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Zeit und Tempus im Deutschen und Bulgarischen

Versuch einer kulturkontrastiven Betrachtung

von Mina Ioveva (Autor:in)
©2014 Dissertation 292 Seiten

Zusammenfassung

Was ist die Zeit? Inwiefern bringen die deutschen und bulgarischen Tempora den Zeitbezug zum Ausdruck? Ist ein Zusammenhang des Satzrahmens im Deutschen mit dem Lebensraum der Germanen oder der Nacherzählformen im Bulgarischen mit der Kultur der Protobulgaren denkbar? Mit diesen Fragestellungen analysiert die Verfasserin, am Beispiel der deutschen und bulgarischen Tempora, kulturphilosophische Hintergründe für die Entwicklung sprachlicher Phänomene. Ideengrundlage der Untersuchung bildet Wilhelm von Humboldts Überzeugung, dass Sprachen Weltanschauungen und Tempussysteme Zeitvorstellungen widerspiegeln. Die interdisziplinär angelegte Arbeit umfasst ein breites Spektrum an Wissensbereichen von Sprachwissenschaft, interkultureller Grammatik, Kultur, Geschichte und Geographie bis zu Neurowissenschaften.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einführung
  • 1 Grund, Wesen und Ziele der Untersuchung
  • 2 Ideengrundlage
  • 3 Methode
  • 4 Stand der Forschung
  • Kapitel I: Kurze Geschichte der Zeit
  • 1 Geburtsstunde des Zeitempfindens
  • 2 Zeitbewusstsein in der Geschichte und Gesellschaft Europas
  • 3 Zeit in den Naturwissenschaften: Physik, Biologie, Hirnforschung, Epigenetik
  • 3.1 Physik
  • 3.2 Biologie
  • 3.3 Hirnforschung
  • 3.3.1 Entwicklungsphasen des Zeitempfindens
  • 3.3.2 Taktgeber im Gehirn
  • 3.3.3 Das Gehirn als Konzert tausender Rhythmen
  • 3.3.4 Worte und Atem als Taktgeber
  • 3.3.5 Raum als zeitliche Orientierung
  • 3.3.6 Ereignisse als Maß der Zeit
  • 3.3.7 Zeitempfinden als Maß von wahrgenommener und gespeicherter Information
  • 3.3.8 Dauer der subjektiv empfundenen Gegenwart
  • 3.4 Epigenetik
  • 4 Zeit in unterschiedlichen Kulturen
  • 5 Zeit in der und durch die Sprache
  • Kapitel II: Sprachwissenschaftlicher Teil
  • I Tempussysteme des Deutschen und Bulgarischen im Überblick
  • 1 Zu den Begriffen Tempus, Aspekt und Aktionsart
  • a) Tempus
  • b) Aspekt
  • Der Unterschied kann auch modalen Charakters sein:
  • c) Aktionsart
  • 2 Mittel zum Ausdruck des Zeitbezugs im Deutschen und Bulgarischen: Auflistung
  • a) Mittel zum Ausdruck des Zeitbezugs im Deutschen:
  • b) Mittel zum Ausdruck des Zeitbezugs im Bulgarischen:
  • 3 Tabelle der deutschen und bulgarischen Tempusformen im Indikativ
  • II Kontrastiv-funktionale Analyse der Tempusformen im Deutschen und Bulgarischen
  • 1 Präsens im Deutschen – Präsens (сегашно време) und Futur (бъдеще време) im Bulgarischen
  • 1.1 Ähnlichkeiten
  • 1.2 Unterschiede
  • a) Präsens im Deutschen – Futur im Bulgarischen
  • b) Das Präsens und der Aspekt im Bulgarischen
  • 2 Präteritum im Deutschen – Imperfekt (минало несвършено време), Aorist (минало свършено време) und Futurum praeteriti (бъдеще време в миналото) im Bulgarischen
  • 2.1 Ähnlichkeiten
