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Zeitungssprache und Mündlichkeit

Soziopragmatische Untersuchungen zur Sprache in Zeitungen um 1850

von Hirofumi Hosokawa (Autor:in)
©2014 Dissertation 284 Seiten

Zusammenfassung

In dieser Arbeit werden die konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit in verschiedenen Zeitungssorten um 1850 untersucht. Ziel der Untersuchung ist es, die Entwicklung der Zeitung im deutschsprachigen Raum von einem Medium gebildeter Sozialschichten zu einem Massenmedium aus der Perspektive der soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung zu beschreiben und zu erklären. Als zentraler Ansatzpunkt der sprachgeschichtlichen Untersuchung dient dabei die Frage, ob und inwiefern die Verbreitung und Diversifizierung der Zeitung auf der sozialen, lokalen und politolektalen Ebene begründet wurde durch eine Hinwendung zu Sprachgebrauchsweisen der konzeptionellen Mündlichkeit im Medium der geschriebenen Zeitungssprache.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Ziel und Aufbau der vorliegenden Arbeit
  • 1.2 Ansätze und Methoden der germanistischen soziopragmatischenSprachgeschichtsforschung
  • 1.2.1 Untersuchungen zur Geschichte der Sprache als soziale Kommunikation
  • 1.2.2 „Äußere“ Sprachgeschichte
  • Sprachgebrauchsgeschichte
  • Sprachkontaktgeschichte
  • Sprachbewusstseinsgeschichte
  • 1.2.3 Zur Quellenkunde
  • 1.3 Zum Korpus: Deutsche Zeitungssprache um 1850
  • 2. Zur Sprachgebrauchsgeschichte der Zeitung in der Mitte des 19. Jahrhunderts
  • 2.1 Der Zeitungsleser in der zunehmend alphabetisierten Gesellschaft
  • 2.1.1 Lesegewohnheit und Zeitungslesen
  • 2.1.2 Ausbildung des „wirklichen“ Lesers in der Volksschule
  • Deutschunterricht in der Volksschule
  • Rechtschreibung und Orthographiedidaktik
  • 2.2 Zum Zeitungsschreiber: Entstehung der beruflichen Journalisten
  • 2.2.1 Entstehung des hauptberuflichen Journalisten
  • 2.2.2 Zur sozialen Stellung des Journalisten
  • Zum Bildungsgrad der Journalisten
  • „Verachteter Zeitungsschreiber“ der Massenpresse
  • 2.3. Zum Zeitungsmedium: Diversifizierung der Zeitung
  • 2.3.1 Zeitungsexpansion
  • 2.3.2 Zeitungssorten in der Mitte des 19. Jahrhunderts
  • Zeitungen für die breite Masse vs. Zeitungen für die gebildete Schicht
  • Lokale Zeitungen vs. überregionale Zeitungen
  • Politische Meinungspresse vs. unparteiische Zeitungen
  • 2.3.3 Redaktionelle Textsorten der Zeitung
  • Kontaktorientierte Texte
  • Informationsbetonte Texte
  • Meinungsbetonte Texte
  • 3. Sprachbewusstseinsgeschichte: Reflexionen und Ansichten über die Zeitungssprache in der Mitte des 19. Jahrhunderts
  • 3.1 Das „Zeitungsdeutsch“ nach Schopenhauer
  • 3.1.1 Morphologische und lexikalische Merkmale
  • 3.1.2 Syntaktische Merkmale
  • 3.1.3 Schopenhauers Kritik und die Sprachwirklichkeit
  • 3.2. Zeitungssprache und öffentliche Sprachkritik
  • 3.2.1 Zur Kritik der „Eile“
  • 3.2.2 Zur Kritik der „Oberflächlichkeit“
  • 3.2.3 Zur Kritik der sprachlichen (Un-)Angemessenheit
  • 3.2.4 Fazit
  • 4. Konzeptionelle Mündlichkeit in der Zeitungssprache um 1850
  • 4.1 Grundlagen zur Untersuchung der Mündlichkeit in der Zeitungssprache
  • 4.2 Syntaktische Merkmale
  • 4.2.1 Satzlänge und Länge des Satzelementes
  • Satzlänge
  • Durchschnittliche Länge des Elementarsatzes und Nicht-Satzes
  • 4.2.2 Satzkomplexität
  • Setzungen und elliptische Satzstrukturen
  • Parataktische und hypotaktische Satzstrukturen
  • Einfachsatz und Satzgefüge
  • Verhältnis zwischen dem selbständigen und abhängigen Elementarsatz
  • „Linearität der Satzfügung“
  • 4.2.3 Aggregative Satzstrukturen
  • „Herausstellungsstruktur“
  • Satzkonstituenten im Vorvorfeld
  • Andere elliptische Satzstrukturen
  • 4.2.4 Satzarten für den Ausdruck von Emotionalität
  • „Formelhafte Kurzsätze“
  • Ausrufesatz
  • Rhetorische Frage
  • Eingeschobene Kommentare
  • 4.2.5 Fazit
  • 4.3 Lexikalische Merkmale
  • 4.3.1 Deixis
  • Personale Deixis
  • Lokale Deixis
  • Temporale Deixis
  • 4.3.2 Gesprächswörter
  • Gesprächspartikeln
  • Interjektionen
  • 4.3.3 Referenz auf Oralität
  • 4.3.4 Fazit
  • 4.4 Morphologische Merkmale
  • 4.4.1 Verkürzungen
  • Synkope
  • Apokope
  • Kontraktion
  • 4.4.2 Irreguläre Flexion
  • 4.4.3 Diminutivformen
  • 4.4.4 Fazit
  • 5. Zusammenfassung
  • 6. Quellen und Literatur
  • Quellen des Korpus
  • Sonstige Quellen
  • Sekundärliteratur

