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Laboratorium der Moderne. Ideenzirkulation im Wilhelminischen Reich- Laboratoire de la modernité. Circulation des idées à l'ère wilhelminienne

von Uwe Puschner (Band-Herausgeber:in) Christina Stange-Fayos (Band-Herausgeber:in) Katja Wimmer (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 271 Seiten

Zusammenfassung

Der Kaiser und seine Untertanen suggerieren vordergründig eine Uniformität der wilhelminischen Gesellschaft mit einer charakteristischen Leitkultur. Bei näherem Hinsehen erweist sich die wilhelminische Gesellschaft jedoch als ebenso hochgradig fragmentiert wie vielgestaltig und dynamisch. Gegenkulturen bestanden in nahezu allen gesellschaftlichen Milieus, vor allem aber im Bildungsbürgertum. Leitkultur und Gegenkulturen stehen im wilhelminischen Zeitalter und darüber hinaus in vielfältigen Wechselbeziehungen: sie agieren gegen- und miteinander. Gegenkulturelles Denken kann sich in der Leitkultur wenn nicht unbedingt etablieren, so doch zumindest Aufmerksamkeit gewinnen, mitunter auch Raum schaffen und die Leitkultur verändern. Sichtbar werden gleichermaßen wechselseitige Austausch- und Veränderungsprozesse. Vor dem Hintergrund der wilhelminischen Epoche als vielgestaltiger dynamischer Umbruchzeit wirkten die behandelten Phänomene graduell unterschiedlich in die Gesellschaft zurück und konnten mitunter noch im Wilhelminischen Reich oder in der Folgezeit Teil des mainstreams werden. Anhand dieser Beobachtungen sowie des Titels ordnet der Sammelband die wilhelminische Zeit in den weiteren historischen Kontext der Epoche der Klassischen Moderne ein.
L’empereur et ses sujets font surgir l’image d’une culture unique et uniforme de la société wilhelminienne. Cependant, à y regarder de plus près, cette société possède des visages variés, elle s’avère être hautement fragmentée et elle est traversée par des dynamiques multiples. Dans presque tous les milieux, mais en particulier dans la bourgeoisie intellectuelle, se développent des contre-cultures. A l’époque wilhelminienne, les contre-cultures traduisent les conflits avec la culture dominante à laquelle elles tentent d’opposer leur point de vue. Il en ressort une interaction riche de tensions, d’échanges, se déclinant tantôt sur le mode de la confrontation, tantôt sur le mode de la coopération : si la pensée des contre-cultures ne parvient pas forcément à s’imposer, elle n’en réussit pas moins à attirer l’attention, à créer un nouvel espace, voire à modifier la culture dominante. Des processus d’échange et de transformation réciproques caractérisent cette époque en plein bouleversement. Les phénomènes analysés ont eu des répercussions sur la société et ont pu devenir partie intégrante du mainstream, que ce soit pendant l’ère wilhelminienne à proprement parler ou pendant les périodes postérieures. Ce sont ces considérations dont le titre de ce volume tient compte, notamment afin de mettre en relation l’époque wilhelminienne avec la problématique de la modernité classique.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Avant-propos
  • Milieus und Regionen. Zum Verhältnis von Politik und Kultur im wilhelminischen Kaiserreich 1890–1918: Björn Hofmeister
  • Nationalstaat, Industriegesellschaft und politischer Massenmarkt
  • Milieus, Regionen und Politik 1890–1914
  • Kulturelle Mobilisierung und soziale Konflikte: Politische Fragmentierungseffekte im Ersten Weltkrieg 1914–1918
  • Säkularisierung, Demokratisierung, Pluralisierung, Radikalisierung: Alte und neue Kulturkämpfe zwischen wilhelminischem Kaiserreich und Weimarer Republik
  • Traditionen und Erosionen: Milieus und Regionen des wilhelminischen Kaiserreichs in längerfristiger Perspektive
  • Akteure / Acteurs
  • Die Vision einer technokratischen Versöhnung von Mensch und Technik: Walther Rathenaus Antwort auf ein Grundproblem der Zivilisationskritik: Thomas Rohkrämer
  • Technik und Zivilisationskritik im „Laboratorium der Moderne“
  • Walther Rathenau – Manager, Techniker und Zivilisationskritiker
  • Rathenaus Schriften vor 1914
  • Rathenau und der Erste Weltkrieg
  • Schluss
  • Arthur Moeller van den Brucks Diagnose des wilhelminischen Deutschland: Michel Grunewald
  • Eine „große Zeit“ für die „jungen Völker“
  • Die „scheiternde Gegenwart“ des Wilhelminismus
  • Deutschland: „ein Volk für den Ernstfall“ - Ausblick 1914
  • „Innerlichkeit“ in Gefahr Rudolf Eucken und die wirtschaftliche Modernisierung des Kaiserreichs: Wolfgang Fink
  • 1. „Innerlichkeit“ zwischen Geschichtsphilosophie und Völkerpsychologie
  • 2. Rudolf Euckens missionarische Hoffnung
  • 3. Die Radikalisierung
  • Ausblick
  • Reformbewegungen / Mouvements de réforme
  • La social-démocratie allemande et l'internationalisme: une culture politique alternative?: Tristan Coignard
  • Éléments d’une culture politique alternative sous le signe de l’internationalisme
  • Décalages entre un discours, une stratégie politique et des pratiques d’engagement
  • L'escapisme environnemental comme laboratoire de la modernité: Marc Gladieux
  • La paysannerie
  • Quelles en sont les caractéristiques supposées?
  • Les défenseurs du terroir
  • Les excursionnistes
  • Conclusion
  • Die Lebensreformbewegung: Bernd Wedemeyer-Kolwe
  • 1. Zivilisationskritik und Großstadtfeindschaft
  • 2. Reformbewegungen
  • 3. Lebensreform
  • 3.1 Gruppen der Lebensreform
  • Interpretationen
  • Künstler-Kolonie Mathildenhöhe L'impossible rêve d'unité d'une colonie d'artistes à Darmstadt: Mechthild Coustillac
  • Darmstadt 1901 : un rêve d’unité au tournant du siècle
  • Le rêve brisé : clivages, apories et échecs
  • Conclusion
  • La Nouvelle Communauté (die Neue Gemeinschaft) un projet contre-culturel original entre anarchisme festif et mysticisme sécularisé.: Yves Iehl
  • Deux regards russes sur la construction du premier Goetheanum à Dornach (Suisse alémanique): Agnes Calladine
  • La nouvelle arche de Noé
  • Dornach à l'épreuve des crispations nationalistes
  • Le retour en Russie
  • Dornach, nouveau symbole de la Jérusalem Céleste
  • Publizistische Auseinandersetzungen / Presse et débats
  • Die Presse der Frauenbewegung: Christina Stange-Fayos
  • Immediates Scheitern
  • Nachhaltiger Erfolg
  • Ausblick
  • Die Entwicklung der Sprache der Presse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Michel Lefèvre
  • 1. Syntaktische Ebene
  • 1.1. Periodischer Stil
  • 1.2. Subordination vs. parataktische Verkettung
  • 2. Satzübergreifende Einheiten
  • 2.1. Definite Nominalgruppen als Teiltextinitiatoren
  • 2.2. Verknüpfung mit dem Vortext mittels Konnektoren
  • 3. Äußerungsebene
  • 3.1. Unpersönliche Wendungen
  • 3.2 Variation in den Äußerungstypen
  • 3.3 Modalisierung
  • 4. Kommunikative Ebene
  • Fazit
  • „Masse“ und völkische Gesellschaftskritik im Kaiserreich Eine Untersuchung der Zeitschrift „Hammer“ (1902–1914): Oliver Saal
  • Das Rassendenken und die Stadt als Ort der „Rassenvermischung“
  • Frauenbild und Antifeminismus
  • Masse und Antisemitismus
  • Aristokratismus und völkischer Idealstaat
  • Contre-cultures coloniales autour de 1900 Régénérer, réinventer, réinscrire une Allemagne repensée outre-mer: Catherine Repussard
  • Colonialité et utopies
  • Colonialité et idéologies
  • Repenser une nouvelle Allemagne outre-mer
  • Italienische Sinnlichkeit und französischer Geist. Erneuerungsphantasien im Umkreis von Heinrich Manns Roman Die kleine Stadt: Ingrid Haag
  • Einleitende Bemerkungen.
  • Irrungen und Wirrungen
  • Amor vincit omnia?
  • Der Schriftsteller als Citoyen
  • „Die kleine Stadt“ – „Die Wärme der Demokratie“
  • Schlusssätze
  • Der Zusammenbruch der alten Welt Ein politisch-militärisches Gedankenexperiment im Laboratorium der Moderne: Stefan Noack
  • Der Autor
  • Die Vorgeschichte
  • Inhalt & Botschaft
  • Wer ist „Seestern“?
  • Das Reichsmarineamt
  • Die Propagandabroschüre
  • Öffentliche Reaktionen
  • Nachklang
  • Deutsche Zusammenfassungen der französischen Beiträge
  • Résumés français des contributions en allemand
  • Index

