • 2.2 Stilistische Bestimmung
  • 2.3 Abgrenzung der Rock- zur Popmusik
  • 2.4 Typologisierung der Rockmusik
  • 2.4.1 Leitbildfunktion
  • 2.4.2 Rock-Produktion: Interaktion zwischen Industrie-Apparat und Konsumenten
  • 2.4.3 Rock-Rezeption: klare Verhältnisse
  • 2.4.4 Rockmusik und Text
  • 3. Christian Rock – christliche Lebensäußerung und kulturelle Qualität?
  • 3.1 Vorüberlegung: Was ist christliche Musik?
  • 3.2 Popularität und Akzeptanz – vom Bekanntheitsgrad des Christian Rock
  • 3.3 Christian Rock
  • 3.4 Jesus Rock
  • 3.5 Christian Metal
  • 3.6 Praise and Worship
  • 3.7 Neues Geistliches Lied
  • 3.8 Contemporary Christian Music
  • 4. Entstehung und Entfaltung des Christian Rock
  • 4.1 Historischer Abriss
  • 4.2 Larry Norman
  • 4.3 Plattenfirmen, Verlage und Festivals
  • 4.4 Entwicklung der christlichen Popularmusik und des Christian Rock in Deutschland
  • 5. Beispiele bekannter Vertreter des Christian Rock
  • 5.1 Petra (Hardrock)
  • 5.1.1 Der christliche Aspekt, Erfolg, Kritik und Wirkung der Musik von Petra
  • 5.1.2 Kulturanthropologische Argumentation zu God Gave Rock And Roll To You
  • 5.1.3 Musikalische Analyse von God Gave Rock And Roll To You
  • 5.2 Stryper (Heavy Metal)
  • 5.2.1 Der christliche Aspekt, Charakteristik und Kritik an der Musik von Stryper
  • 5.2.2 Kulturanthropologische Argumentation zu To hell with the devil
  • 5.2.3 Musikalische Analyse von to hell with the devil
  • 5.3 Arne Kopfermann (Praise and Worship)
  • 5.3.1 Stark im Inhalt: Praise and Worship
  • 5.3.2 Kulturanthropologische Argumentation zu Unendlich Gross Und Weit
  • 5.3.3 Musikalische Analyse von Unendlich Gross Und Weit
  • 5.4 U2 (Stadion / Arena Rock)
  • 5.4.1 Der christliche Aspekt und die Kritik an der Musik von U2
  • 5.4.2 Kulturanthropologische Argumentation zu Wake Up Dead Man
  • 5.4.3 Musikalische Analyse von Wake Up Dead Man
  • 6. Zur Typologie des Christian Rock
  • 6.1 Politisches und soziales Engagement
  • 6.2 Christliches Künstlertum und Lebensgestaltung
  • 6.3 Fan-Accessoires, Symbolik und Publikumsverhalten
  • 6.4 Namensgebung
  • 7. Zur Kritik am (Christian) Rock
  • 7.1 Kritik an musikalischen Aspekten des Rock
  • 7.2 Kritik am Verhalten, das mit Rockmusik in Verbindung gebracht wird
  • 7.3 Kritik am Christian Rock
  • 8. Christian Rock – eine aktuelle Sprache des Glaubens
  • Anhang
  • Songtexte
  • Literatur
  • Bands und Musiker
  • Reihenübersicht

← 8 | 9 → Vorwort

Seit meiner Jugendzeit bin ich Hörer von Rockmusik. Über Tonträger oder bei Konzerten kam ich mit vielen Spielarten des Rock in Berührung. Dabei ist mir aufgefallen, wie unterschiedlich sich Performance, Text und Kontext auf meine Wahrnehmung auswirkten. Es schien mir, als ob dabei die innere Einstellung des Protagonisten einen großen Einfluss auf die Rezeption von Musik hat – was sich im Rock noch augenscheinlicher niederschlägt als in anderen Ausdrucksformen populärer Musik. Einerseits vom persönlichen Ausdruck des Interpreten beziehungsweise der Aussage und Ausstrahlung seiner Musik angetan bis überwältigt, riefen andere Darbietungen in diesen Punkten Enttäuschung und Abschreckung in mir hervor. So begann ich, mich für das Leben der Musiker, für ihre innere Einstellung, ihre Texte zu interessieren. Aus welchem Anlass schrieb Joan Baez Sweet Sir Galahad? Ist die im Song Black Sabbath der Band Black Sabbath vermittelte Angst vor dem Bösen für die Autoren real oder nur Ironie? Welche Wirkung können die Songs Purple Haze von Jimmy Hendrix und Straight Edge von Minor Threat haben, die sich – mit völlig unterschiedlichen Inhalten – dem Thema Drogen nähern? Alles läuft hinaus auf die Frage: Welche Botschaft hat Christian Rock, welche Wirkung hat er?