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1. Einleitung

1.1 Ziel und Aufbau der vorliegenden Arbeit

In dieser Arbeit werden die konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit in verschiedenen Zeitungssorten um 1850 untersucht. Ziel der Untersuchung ist es, die Entwicklung der Zeitung in Deutschland von einem Medium gebildeter Sozialschichten zu einem Massenmedium aus der Perspektive der soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung zu beschreiben und zu erklären. Als zentraler Ansatzpunkt der sprachgeschichtlichen Untersuchung dient dabei die Frage, ob und inwiefern die Verbreitung und Diversifizierung der Zeitung durch eine Hinwendung zu Sprachgebrauchsweisen der konzeptionellen Mündlichkeit im Medium der geschriebenen Zeitungssprache begründet wurde.

Im Bereich der Sprachgeschichtsforschung gibt es seit den 1980er Jahren einen „Boom der Forschung zur neueren Sprachgeschichte [wobei] besonders das 19. Jahrhundert […] in den Blick genommen [wurde]“ (ELSPAß [2005: 3]). In Bezug auf die Zeitungssprache ist dieses Jahrhundert auch von besonderer Bedeutung, weil sich die deutsche Zeitung in dieser Zeit erstmals zu einem einflussreichen Massenmedium entwickelte und die Zeitungssprache als Sprache der Öffentlichkeit betrachtet wurde.1 EGGERS (1973: 77) spricht sogar von einer „Demokratisierung der Schriftsprache“ (EGGERS [1977: 129]) durch die Verbreitung der Tageszeitung im 19. Jahrhundert.2 Durch diese Art der Popularisierung des Mediums Zeitung in Sozialschichten, die noch nicht an die Schriftsprachkultur gewöhnt waren, werde „die Kluft zwischen den hochentwickelten Schreibformen und der einfacheren gesprochenen Sprache […] eingeebnet“ (EGGERS [1973: 126]). Obwohl der Gegensatz zwischen konzeptioneller Mündlichkeit (kolloquial, spontan, emotional) und Schriftlichkeit (formell, vorgeplant, objektiv) ein bedeutendes Thema in jüngeren soziopragmatischen Untersuchungen zur deutschen Sprachgeschichte darstellt,3 bleibt die Erforschung dieser „Demokratisierung der Schriftsprache“ im Medium der Zeitung immer noch ein Desiderat.4 Ein Grund dafür ist, ← 13 | 14 → dass es nicht die Zeitung gibt und nicht die Zeitungssprache, sondern Zeitungs- und Textsorten, denen zahlreiche Merkmale gemeinsam sind, die unter dem Begriff Zeitungssprache zusammengefasst werden.5 Die Untersuchung nimmt dazu die äußere und die innere Geschichte der Zeitungssprache in den Blick.