  • 2.2 Unterschiede
  • 3 Perfekt im Deutschen – Perfekt (минало неопределено време), Imperfekt (минало несвършено време) und Aorist (минало свършено време) im Bulgarischen
  • 3.1 Ähnlichkeiten
  • 3.2 Unterschiede
  • Hier ist der Satz zum Vergleich im Aorist:
  • 4 Plusquamperfekt im Deutschen – Plusquamperfekt (минало предварително време) im Bulgarischen
  • 4.1 Ähnlichkeiten
  • 4.2 Unterschiede
  • 5 Futur I im Deutschen – Futur (бъдеще време) im Bulgarischen
  • 5.1 Ähnlichkeiten
  • 5.2 Unterschiede
  • 6 Futur II im Deutschen – Futurum exactum (бъдеще предварително време) im Bulgarischen
  • 6.1 Ähnlichkeiten
  • 6.2 Unterschiede
  • Zum Vergleich:
  • 7 Futurum praeteriti (бъдеще време в миналото) und Futurum exactum praeteriti (бъдеще предварително време в миналото) im Bulgarischen – würde + Infinitiv I, würde + Infinitiv II, Konjunktiv II der Vergangenheit, Modalverbverbindung mit sollen/wollen im Deutschen
  • 7.1 Ähnlichkeiten
  • Futurum praeteriti
  • Futurum exactum praeteriti:
  • 7.2 Unterschiede
  • a) Temporale Charakteristik des Futurum praeteriti
  • b) Temporale Charakteristik des Futurum exactum praeteriti
  • III Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Konjunktiv I und II im Deutschen – Nacherzählformen im Bulgarischen
  • 1 Wesen der Nacherzählformen
  • 2 Ähnlichkeiten
  • 3 Unterschiede
  • IV Zusammenfassung
  • Kapitel III: Sprachgeschichtliche Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der Tempussysteme im Deutschen und Bulgarischen
  • I Deutscher Teil
  • 1 Perioden in der Entwicklung der deutschen Sprache
  • 2 Übergang von einem Aspekt-Tempus-System zu einem eher eindeutigen Tempussystem mit aspektualen neben modalen Eigenschaften
  • 2.1 Vom protoindoeuropäischen Perfekt-Aspektstamm zum germanischen Tempus Präteritum der regelmäßigen und unregelmäßigen Verben
  • 2.2 Aspekte und Aktionsarten
  • 2.3 Präsens und Präteritum – Kern des Tempussystems bis zum Frühneuhochdeutschen
  • 3 Verbreitung der periphrastischen Tempusformen Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II
  • 3.1 Zusammenhang zwischen der Entstehung der periphrastischen Tempusformen und dem Satzrahmen
  • 3.2 Perfekt und Plusquamperfekt
  • 3.2.1 Entwicklung der Perfektperiphrase bei den Verben der Bewegung
  • 3.2.2 Ursachen für die Entstehung, Grammatikalisierung und Verbreitung der Perfektfügung
  • 3.2.3 Zusammenfassung
  • 3.3 Futurformen
  • 3.3.1 Ausdruck des Zukünftigen in altindoeuropäischen Sprachen
  • 3.3.2 Formen zum Ausdruck des Zukunftsbezugs im Gotischen und Althochdeutschen
  • 3.3.3 Zur Bedeutung des Verbs werden
  • 3.3.4 Von der Fügung werden mit dem Partizip I zu der Fügung werden mit dem Infinitiv
  • 3.3.5 Lateinischer Einfluss
  • 3.3.6 Zusammenfassung
  • II Bulgarischer Teil
  • 1 Perioden in der Entwicklung der bulgarischen Sprache
  • 2 Erhalt und weiterer Ausbau des altbulgarischen Tempussystems
  • 3 Funktionale und formale Erweiterung des bulgarischen Perfekts