Das Warum des Schreibens über eine spezifische Strömung im Rock klärt sich durch meine Beobachtungen im Alltag und das auf Konzerten und Festivals durch meinen Blickwinkel Wahrgenommene. Ich sehe viele Angebote, viele Partys, viel Kultur, viel Kunst, viel Musik. Das ist zunächst positiv. Doch bleibt der Eindruck, dass Angebote in ihrer ethischen und moralischen Zielstellung zu kurz greifen oder gar keine besitzen. Sie fordern sie nicht ein, was die Lücke zwischen Sinnfindung und Realität vergrößert. Doch die Gesellschaft, besonders junge Menschen, sehnen sich nach etwas, was ihrem Leben Halt gibt.

Mit dem Studium der Musikwissenschaft, besonders des Seminars Musikwissenschaft und Popularmusik, entstand ein persönliches Desiderat, herauszufinden, ob und inwieweit bestimmte Strömungen des Rock sich hinsichtlich musikalischer, ideologischer und soziologischer Kriterien unterscheiden und welchen Wert oder Unwert sie für die Gesellschaft besitzen. Auch die Kritik an der vielleicht authentischsten Ausdrucksform der (jugendlichen) Gesellschaft veranlasste mich, jene Aspekte, hier auf die bisher vernachlässigte Sparte Christian Rock bezogen, genauer zu beleuchten. Hat diese musikalische Stilrichtung das Potenzial, sich mit den zeitlosen christlichen Werten zu verbinden?

Meiner These, dass Christian Rock nicht nur Erlebnis, sondern Sinn- und Wertevermittler ist, soll in diesem Buch nachgegangen werden. Ebenso möchte ich für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Kunst und Kultur sensibilisieren. Spaß ohne Sinn hat nicht nur in der Musik zu verwüsteten Hotelzimmern, ungezügeltem Alkohol- und Drogenkonsum und destruktiven Texten geführt. Es soll klar werden, dass mit Musik verbundener christlicher Glaube nicht Platz für alles ← 9 | 10 → hat, wohl aber auseinandersetzungsbereit sein muss, wenn seine Botschaft erfolgreich in unserer realen Musikwelt toleriert werden soll.

Zu den wichtigsten Kritikpunkten (siehe Abschnitt 7) gegenüber christlicher Rockmusik wird Stellung genommen und gleichzeitig der Versuch gewagt, aufzuzeigen, dass diese Musikrichtung mehr kann, als nur ästhetisch minderwertige Produkte hervorzubringen oder eine kontraproduktive Unverständlichkeit ihrer Texte aufzuweisen, ja, dass sie sogar für den kirchlichen Gebrauch taugt. Gerade aber diese Kritik ist es, die dazu veranlasst, den gesellschaftlichen Nutzen von Christian Rock zu prüfen (Abschnitte 5 und 6)!