Zur äußeren Sprachgeschichte gehört u.a. die Diversität der Zeitungen auf der sozialen, lokalen und politolektalen Ebene. Auf der sozialen Ebene wird der Gegensatz zwischen der Zeitungssprache für die breite Masse und einer solchen für die gebildete Schicht untersucht. Dabei wird besonders berücksichtigt, ob die Sprache für gebildete Leser strenger nach der vorherrschenden sprachlichen Norm (wie „die hochentwickelten Schreibformen“) ausgerichtet wurde und daher konzeptionell eher schriftlich geprägt war, während die Sprache für die Leser aus der breiten Masse eher alltagssprachlich (wie „die einfachere gesprochene Sprache“) gehalten wurde. Auf der lokalen Ebene wird der Gegensatz zwischen der Sprache in der lokalen und überregionalen Zeitung untersucht. Angenommen wird, dass die Sprache der lokalen Zeitung auf Grund der gemeinsamen dialektalen und topographischen Kenntnisse vom Zeitungsschreiber und Leser eher konzeptionell mündlich ist. Auf der politolektalen Ebene untersuche ich den sprachlichen Gegensatz zwischen der unparteiischen Zeitung für die breite Masse und der politischen Meinungspresse, die sich erst nach der Märzrevolution verbreitete. Angenommen wird, dass die Sprache der Meinungspresse vertrauter und emotionaler ist als die unparteiische Zeitung, denn der Schreiber der Meinungspresse soll den Leser für seine Partei gewinnen.

Was die innere Sprachgeschichte betrifft, so erfolgt die statistische Untersuchung zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit anhand des universalen Modells zur Sprache der Nähe und Distanz von ÁGEL/HENNIG (2006) auf der syntaktischen, lexikalischen und morphologischen Ebene, wobei auch „gesprochensprachliche Elemente“ der Zeitung nach BETZ (2006) als textspezifisches Kriterium und Merkmale der alltäglichen Schriftsprache im 19. Jahrhundert nach SCHIKORSKY (1990) und ELSPAß (2005) als zeitspezifisches Kriterium verwendet werden. Außerdem werden Ergebnisse von anderen Arbeiten über die Zeitungssprache, die Literatursprache und die gesprochene Sprache als Vergleichsgegenstand benutzt. Als Forschungsgegenstand wurden ein digitales Korpus mit 129.416 Wörtern aus sechs Zeitungen, die 1850/51 veröffentlicht wurden, und ein Korpus von der zeitgenössischen Chronik mit 20.585 Wörtern als Vergleichsgegenstand gebildet. ← 14 | 15 →

1.2 Ansätze und Methoden der germanistischen soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung

Nach MATTHEIER (1998) finden sich sprachhistorische Untersuchungen zur deutschen Sprache, in denen man die Sprache im Zusammenhang mit sozialer Veränderung behandelt, schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Zentraler Gegenstand der Sprachgeschichtsforschung war auch in dieser Zeit jedoch die Beschreibung der Entstehung der einheitlichen National- und Standardsprache mit besonderer Berücksichtigung historischer Veränderungen des Sprachsystems.6 Erst nach der sogenannten pragmatischen Wende um 1980 greift auch die germanistische Sprachgeschichtsforschung Ansätze und Methoden der Pragma- und Soziolinguistik auf.7 Als Bezeichnung dieser neueren Form der Sprachgeschichtsforschung hat sich „soziopragmatische Sprachgeschichte“ (MATTHEIER [1998: 2])8 durchgesetzt. In diesem Bereich wird nicht nur die Veränderung des Sprachsystems, d.h. die „innere“ Sprachgeschichte, sondern auch die „äußere“ Sprachgeschichte, die Veränderung der außersprachlichen Elemente, die mit der Veränderung des Sprachsystems eng verbunden sind, erforscht.9 Im Folgenden wird dieses neuere Forschungsgebiet genauer beleuchtet, um den Forschungsrahmen abzustecken, in den die Untersuchungen eingebettet sind.