  • 3.1 Mögliche sprachliche und sozialhistorische Hintergründe für die funktionale und formale Erweiterung des bulgarischen Perfekts
  • 3.2 Formen zum Ausdruck von Unbezeugtheit im Tschuwaschischen
  • 3.3 Gesetzsystem der Protobulgaren
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4 Fortbestehen der Unterscheidung zwischen Aorist, Imperfekt und Perfekt trotz Vorhandenseins eines perfektiven und eines imperfektiven Aspektes
  • 5 Analytisches Futur mit ще + Vollverb bzw. няма + да + Vollverb
  • 5.1 Vom altbulgarischen einfachen Futurum vollendeter Verben zu den periphrastischen Futurumschreibungen
  • 5.2 Von den Futurumschreibungen imĕti + Infinitiv und chotĕti + Infinitiv zu der gegenwärtigen positiven Futurform ще + Vollverb und der negativen няма + да + Vollverb
  • III Zusammenfassung
  • Kapitel IV: Kulturgeschichtliche Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der Tempussysteme im Deutschen und Bulgarischen
  • 0 Einführung
  • I Deutscher Teil
  • 1 Vorüberlegungen: Wie der Raum im Deutschen der Zeit Form und Inhalt verleiht
  • 2 Raum, Klima, Gesellschaft der Germanen und die synthetischen Formen zum Ausdruck des Zeitbezugs
  • 2.1 Lebensraum der Germanen
  • 2.2 Gesellschaft und Sprache
  • 2.3 Zeit- und Raumwahrnehmung
  • 2.4 Raumknappheit und die Aktionsarten
  • 3 Territorium, Ethnogenese der Deutschen, Satzrahmen und die analytischen Formen zum Ausdruck des Zeitbezugs
  • 4. Einige kulturphilosophische Zeitauffassungen im Mittelalter
  • 4.1 Germanischer Naturglaube
  • 4.2 Germanische Zeitrechnungen
  • 4.3 Folcuin von Lobbes und Augustinus
  • 5 Zusammenfassung und Ausblick
  • II Bulgarischer Teil
  • 1 Hypothesen
  • 2 Staatswesen der Protobulgaren
  • 3 Architektur und Bauwesen als Ausdruck des Sakralen
  • 4 Stein- und Felseninschriften der Bulgaren als Ausdruck ihres Zeitbewusstseins
  • 5 Die Rosette aus Pliska
  • 6 Der protobulgarische Kalender
  • 7 Kosmologische Grundlagen der Auffassungen von Zeit und Dasein der Bulgaren
  • 7.1 Der Mithrakult und seine Spuren in den geistigen Auffassungen der Protobulgaren
  • 7.2 Der Reiter von Madara als staatliches Sternbild-Zeichen
  • 7.3 Einige zeitbezogene Spuren der protobulgarischen Sternenreligion in den Volksbräuchen der Bulgaren heute
  • 7.3.1 Das bulgarische Survakane und der mithraistische Gott Surva
  • 7.3.2 Die bulgarischen Marta und Mratinjak, die avestischen Martja und Martjanak
  • 8 Die Schöpfung und die Zeit in den Vorstellungen der altbulgarischen Epoche nach der Christianisierung Bulgariens im 9. Jahrhundert
  • 9 Militärische Dynamik und Organisation der Bulgaren als Grund für die Definition der Zeit durch Verbformen
  • 10 Über die Dynamik der Bulgaren heute
  • 11 Zusammenfassung
  • III Zusammenfassung
  • Schlussfolgerungen
  • Zur Irreversibilität der Zeit
  • Zur Irreversibilität der Zeit
  • Literaturverzeichnis
  • 1 Literaturverzeichnis der wissenschaftlichen Quellen
  • 2 Literaturverzeichnis der populärwissenschaftlichen Quellen
  • 3 Belletristische Quellen
  • Series Index