Nun ist Gelegenheit, verschiedenen Personen ›Danke‹ zu sagen: Frau Prof. Linda Maria Koldau gilt mein besonderer Dank. Sie war die Betreuerin, Gutachterin und Prüferin meiner Magisterarbeit. Sie ermutigte mich immer wieder, diese Arbeit fortzuführen und zu erweitern. Besonders dankbar bin ich dem Herausgeber der Friedensauer Schriftenreihe, Reihe C, Musik – Kirche – Kultur, Herrn Prof. Wolfgang Kabus, dass er meine Arbeit in seine Reihe aufgenommen hat, ebenso für seine zahlreichen Hinweise zu Form und Inhalt. Seine Argumentation für eine Verbindung von populärer Musik und Kirche imponiert mir und spricht mir aus dem Herzen. In unserer heutigen Gesellschaft leider selten anzutreffen ist sein Blickwinkel. Ihm und (Kirchen-)Musikern, die in seiner Schriftenreihe publizieren, ist es zu verdanken, dass Themen zur Popularmusik immer wieder aufgegriffen und wissenschaftlich untersetzt werden. Dies ist so unglaublich wichtig für die Begegnung von Popularmusik und Kirche. Meiner Lektorin Andrea Cramer danke ich für eine intensive orthografisch-grammatikalische, stilistische und inhaltliche Richtigstellung, wo dies nötig war. Der vorliegende Text ist durch sie wirklich flüssiger zu lesen und einfacher zu verstehen. Auch allen anderen, die mich in der Entstehungsphase dieses Buches unterstützt haben, danke ich sehr.

 

Frankfurt am Main, Herbst 2013 Tobias Rux

← 10 | 11 → 1. Erlebniskultur – die Suche nach Lebensglück

Erlebnisorientierung ist eine unmittelbare Form auf der Suche nach Glück. Typisch für Menschen unserer Kultur ist das ›Projekt des schönen Lebens‹.1 Es ist alles gut, wenn es nur Spaß macht.2 Ein Glücksgefühl können nicht nur unzählige Vergnügungsparks, Festivals, Livekonzerte, Märkte, Ausstellungen, Shoppingcenter, Urlaubs- und Ferienangebote oder Anlässe vermitteln. Auch der dazugehörende ›Erlebnis-Kick‹ erreichte erst kürzlich mit einem Sprung des Extremsportlers Felix Baumgartner aus 39 km Höhe seinen bisherigen Zenit.3 Jahrhunderte lang war das Beziehungsgeflecht oder die soziale Stellung, in der man lebte, mehr oder weniger vorgegeben. Man trat den Beruf des Vaters an, eine Heirat erfolgte zu großen Teilen nach materiellen Gesichtspunkten von ›höherer Instanz‹ entschieden, und der Slogan ›My home is my castle‹ galt als allgemein hingenommen – ein Leben lang. Außerdem ließ ein ausgeprägtes Großgruppenbewusstsein, also die Involviertheit in Vereine, Gruppen und Institutionen, einer individuellen Lebensgestaltung nur wenig Raum. Mit einer Neuorientierung einer seit mehr als 200 Jahren bestehenden Industriegesellschaft, die Mitte des 20. Jahrhunderts begann, wurden die alten Muster, Begrenzungen und sozialen Kontrollen aufgesprengt. Die absolute Wahrheit gab es nicht mehr; es herrschte Wahrheitspluralismus. Ebenso geschah es mit der Orientierung (Friedrich Nietzsche), Kultur, Weltanschauung und Religion – alles bestand nun innerhalb einer Multioptionsgesellschaft (Peter Gross). Die Folge war Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas).4

Durch den Wegfall von scheinbar ausgedienten Werten und gleichzeitiger Entstehung neuer erlebnisorientierter Kriterien, wie Nonkonformismus, Spontaneität, persönlicher Stil in der Phase des Kulturkonflikts von Mitte der 1960er bis Ende der 1970er Jahre, bekam der bis dato unangefochtene Erzieher Konkurrenz. Das Resultat war eine Verschiebung des Beziehungsgefüges der vorrangig Jugendlichen und jungen Erwachsenen zugunsten des favorisierten oder ›passenden‹ Milieus und des zugehörigen Protagonisten. Nicht mehr Eltern, Institutionen oder Schulen erziehen heute umfassend, sondern es gesellen sich in immer höherem Maße Medien- und Musikmärkte dazu, die entstandene Lücken auf ihre Weise füllen. Die Heranwachsenden suchen sich ihre Identität auf eigens gewählten Pfaden. Der neue Modus der individuellen Selektion nimmt an Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang spricht der Soziologe Gerhard Schulze von Beziehungswahl im ← 11 | 12 → Gegensatz zu der bis dahin vorherrschenden Beziehungsvorgabe.5 War also lange Zeit das Leben außenorientiert, das heißt, der Mensch stellte sich die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst vor, so setzt sich mit zunehmendem materiellem Reichtum seit den 1980er Jahren eine eher nach innen gerichtete Sicht in der Gesellschaft durch. Wo lange Zeit die Beschaffung lebensnotwendiger Ressourcen, die Altersvorsorge und das Erfüllen einer Lebensaufgabe im Mittelpunkt stand, stellt sich jetzt der Mensch die Realität (zuerst) als Verweis auf sich selbst vor. Nun sind Sachverhalte wichtig wie Kleidung, Essen, Partnerschaft, Kinder, Beruf, Geldeinkommen, Bildung, also vom Umfeld nicht beurteilbare, sondern vom Menschen selbst entscheidbare Dinge. Hier wird von einer Funktionalisierung der äußeren Umstände für das Innenleben gesprochen.6