1.2.1 Untersuchungen zur Geschichte der Sprache als soziale Kommunikation

Im Rahmen der soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung untersucht man nicht nur aus soziolinguistischer Perspektive historische Sprachvarietäten, die mit bestimmten sozialen Gruppen verbunden sind, sondern auch aus pragmalinguistischer Perspektive die historische Sprachhandlung.10 Was die pragmatische Sprachgeschichtsforschung im Unterschied zur bisherigen Erforschung ← 15 | 16 → der „inneren“ Sprachgeschichte des Sprachsystems behandelt, lässt sich nach CHERUBIM (1984) wie folgt zusammenfassen: Untersucht werden a) nicht nur die Standardsprache, sondern auch die „divergente Entwicklung unterschiedlicher Sprachformen“, b) nicht nur die Prozesse der Vereinheitlichung und Standardisierung der Sprache, sondern auch die „Ausdifferenzierung neuer Sprachformen und Ausdrucksmöglichkeiten […] im Zusammenhang mit neuen Kommunikationssituationen und Redegegenständen“, c) nicht nur die geschriebene, sondern auch gesprochene Sprache, d) „die Entwicklung einer Sprache als soziales Handeln von Menschen unter historischen Bedingungen“ und e) nicht „abstrakte und übergreifende Zusammenhänge der Sprachentwicklung[, sondern] kompaktere oder komplexe Erscheinungen“, wie z.B. die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert und die Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und f) die genannten Aspekte/Punkte mit dem Bewusstsein darüber, dass die Begriffe oder Beschreibungskategorien einer Sprache „stets von der Erfahrung mit der sprachlichen Gegenwart bestimmt oder dort verankert sind“ (CHERUBIM [1984: 809f.]). VON POLENZ (2000) weist besonders darauf hin, dass die soziopragmatischen Untersuchungen nicht auf die Einheitlichkeit, sondern auf folgende Differenzierungen der Sprache fokussiert werden:

 zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit (Schreibsprache gegen Sprechsprache)

 zwischen spontan-emotionaler und rational standardisierter Sprache, individueller und sozial-kollektiver Sprache, privater und öffentlicher Sprache (Alltags-/Umgangssprache gegen Hoch-/Standardsprache)

 zwischen allgemeiner und spezialisierter Sprache (Gemein-/Normalsprache gegen Fachsprache, Wissenschaftssprache, Politiksprache, belletristische Literatursprache)

 zwischen Oberschicht- und Unterschichtsprache (Bildungssprache, Soziolekt, Subkulturjargon, Dialekt)

 zwischen lokaler, regionaler und überregionaler Sprache (Ortsdialekte, Stadtsprache, Regionalsprache, Einheitssprache)

 zwischen soziokulturellen und staatlichen Raumverhältnissen (plurinationale Schriftsprache, nationale bzw. staatliche Varianten/Varietäten)

 zwischen Deutsch und anderen Sprachen (Bilinguismus, Diglossie, Sprachenwechsel, Sprachenkontakt, Lehneinfluß und Integration, Sprachenpolitik gegenüber Minderheiten). (POLENZ [2000: 13])

Von Polenz nennt als Beispiele für Forschungsgegenstände in diesem Bereich das Schulsystem, den Analphabetismus, die Trivial- oder Konsumliteratur, den Verlag, die Lokalität und sprachliche Minderheiten.11 Auch bei der Untersuchung zur individuellen Sprachhandlung (z.B. der Sprechakt und das Gespräch) darf man ← 16 | 17 → nicht übersehen, die Lage der sozialen Kommunikation (z.B. die Sprachpolitik und Lesegewohnheit) in der einzelnen historischen Stufe zu beleuchten. Denn solche außersprachlichen sozialen Hintergründe beeinflussen unmittelbar die Sprachhandlung.12