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Abkürzungsverzeichnis

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Einführung

1 Grund, Wesen und Ziele der Untersuchung

Ursprünglich verfügte das Althochdeutsche nur über zwei finite Tempusformen, nämlich über das Präsens (das a-temporale) und das Präteritum (das temporale)1. Die restlichen entstanden später und wurden bei ihrer grammatischen Beschreibung durch die uns heute bekannten lateinischen Bezeichnungen Perfekt, Plusquamperfekt, Futur kodifiziert. Letztere mögen zwar den Bedeutungen und Funktionen der lateinischen Tempusformen entsprechen, unterscheiden sich jedoch sowohl formal als auch funktional von den deutschen. So wurde „das im Grunde ungeeignete Lateinische […] zum Dogma für die Beschreibung der deutschen Sprache: Damit war das Dilemma geschaffen.“2 Aus dieser Diskrepanz zwischen grammatischer Beschreibung und tatsächlicher Bedeutung der deutschen Tempora resultiert die irreführende Gleichsetzung von Tempus und objektiver Zeit, von Zeitform und Zeitstufe sowie von Präsens mit Gegenwart, Perfekt mit Vergangenheit, Futur mit Zukunft.

So zum Beispiel wird das deutsche Präteritum in manchen Grammatiken und Lehrwerken auch Imperfekt genannt, vermutlich in Anlehnung an das lateinische imperfectum3. Es entspricht aber nur teilweise dem lateinischen Imperfekt, da es über dessen Funktionen hinaus auch solche umfasst, die mit dem griechischen Aorist vergleichbar sind4. Für einen Deutschlernenden, in dessen Sprache es ein Imperfekt für die nicht abgeschlossene Vergangenheit gibt, wie im Bulgarischen und den romanischen Sprachen Spanisch und Portugiesisch, kann diese Bezeichnung irreführend sein. Das betrifft auch das Futur, das im Bulgarischen vorwiegend für zukünftige Handlungen und Geschehnisse gebraucht wird, im Deutschen dagegen stärker modal geprägt ist, weswegen für die Zukunft meistens das Präsens verwendet wird. Aus diesem Grund sagen Bulgaren oft ich werde dir morgen Bescheid sagen und meinen damit morgen sage ich dir Bescheid.

Die oben benannte Diskrepanz lässt sich gut mit Beispielen belegen, in denen eine und dieselbe Zeitform im Deutschen unterschiedliche Zeitstufen zum Ausdruck bringt. So zum Beispiel kann das Perfekt im Deutschen sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges bezeichnen: ← 15 | 16 →

Am Beispiel des Perfekt-Satzes er ist verreist:

Er ist gestern verreist.
Morgen um diese Zeit ist er (schon) verreist.

Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft erfolgt in diesem Fall nicht durch die Tempusform Perfekt, sondern durch die zusätzlichen Temporalangaben (gestern, morgen um diese Zeit). Ähnliches gilt auch für Futur II:

Am Beispiel des Futur-II-Satzes er wird verreist sein:

Morgen um diese Zeit wird er verreist sein. (Zukunft)
Er wird wohl gestern um diese Zeit verreist sein. (Vergangenheit mit modaler Bedeutung der Vermutung)

Diese Diskrepanz zwischen Zeitstufe und Zeitform im Deutschen war einer der Beweggründe für die Entstehung der vorliegenden Arbeit. Darin unternehme ich den Versuch, die deutsche und die bulgarische Sprache im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Zeit als globaler und Tempus als linguistischer Kategorie zu vergleichen. Auf diese Weise beziehe ich je einen Vertreter zweier unterschiedlicher Sprachgruppen (germanisch und slavisch) und dadurch zweier unterschiedlicher Kulturräume unter dem oben aufgeführten Gesichtspunkt ein.

Wie wird Zeit in diesen Sprachen verstanden und definiert, wo bestehen Ähnlichkeiten und wo Unterschiede, welche Rolle spielen die Tempora beim Ausdruck des Zeitbezugs und welche anderen Mittel stehen zur Verfügung? Das sind einige der Fragestellungen, denen ich nachgehe. Dabei beschränke ich mich nicht auf die linguistische Sicht der Dinge, sondern beziehe auch kulturelle, geschichtliche, philosophische und neurowissenschaftliche Aspekte in die Analyse ein, die den von mir untersuchten grammatischen Phänomenen zugrunde liegen.

Am Beispiel der Sprachen Deutsch und Bulgarisch möchte ich zeigen, wie das Tempussystem einer Sprache das Zeitempfinden der jeweiligen Sprach- und Kulturgemeinschaft widerspiegelt. Mein Erkenntnisinteresse wird von folgenden Forschungsfragen geleitet:

Warum gibt es im Deutschen sechs, im Bulgarischen aber neun Tempusformen und wie viel Zeit enthalten sie, d. h. wie verhalten sich die deutschen und bulgarischen Zeitformen zu den Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?

Welche Faktoren haben womöglich das deutsche sowie das bulgarische Zeitempfinden und damit auch die entsprechenden Tempus- und/oder andere Formen zum Ausdruck des Zeitbezugs in den beiden Sprachen bedingt? ← 16 | 17 →

Durch die Auseinandersetzung mit den deutschen Tempora aus verschiedenen Gesichtspunkten und vor dem Hintergrund einer entsprechenden Auseinandersetzung mit den bulgarischen Tempusformen werden bisher nicht erkannte oder noch nicht (genügend) untersuchte Aspekte des deutschen sowie des bulgarischen Tempussystems – sei es, weil diese nur sprachwissenschaftlich, nur sprachgeschichtlich oder ohne die katalysierende Wirkung des Vergleichs mit einer anderen Sprache untersucht wurden – anders beleuchtet, damit sie besser verstanden und erklärt werden können.