Interessant dürfte in diesem Zusammenhang Schulzes Einteilung der Gesellschaft in bestimmte Szenen sein, die wiederum speziellen Milieus zugeordnet werden können. Von den Szenen, die er thematisiert, lassen sich (1) die ›Neue Kulturszene‹ und (2) die ›Kneipenszene‹ mit dem hier zu betrachtenden Phänomen Rockmusik in Verbindung bringen. Erstere meint freie Theatergruppen, Kleinkunst, Jazz-, Rock- oder Popkonzerte, Filmkunst und Kabarett in Cafés, Kneipen oder Diskotheken. In der zweiten Szene ist Rock beheimatet, allerdings kaum visuell erlebbar. Entscheidend ist hier für das Thema des Buches, dass sich in beiden Szenen Personengruppen bewegen, denen als Motiv das Milieu der Selbstverwirklichung dient (erst danach das Unterhalten-werden-wollen). Diese realisiert sich auf Bühnen und im Publikum bei Rockkonzerten und schlägt die Brücke zur Leitbildkultur.7 Hier sind Lautstärke, Bewegung, Klatschen, Anfeuern, Zwanglosigkeit, auch Essen und Trinken der Motor für Künstler und Konsumenten. Dort ist man offen für Kommunikation, setzt auf Individualität und positioniert sich damit ›gegen‹ Anpassung, Verkrampfung, Durchschnitt, Kontrolle, Langeweile, Gleichförmigkeit oder Einschränkung. Die ›Neue Kulturszene‹ profiliert sich am klarsten vor allen anderen. Dagegen wollen Liebhaber (3) bildungspolitischer Kultur – etwa Hochschulabsolventen, gehobener Mittelstand –, zu denen klassische Konzerte, Opern, Theaterstücke, Kunstausstellungen passen und die die sogenannte Hochkulturszene bilden, zuerst Niveauvolles erleben. Dazu gehören ruhiges Sitzen und ein gehobener Kleidungsstil; auch der Künstler selbst fühlt sich durch die Stille im Saal motiviert.

Wenn man alle sechs von Gerhard Schulze aufgeführten Szenen – inklusive der noch nicht erwähnten (4) Kulturladen-, (5) Volksfest- und (6) Sportszene – betrachtet, wird eines klar: Alle suchen und lieben das Erlebnis, den Spaß, die Ablenkung vom Alltag. War es früher ein Lebensziel, so zählt heute der kurzfristige Genuss. Die bestmögliche Ausnutzung der persönlichen Freizeit steht vorn auf der Agenda des Lebens.8 Langfristige Ziele rücken mehr und mehr in den Hintergrund. ← 12 | 13 → Es kommt auch nicht von ungefähr, dass in der Musikwelt erst seit noch nicht einmal 200 Jahren vom Terminus Unterhaltungsmusik gesprochen wird. Das verwundert nicht: Die Erziehungsprozesse der Vergangenheit waren nicht darauf ausgelegt, dem Individuum Freiheit in allen Lebensbereichen zu vermitteln, sondern durch Konventionen die Macht einiger weniger zu vergrößern. Das Praktizieren von Kunst blieb Jahrhunderte lang nur höheren Ämtern vorbehalten. Besonders die Einstellung, dass Musik zur Unterhaltung, zum Lebensgenuss dienen könne, setzte sich grundlegend erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch – sowohl beim Adel als auch im Bürgertum.