Die historische Soziolinguistik ist die Teildisziplin der soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung, die den Schwerpunkt besonders auf sprach-soziologische Aspekte legt.13 Eine solche Sprachgeschichtsforschung gab es auch vor 1980 in der Germanistik, obwohl diese Bezeichnung noch nicht verwandt wurde. Hans Eggers legt 1963 eine der ersten Arbeiten vor, in der die deutsche Sprachgeschichte explizit soziolinguistisch geschrieben wird.14 Eggers schlägt darin den Begriff „Verkehrsgemeinschaft“ für soziale Gruppen (Familie, Kirchengemeinde) vor, die durch den alltäglichen Umgang ihre eigene Sprache ausbilden, deren kultureller Wert (Mundarten, Kultursprache) durch die Größe der Gruppe und die institutionelle Funktion des Leiters (Politiker, Geistlicher, Denker) bestimmt wird.15 Eggers konzentriert sich aber hauptsächlich auf die Geschichte derjenigen Varietät, die von der jeweils führenden „Verkehrsgemeinschaft“ einer einzelnen historischen Sprachstufe (z.B. die Ritterschaft im Mittelalter, das Bürgertum in der Neuzeit) gebraucht wurde. Kleinere soziale Gruppensprachen und die Veränderung der sozialen Struktur werden kaum behandelt. Die Tendenz, hauptsächlich der privilegierten „Verkehrsgemeinschaft“ der Zeit und ihrer Sprache Aufmerksamkeit zu schenken, beherrscht lange die Forschung in der historischen Soziolinguistik. Erst in jüngeren soziopragmatischen Untersuchungen zur deutschen Sprachgeschichte wird auch die alltägliche Kommunikation des Sprachbenutzers, der nicht zur privilegierten sozialen Schicht gehört, zum Gegenstand der Forschung gemacht.16 Nach ELSPAß (2005) bildet die sprachgeschichtliche Erforschung sogenannter Sub- oder Nonstandardvarietäten in gesellschaftlich nicht privilegierten Schichten allerdings noch immer eher die Ausnahme, jedenfalls im Vergleich zur Erforschung der Geschichte gehobener Varietäten wie der Standard-, Kanzlei- und Literatursprache. Er kritisiert ferner, dass man selbst bei der Untersuchung der Sprache bildungsferner Schreiber (Bauern, Arbeiter) am Maßstab der Normen gehobener Varietäten festhält und die Schreibvarianten der bildungsfernen Schichten aus ← 17 | 18 → der Perspektive des Defizits, d.h. als „Fehler“ betrachtet.17 Elspaß formuliert demgegenüber den Einwand, dass eine Orientierung an einer Art sprachlichem Zwei-Klassen-Modell (Oberschicht vs. Unterschicht, Bildungsbürger vs. Arbeiter) zu kurz greift. Er schlägt stattdessen vor, die Sprache nicht nach der Gemeinschaft, sondern nach dem „Alphabetisierungs- und Bildungsgrad“ (ELSPAß [2005: 45]) des Schreibers zu klassifizieren.18 Dieser Vorschlag ist zwar sinnvoll, weil er zumindest zusätzlich zu sozialen Daten der „Verkehrsgemeinschaft“ solche Daten ins Spiel bringt, die die (Schrift-)Sprachkompetenz unmittelbar betreffen. Das Problem ist nur, dass Quellen zur Schriftsprachkompetenz bildungsferner einfacher Leute nur in geringer Zahl verfügbar sind.

Auch in Bezug auf die Zeitungssprache nach der Märzrevolution stellt es sich als sehr schwierig dar, den Bildungsgrad des einzelnen Schreibers zu ermitteln, weil die Artikel damals, abgesehen von der vom Herausgeber selbst geschriebenen Rubrik, meistens von Korrespondenten verfasst wurden, die anonym bleiben oder Pseudonyme gebrauchen, so dass kaum etwas Konkretes in Erfahrung zu bringen ist:19 In der „Neuen Freiburger Zeitung“ (abgekürzt: FZ) in der ersten Januarwoche 1851 werden z.B. nur „Wilhelm von Waldbrühl“ (1.1.1851. S. 1. Das ist das Pseudonym des Heimatschriftstellers und Volksliedforschers Anton Wilhelm von Zuccalmaglio20) und „Boz=Dickens“ (4.1.1851. S. 1. Das ist das Pseudonym und der Familienname des englischen Schriftstellers Charles Dickens) ausnahmsweise als Verfasser genannt, während andere Schreiber völlig anonym bleiben. Aus diesem Grund muss die Untersuchung der Zeitungssprache um 1850 von der Rekonstruktion eines prototypischen Journalisten und dessen „Alphabetisierungs- und Bildungsgrad“ ausgehen.21