2 Ideengrundlage

Die Ideengrundlage der Arbeit bildet der kulturkontrastive Ansatz, der die sprachwissenschaftliche Analyse mit der Suche nach kulturellen und philosophischen Erklärungen verbindet, um die (Hinter-)Gründe für die Entstehung, die Entwicklung sowie das Wesen sprachlicher Erscheinungen verstehen zu können.

Diese relativ neue Forschungsrichtung, ins Leben gerufen von Götze5, wendet sich dem inneren, verborgenen Wesen von Sprache zu, indem sie versucht, in die Philosophie der Formen sowie in die Gründe für den Vorzug bestimmter und die Vermeidung anderer Strukturen einzublicken. Damit unterscheidet sie sich sowohl von der historisch vergleichenden als auch von der kontrastiven Linguistik, die sich vorwiegend mit der äußeren, formalen Seite der Sprache befassen.

Die historisch vergleichende Sprachwissenschaft geht auf Franz Bopp6 zurück, der aufgrund der von Schlegel nachgewiesenen Verwandtschaft europäischer Sprachen mit dem Sanskrit das System der indoeuropäischen Sprachen begründete7. Die kontrastive Linguistik basiert auf den Zweitspracherwerbstheorien ← 17 | 18 → (Kontrastivhypothese, Interlanguage-Hypothese) und untersucht Ähnlichkeiten, Unterschiede sowie Identitäten in zwei oder mehreren Sprachen. Zum Beispiel besagt die Kontrastivhypothese, dass Zweitspracherwerb immer vor dem Hintergrund der Erstsprache stattfindet, so dass ähnliche oder identische Strukturen in der Erst- und der Zweitsprache den Lernprozess erleichterten, unterschiedliche ihn dagegen erschwerten. In der Unterrichtspraxis konnte sich diese Hypothese nicht bewähren8.

Der kulturkontrastive Ansatz baut auf den Erfahrungen der bisherigen sprachwissenschaftlichen Forschungsrichtungen auf und sucht nach neuen Parametern im Kontext der weltweiten Globalisierung, dem Dialog und Austausch in allen Bereichen des menschlichen Daseins. Inspiriert wurde (und ist) der kulturkontrastive Ansatz von der hermeneutischen Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts, der das Sprachstudium als Gesamtheit dreier Aspekte auffasste:

1. Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Sprache („Untersuchung des Organismus der Sprachen“9, „Vollendung“10); ← 18 | 19 →

2. Verfolgung der historischen Entwicklung („Untersuchung der Sprachen im Zustande ihrer Ausbildung“11, „Ursprung“12);

3. Suche nach philosophisch-kulturellen Hintergründen13.

Humboldt betrachtete die Sprache als eine „sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes“, der sich in der Vielfalt der Sprachen offenbart, da diese je nach Erkenntnisgrad und -weise ihrer Träger die unzähligen Erscheinungsformen des menschlichen Daseins interpretieren. Aus diesem Grund sah er im Studium von Sprachen einen Weg zur Erkenntnis der Wahrheit und somit zur Entwicklung des Charakters14. Seine Auffassungen verkörperte der Philosoph nicht nur im Wort, sondern auch und vor allem in der Tat: Sein Leben lang erforschte er Sprachen, darunter das Baskische, die Indianersprachen Süd- und Mittelamerikas, Chinesisch, Indisch, das Kawi sowie weitere malaysische Sprachen und andere.

Humboldt erkannte, dass Sprachen durch Laut und Schrift materialisierte und somit für die Sinneswahrnehmung greifbare Gedanken sind:

„Die Sprache, im einzelnen Wort und in der verbundenen Rede, ist ein Act, eine wahrhaft schöpferische Handlung des Geistes; und dieser Act ist in jeder Sprache ein individueller, in einer von allen Seiten bestimmten Weise verfahrend. Begriff und Laut, auf eine ihrem wahren Wesen gemäßte, nur an der Thatsache selbst erkennbare Weise verbunden, werden als Wort und als Rede hinausgestellt, und dadurch zwischen der Außenwelt und dem Geiste etwas von beiden Unterschiedenes geschaffen.“15

Sprache ist demnach die äußere, materielle Form der Gefühls- und Gedankenwelt der Menschen. Analog stellen die Noten in der Musik die materielle Gestalt der Töne dar und sind somit „die Worte“ der Musik, die diese sichtbar machen. Im Anbetracht der gegenseitigen Abhängigkeit des Wortes und des Gedankens voneinander kam er zu der Schlussfolgerung, die dem kulturkontrastiven Ansatz zugrunde liegt:

„dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten.“16 ← 19 | 20 →

Hinter der äußeren Verschiedenheit der Sprachen – der Ausdrucksmittel und grammatischer Regel – verbirgt sich also eine Verschiedenheit der Weltansichten. Diese resultiert aus der gegenseitigen Durchdringung aller Prozesse in der Natur und dem menschlichen Leben, welche jedes Individuum sowie jede Kulturgemeinschaft auf eine eigene, subjektive Weise erfahren und interpretieren.

Aus diesem Grund wird Sprachvergleich im Sinne Humboldts als eine hermeneutische, also verstehende, interpretierende Verfahrensweise aufgefasst, welche Sprachen nicht als „willkürliche Zeichen“, sondern als vernünftig organisierte, geordnete und dynamische Systeme betrachtet, die den Erkenntnisweg der jeweiligen Sprachgemeinschaft und damit des Menschen überhaupt auf eine je besondere Weise widerspiegeln, denn

„Die Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschlichen Geist zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen, und unabhängig von ihnen in der Mitte; der Mensch kann sich diesem rein objectiven Gebiet nicht anders, als nach seiner Erkennungs- und Empfindungsweise, also auf einem subjectiven Wege, nähern.“17

Mit der Verbindung von Sprache, Denken, Weltanschauung und Kultur setzte sich im 20. Jahrhundert auch Whorf18 auseinander. Nach ihm ist Sprache nicht bloß ein System von Wörtern, die nach grammatischen Regeln geordnet werden, sondern ein System der kulturellen Ordnung, d. h. ein System, das die Prozesse und Erscheinungen nach kulturbedingten, für jede Kulturgemeinschaft spezifischen, Kriterien ordnet und zum Ausdruck bringt.

In Anlehnung an Einsteins Relativitätstheorie, nach welcher die Zeit vom Standpunkt des Beobachters sowie von der Bewegung und der Masse der Materie abhängt, begründet Whorf sein linguistisches Relativitätsprinzip. Demnach beeinflusst das grammatische System einer Sprache den Gedanken, indem es diesen in die Bahnen der grammatischen Struktur lenkt und dementsprechend formt. Diesen Prozess schildert Whorf detailliert auf folgende Weise:

„Man fand heraus, dass das linguistische System (mit anderen Worten, die Grammatik) jeder Sprache nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken ist, sondern vielmehr selbst die Gedanken formt, Schema und Anleitung für die geistige Aktivität des Individuums ist, für die Analyse seiner Eindrücke und für die Synthese dessen, was ihm an Vorstellungen zur Verfügung steht. Die Formulierung von Gedanken ist kein unabhängiger Vorgang, der im alten Sinne dieses Wortes rational ist, sondern er ist beeinflusst von der jeweiligen Grammatik. Er ist daher für verschiedene Grammatiken mehr oder weniger verschieden. Wir gliedern die Natur an Linien auf, die uns durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind. Die Kategorien und Typen, die wir aus der phänomenalen Welt herausheben, finden wir nicht einfach in ihr – etwa weil sie jedem Beobachter in die Augen springen; ganz im Gegenteil ← 20 | 21 → präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch unseren Geist organisiert werden muss – das aber heißt weitgehend: von dem linguistischen System in unserem Geist. Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren und ihnen Bedeutungen zuschreiben, das ist weitgehend davon bestimmt, dass wir an einem Abkommen beteiligt sind, sie in dieser Weise zu organisieren – einem Abkommen, das für unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt und in den Strukturen unserer Sprache kodifiziert ist.“19

Zusammenfassend formuliert Whorf das linguistische Relativitätsprinzip folgendermaßen:

„Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt. Sie sind als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten der Welt.“20

Sprache und Denken bedingen also einander. Dabei zeichnet die grammatische Struktur die Ordnungsprinzipien und somit den Weg, den die Gedanken durchlaufen und nach dessen Beschaffenheit sie miteinander verknüpft werden, bevor sie als geschriebene oder gesprochene Sprache – also als etwas Hör- oder Sehbares – ans Licht kommen. Aus diesem Grund sieht Whorf die Aufgabe der Linguistik in der „Aufhellung der tiefen Dunkelheiten der Sprache und damit des Denkens, der Kultur und der Lebensanschauungen einer gegebenen Gemeinschaft.“21