Letztendlich erfolgt die Einteilung der Gesellschaft in das alltagsästhetische Hochkultur-, Trivial- und das Spannungsschema. Letzteres stellt den Bezug zur Rockmusik her. Individuen, die hier zugeordnet werden können, mögen typischerweise Rock, Pop, Disco, Kino. Während Menschen, die den beiden anderen Gruppen zuzuordnen sind, nach Perfektion und Harmonie als Lebensphilosophie streben und über Gemütlichkeit und Kontemplation das Leben genießen, stehen bei sozialen Gruppen die Spannungsschemata Narzissmus, Action und Antikonventionalität im Vordergrund.9

1.1 Jugendkultur10 und Popularmusik

Jugendkulturen, deren Zugehörige zum Beispiel als Hippies, Mods, Rocker, Punker, Gothics, Hip-Hopper oder Raver bezeichnet werden, haben mehrere, aber zumindest eine elementare Gemeinsamkeit: Sie alle stehen nicht nur mit populärer Musik in Verbindung, sondern sie orientieren sich in gewisser Weise an ihren musikalischen Vorbildern, den Protagonisten der Popularmusik. Die Stars und Sternchen, die Großen des Musikgeschäftes prägen und formen mehr oder weniger das Verhalten und den Charakter ihrer (oft) jugendlichen Konsumenten. Von Megastars des Pop und Rock wie Madonna, Bing Crosby, Elvis Presley, Michael Jackson, Aerosmith, Bryan Adams, John Bon Jovi, Metallica oder Sting fühlen sich Millionen Menschen angezogen. Würde ihre Musik, die Aussagen der Texte, die Botschaft, die Personen der Band selbst, ihre sozialen Aktionen oder die Einblicke in ihr Leben nicht Eindrücke beim Hörer hinterlassen, würde dieser sich nicht für den Besuch eines Konzerts oder das Hören dieser Musik entscheiden. Der Konsument setzt sich aus eigenem Antrieb mit dem Künstler auseinander und identifiziert sich mit ihm, was bedeutet, dass er ihn und seine Musik akzeptiert. Schlussfolgernd heißt dies, dass sich Gestaltung von Jugendkultur nicht nur auf die Clique oder das soziale Umfeld bezieht, sondern sich in erster Linie um den Protagonisten mit seiner dargebotenen populären Musik – den Musiker, die Band rankt. Deswegen ist Jugendkultur heute ohne Musik nicht einmal ansatzweise denkbar.11 Diese ← 13 | 14 → Verbindung aufheben zu wollen, was gerade im konservativen Lager immer wieder geschieht, hieße, in eine Parallelwelt zu flüchten, die es nicht gibt.12

Die Erziehung zur Musik flacht heute immer mehr ab. Dagegen wird Jugend durch (und nicht nur mit) populäre(r) Musik groß.13 Das kommt nicht von ungefähr: Popularmusik ist die prägende Signatur der Postmoderne. Was sie für die Jugend so attraktiv macht, ist ihre Anpassungsfähigkeit im Gegensatz zur fixierten und kulturell enggeführten Kunst.14 Und wenn Musik als Ganzes neben den anderen Künsten betrachtet wird, liegt sie in einem für die Jugend wichtigen Punkt auch wieder vorn: Sie kann die stärksten Emotionen aller Künste auslösen, wirkt somit ›menschlicher‹. Trifft dies schon für die Musik zu, dann noch mehr für die Popularmusik. Das deshalb, weil sie in ihrer Struktur wiederum selbst nach emotional decodierbaren Parametern von Rezipienten abgetastet werden kann.15 So ist es der emotionale Gehalt, der jenen Ausdruck von Jugendkultur zum vielleicht wichtigsten macht. Außerdem stehen psychische Bedürfnisse im Vordergrund. Der Hörer soll es möglichst leicht haben, die Musik zu rezipieren und sich dabei so gut es geht angesprochen fühlen. Die Stilvielfalt wird dabei helfen, dass er ein auf seinen persönlichen Geschmack exakt abgestimmtes Wohlfühlprodukt vorfindet. Heute werden dem Konsumenten so viele Settings, Aufführungsorte, Gruppen, Stile, kurz musikalische Lebenswelten vor die Nase gesetzt, dass er nicht nur nicht suchen muss, sondern die ›Qual der Wahl‹ hat.16 Durch eine im Gegensatz zur Kunstmusik mehr und mehr synthetischen Generierung17 entstehen Formen, die alles Bisherige miteinander künstlich vereinen und zusätzlich Neues beinhalten. Dies geht einher mit einer sich immer schneller wandelnden subjektiven Geschmackskultur in der Popularmusik,18 wie man sie von der traditionellen Musik nicht kennt.19 Das heißt, der Hörer wird auf gewisse Weise zu einem Wegweiser innerhalb der Musikkultur (siehe auch Abschnitt 2.4.2).