Im Unterschied zur historischen Soziolinguistik legt die historische Dialogforschung den Schwerpunkt auf die pragmatische Seite der soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung. In diesem Bereich untersucht man im Zusammenhang mit soziolinguistischen Informationen das Gesprächsprofil einer historischen Sprachstufe: In KILIAN (2005) wird z.B. die Geschichte sprachlichen Handelns nicht nur anhand der Sprachstruktur und des Sprechakts, sondern im Zusammenhang mit der Veränderung der sozialen Gruppe und des Instituts untersucht, zu ← 18 | 19 → denen der Sprachbenutzer gehörte (z.B. der Ritter und der Hof, der Jurist und das Gericht).22

Obwohl die Zeitungssprache in erster Linie formal monologisch ist, denn kein Sprecherwechsel ereignet sich innerhalb eines Zeitungsartikels, muss man zur Untersuchung der Zeitungssprache im 19. Jahrhundert auch den Ansatz der historischen Dialogforschung hinzuziehen, da sich Aspekte der konzeptionellen Mündlichkeit im pressesprachlichen Dialog zwischen Journalisten und Leser zeigen oder der Zeitungsschreiber dort ein fiktives Gespräch inszenieren kann.23 In der folgenden Nachricht aus dem „Correspondenzblatt und Kieler Tageblatt“ (abgekürzt: KC), findet sich beispielsweise der Rollenwechsel zwischen dem andere Zeitungen zitierenden und dem die eigene Meinung kommentierenden Schreiber in Klammern:

Kiel, den 16ten Januar. Die Berlg. Ztg. füttert die Leser wieder mit der vierten Schüssel Wegener, findet es sehr zweckmäßig, daß man in Flensburg alle rebellischen Individuen ausweist, (wo steckt da die constitutionelle Gesinnung dieses halbofficiellen Blattes?) und berichtet über die Landesversammlung. Fädrelandet […] ist sehr unzufrieden. Es meint, daß es doch seltsam sei, die Vertrauensmänner noch nicht in Kopenhagen zu haben, deren Abreise erst so ernst betrieben worden sei, (sind die Hindernisse nicht aus Kopenhagen gekommen?), […]24 (KC 17.1.1850. S. 1)

Einzubeziehen ist auch der Umstand, dass damals die Artikel meistens auf der Grundlage eines Briefs des Korrespondenten verfasst wurden und die dialogischen Sprachphänomene des Briefwechsels unverändert gedruckt werden konnten. Der folgende Artikel „Sonntagsbriefe aus London“ in der „Wiener allgemeinen Zeitung“ (abgekürzt: WZ) zeigt deutlich Spuren des privaten Briefwechsels zwischen dem Korrespondenten und dem Redakteur wie die Anrede:

Herr Redacteur! […] Es gibt Ereignisse sowol in der politischen, theatralischen und Kunstwelt, gegen die man unverantwortlich sündigen würde, ließe man sie schweigend vorüberziehen, ohne ein öffentliches Wort darüber fallen zu lassen, und was könnte ich Ihnen willkommenderes senden, als eben einen Theaterbericht, der auch ein eigenes Interesse dadurch gewinnt, daß eine Wiener Künstlerin darin ← 19 | 20 → eine schöne rosenfarbe [sic] Rolle spielt. […] Die nächste Saison wird unendlich grandiös [sic], und da hoffe ich Ihnen sehr viel Interessantes mittheilen zu können. (WZ 2.1.1851. S. 3)

1.2.2 „Äußere“ Sprachgeschichte

Im Rahmen der soziopragmatischen Sprachgeschichtsforschung wird die Veränderung des Sprachsystems als „innere“ Sprachgeschichte bezeichnet. Die sozialen und mentalen Veränderungen, die das Sprachsystem beeinflussen (Alltagsgeschichte, Bildungsgeschichte, Mentalitätsgeschichte), werden komplementär als „äußere“ Sprachgeschichte bezeichnet. MATTHEIER (1998) unterteilt diese „äußere“ Sprachgeschichte in drei Bereiche:

a) Sprachgebrauchsgeschichte: In diesem Bereich wird der konkrete Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem historischen Wandel der sozialen Umstände spezifischer Kommunikationssituationen (Stadtsprache, Arbeitersprache, Literatursprache) untersucht.