Es gilt daher – und danach strebt der kulturkontrastive Ansatz – bei der Analyse von Sprachen „je spezifische Beschreibungsverfahren zu wählen, die der jeweiligen Sprache angemessen sind, ohne – wie in der Kontrastiven Linguistik geschehen – ein tertium comparationis zu wählen, das häufig den untersuchten Sprachen – oder einer von ihnen – nicht angemessen ist“22. Über die Darstellung hinaus wird zudem versucht, „die hinter dem sprachlichen Ausdruck stehende Weltansicht zu entschleiern“23. Diesen Gedanken verdeutlicht Götze mit einem Beispiel aus dem Bereich der Zeit-Tempus-Problematik:

„Der Ausdruck von Zeit geschieht in den, auf dem griechisch-lateinischen Vorbild fußenden, germanischen, romanischen oder slawischen Sprachen gemeinhin über das Temporalsystem der Verben, daneben auch mithilfe von Temporaladverbien, Partikeln, Konjunktionen und Präpositionen mit zeitlicher Bedeutung. Andere, nicht-europäische Sprachen wie das Chinesische oder einige indigene Sprachen in ← 21 | 22 → beiden Amerika verfügen über keine Verbflexion und kennen auch keine entsprechenden Tempusformen. Nun ist es für eine Kulturkontrastive Analyse nicht akzeptabel, dieses Phänomen lediglich als Defizit asiatischer und amerikanischer Sprachen zu charakterisieren, sondern es gilt, nach dessen Ursachen zu forschen: Das lineare Zeitbewusstsein, das dem Okzident charakteristisch ist, und der sich daraus ergebende Zeitpfeil existieren in zahlreichen östlichen, zumal buddhistisch geprägten Kulturen nicht. Dort gelten nicht die Triade der Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern der Moment/Augenblick und die Dauer: ein anderes, aber auch nicht zirkuläres Zeitverständnis […]. Ein Thai oder Chinese bedient sich daher anderer sprachlicher Mittel wie Partikeln oder Adverbien, um Zeitliches zu markieren.“24

Der kulturkontrastive Ansatz findet Ausdruck in einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, in denen im Sinne Humboldts die Analyse sprachlicher Phänomene mit der Suche nach kulturellen Hintergründen einhergeht. Es seien an dieser Stelle einige davon erwähnt: die Monographien von Diyani Bingan und Dnzoutchep Nguewo über Begrüßung, Verabschiedung und Entschuldigung bzw. Dankbarkeitsbezeugung in Deutschland und Kamerun, die Monographie Interkulturelle Grammatik von Traoré, in welcher der Autor ein Konzept für eine interkulturelle Grammatik entwirft und dieses am Beispiel der Kategorien Tempus und Genus verbi im Deutschen und Thailändischen veranschaulicht, der Sammelband Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden mit Beiträgen über Zeit- und Raumverständnis im Deutschen, Chinesischen sowie dem subsaharischen Afrika neben anderen Themen, die Monographien Zeitkulturen sowie Zeit-Räume – Raum-Zeiten von Götze, in denen der Autor die Kategorien Zeit und Raum aus philosophischer, sprachwissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher Perspektive, im Vergleich unterschiedlicher Kulturen sowie aus der Sicht der Kunst betrachtet.

3 Methode

Details

Seiten
292
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041163
ISBN (ePUB)
9783653989182
ISBN (MOBI)
9783653989175
ISBN (Hardcover)
9783631649725
DOI
10.3726/978-3-653-04116-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Satzrahmen Staatswesen der Protobulgaren Wolgabulgarien Baktrien Pliska Preslav Donaubulgarien Zeit- und Raumwahrnehmung Sprachgeschichtliche Entwicklung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 292 S., 5 s/w Abb., 15 Tab.

Biographische Angaben

Mina Ioveva (Autor:in)

Mina Ioveva studierte angewandte Linguistik für Deutsch und Spanisch an der Universität zu Veliko Tarnovo (Bulgarien) sowie Romanistik an der Universität Salzburg (Österreich). Die promovierte Autorin absolvierte den Aufbaustudiengang Deutsch als Fremdsprache an der Universität des Saarlandes.

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