Vorwort

„Nie hat eine Epoche mit größerem Recht den Namen ihres Monarchen geführt“, resümierte Walther Rathenau in seiner scharfsichtigen – wie es im Untertitel heißt – „Betrachtung“ Der Kaiser aus dem Jahr 1919. Er sprach von der „Wilhelminischen Epoche“, die – im Urteil Rathenaus – „mehr am Kaiser verschuldet [hat] als der Monarch an ihr.“1 Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendete Heinrich Mann seinen gesellschaftskritischen Epochenroman Der Untertan. Dieser prägte und prägt immer noch in der deutschen und außerdeutschen Öffentlichkeit maßgeblich die Vorstellungen und Urteile über das Vierteljahrhundert nach dem Ende der Ära Bismarck von 1890 bis 1914/18, von der Wilhelminischen Epoche. Der Kaiser und sein(e) Untertan(en) suggerieren vordergründig eine Uniformität der wilhelminischen Gesellschaft. Bei näherem Hinsehen erweisen sich Epoche und Gesellschaft jedoch als ebenso hochgradig fragmentiert wie vielgestaltig und nicht zuletzt von spannungs- und konfliktreichen dynamischen Veränderungsprozessen gekennzeichnet. Die Zeitgenossen nahmen diese sensibel war, wenn sie in einem vielstimmigen Chor die Unbehaglichkeit ihres „Zeitalter[s]“ thematisierten2 oder sich mit Hermann Conradi als „Uebergangsmenschen“ verstanden.3