b) Sprachkontaktgeschichte: Hier werden beispielsweise Kontakte zwischen verschiedenen Sprachen in gemischtsprachlichen Gebieten untersucht; weiter fallen in diesen Bereich z.B. nichtdeutsche Sprachminderheiten in Deutschland oder der so genannte Sprachpurismus.

c) Sprachbewusstseinsgeschichte: In diesem Bereich werden u.a. die zeitgenössische Reflexion in Bezug auf die Sprache, d.h. die professionelle Reflexion der Grammatiker über die Sprachnorm, sowie die Sprachmentalität, also das alltägliche Sprachbewusstsein der Bürger, behandelt.25

Diese Bereiche verbinden sich nicht nur mit der „inneren“ Sprachgeschichte, sondern auch untereinander (z.B. das Sprachbewusstsein über den Sprachgebrauch des hauptberuflichen Journalisten). Zur systematischen Forschung im Sinne der soziopragmatischen Sprachgeschichte sind daher notwendigerweise Untersuchungen in einer Reihe von anderen, benachbarten Forschungsbereichen erforderlich.26 ← 20 | 21 →

Sprachgebrauchsgeschichte

In diesem Bereich wird der Zusammenhang der Sprache und der sozialen Gruppe, des individuellen Sprachbenutzers und seiner Absicht behandelt.27 Im Zentrum des Erkenntnisinteresses von Arbeiten zur Sprachgebrauchsgeschichte stehen sozial und situativ bedingte Varietäten, Varianten, Register, Stile sowie deren Unterschiede zu einer Standardvarietät. ELSPAß (2005) spricht hier von „allgemeiner Sprache“ und „spezialisierter Sprache“. Die „allgemeine Sprache“ ist eine Sprachvariante, die ein durchschnittliches Mitglied einer Sprachbevölkerung anhand gemeinsamen Weltwissens verwenden kann, und die „spezialisierte Sprache“ ist eine Sprachvarietät, die durch Wortschätze und Textmuster mit einer bestimmten Gruppe und einem spezifischen Institut verbunden ist (z.B. Berufssprache, Fachsprache).28 Die „spezialisierte Sprache“ wird weiter anhand des „Diasystems“ nach COSERIU (1973) wie folgt geordnet: Nach diesem Modell werden Sprachvarietäten dem „diatopischen“ (topographische Varietäten: Dialekt), dem „diastratischen“ (soziale Varietäten: Soziolekt, Gruppensprache) und dem „diaphasischen“ Aspekt (stilistische Varietäten: Ausdrucksweise) zugeordnet. Bei konkreten Sprachvarietäten können diese drei Aspekte allerdings einander überlappen. So finden sich z.B. innerhalb eines Dialekts zumeist diastratische und diaphasische Unterschiede.29 In Bezug auf die Varietäten im 19. Jahrhundert werden u.a. diastratisch und diaphasisch aspektualisierte Varietäten als Soziolekte (z.B. die Sprache des Bildungsbürgertums und die Arbeitersprache) und der spezifische Sprachgebrauch eines bestimmten Instituts als Register (z.B. der Bittbrief) erforscht.30

Details

Seiten
284
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041262
ISBN (ePUB)
9783653985351
ISBN (MOBI)
9783653985344
ISBN (Hardcover)
9783631649794
DOI
10.3726/978-3-653-04126-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Zeitung Sprachgeschichtsforschung Zeitungssprache Zeitungswesen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 284 S., 1 s/w Abb., 18 Tab., 23 Graf.

Biographische Angaben

Hirofumi Hosokawa (Autor:in)

Hirofumi Hosokawa studierte in Suita und Tokio (Japan), Göttingen und Kiel. Derzeit ist er Vollzeitlektor an der Hannan Universität in Matsubara (Japan).

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