In der postmodernen Musik scheint die Wertigkeit des geschriebenen, gesprochenen oder gesungenen Wortes (stark) abzunehmen, darauf weist Jaques Derrida hin.20 Ihm gegenüber steht eine Aufwertung des Musikalischen, die mit der eingangs erwähnten Sehnsucht nach dem (musikalischen) Erlebnis zusammenzuhängen scheint. Schaut man sich heute die Vielgestaltigkeit des Klangs, besser Sounds an, dann fällt ein Nachvollziehen leicht. Die lange Zeit für den Gehalt eines Stückes wichtigen erzählten und dargestellten Mythen des Lebens, also Text und ← 14 | 15 → Kontext oder die rationale Seite der Musik, treten gegenüber dem wortlosen Mythos, also einer Emotionalität und körperlichen Bewegung, zurück. Kurz gesagt: Der Klang dominiert vor dem Wort,21 was noch stärker auf die Rockmusik zutrifft. Zu den klassischen Instrumenten sind mit der Elektrisierung des Instrumentariums und der Elektronisierung beziehungsweise Synthetisierung von Klängen schier unendliche Möglichkeiten, Sounds zu kreieren, hinzugekommen. In dieser Hinsicht ist die Wahrnehmung zunehmend sensibler geworden für eine Unterscheidung der klanglichen Signale in der Musik.

Die vielgestaltige, internationale Popularmusik hat die Welt inklusive der Entwicklungsländer zu einem globalen Dorf gewandelt.22 Aber nur in den ›verkopften‹ Industrienationen hat sie eine solch hohe Wirkung erreicht, weil sie erst hier als Befreiung, als Antwort in Form von Tönen wahrgenommen werden kann. Sie ist zum Herzstück der abendländischen Kultur geworden. Dies könnte zwei Gründe haben: Was sich heute nicht mehr rational aussagen lässt,23 kann aber emotional nicht geleugnet werden.24 Die Empfindungen bei bestimmten Sounds können hier unbewusst ein Verarbeiten eines Sachverhalts darstellen, der allein durch Nachdenken nicht gelöst werden kann. Außerdem ist dort, wo für Zustandsbeschreibungen oder Lebenserfahrungsberichte die Worte fehlen, die Wiedergabe mit adäquaten Klängen möglich. Durch die Kraft der Musik öffnet sich der Blick für die Meta-Ebene.

Details

Seiten
166
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653040210
ISBN (ePUB)
9783653989861
ISBN (MOBI)
9783653989854
ISBN (Hardcover)
9783631649336
DOI
10.3726/978-3-653-04021-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Februar)
Schlagworte
Christiliche Rockmusik Jesus Pop Popularmusik Neues Geistliches Lied Tagg, Philip
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 166 S., 13 s/w Abb., 5 Tab.

Biographische Angaben

Wolfgang Kabus (Autor:in) Tobias Rux (Autor:in)

Tobias Rux, Studium der Musikwissenschaft, jüdisch-christlichen Religionswissenschaft und Pädagogik in Frankfurt am Main; musikpraktische Lehrtätigkeit sowie Forschungsarbeit zu Christian Rock und Populäre Musik (Musik und Drogen); Mitglied im Arbeitskreis Studium Populärer Musik ASPM.

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Titel: «Christian Rock» – Unterhaltung oder mehr?
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