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Die Berliner Straßenszene aus dem Jahr 1907, der amüsiert dreinblickende Polizist mit Pickelhaube und der schnellen Schrittes vorbeieilende langhaarige und bärtige „Naturmensch“ in zeittypischer Reformkleidung, fängt die Parallelitäten der epochalen Vielfalt in ihrer Gegenläufigkeit eindringlich ein. ← 7 | 8 →

Hieraus resultierten eine exorbitante Ideenproduktion und -zirkulation und damit verbunden in ihrer Struktur und in ihren Anliegen vielgestaltige Such- und Reformbewegungen und unterschiedliche Gesellungsformen, die zwar Signatur der wilhelminischen Epoche sind, aber weit über sie hinausreichen. Ihr Entstehen hat vielfältige Ursachen und ihre in die Zukunft gerichteten Forderungen und Ziele waren sehr unterschiedlich. Sie sind – aber nicht nur – Reaktionen auf die für die Zeitgenossen beängstigenden, deren Zukunftsoptimismus dabei keineswegs hemmenden, vielmehr herausfordernden Transformationsprozesse, die die soziale, ökonomische, politische und kulturelle Ordnung kennzeichnen.

Wenn sich in und mit ihnen auch die Symptome einer Gesellschaft im Umbruch manifestieren, stehen diese Bewegungen und ihre überwiegend (bildungs-) bürgerliche Klientel zugleich und vor allem für eine kreative Dynamik, die die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts nachhaltig zum Positiven wie zum Negativen beeinflusst hat. Vor diesem Hintergrund erscheint die wilhelminische Epoche als ein « Laboratorium der Moderne ». Ihm widmen sich anhand exemplarischer Beispiele, die Protagonisten, Bewegungen und deren Ideenproduktion kritisch in den Blick nehmen, die Beiträge dieses deutsch-französischen Sammelbandes.

Er ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im März 2013 an der Université Paul Valéry – Montpellier 3 stattfand und die von der Deutsch-Französischen Hochschule (Saarbrücken) großzügig gefördert wurde. Den Verantwortlichen sei dafür ebenso herzlich gedankt wie der Forschungsgruppe CREG/EA4151 für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Die redaktionelle Betreuung des Sammelbandes und die Manuskriptgestaltung oblagen Stefan Noack, dem für sein großes Engagement herzlich zu danken ist. Ein herzliches Dankeschön gilt es, last but not least, den deutschen und französischen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre konstruktive Mit- und Zusammenarbeit auszusprechen.

Berlin und Montpellier, im September 2014

Katja Wimmer Christina Stange-Fayos Uwe Puschner

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1Walther RATHENAU, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 51.-54. Aufl. 1921, Zit. S. 44.

2S. etwa Max LENZ, Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt, in: Cosmopolis. Internationale Revue 4 (1896), S. 271–289, bes. S. 271.

3Hermann CONRADI, Ein Kandidat der Zukunft – Uebergangsmenschen (Bruchstück) 1889, in: DERS., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Werner PETERS, Bd. 3, München/Leipzig 1913, S. 447–481.

Avant-propos

« Jamais époque n'a porté à plus juste titre le nom de son monarque » résumait Walther Rathenau dans ses « réflexions » clairvoyantes de l'année 1919 intitulées Der Kaiser (Réflexions étant le sous-titre de l’ouvrage). Il y était question de l'ère wilhelminienne, qui, selon le jugement de Rathenau, « a davantage marqué son monarque et elle n'a été marquée par ce dernier »1. Peu avant le début de la Première Guerre mondiale, Heinrich Mann achevait son roman satirique Der Untertan qui devait par la suite influencer largement, dans l'opinion allemande et internationale, les représentations et les jugements portés sur le quart de siècle (1890–1914/18) qui suivit l'époque bismarckienne. L'empereur et ses sujets font surgir l'image d'une culture unique et uniforme de la société wilhelminienne. Cependant, à y regarder de plus près, les visages de cette société et de cette époque sont variés. Elle s'avère être hautement fragmentée et traversée par de multiples processus d’évolution et de transformation, aussi dynamiques que conflictuels. Les contemporains y étaient sensibles, notamment lorsqu'ils renvoyaient de concert au malaise de leur « époque »2, ou se comprenaient, à l'instar de Hermann Conradi, comme des « êtres de transition ».3

Cette scène de rue berlinoise de1907, ce policier au casque à pointe et au regard amusé qui observe l’homme « à l'état de nature » se hâtant à grands pas, en vêtements dits « de réforme », c'est-à-dire confortables et caractéristiques de ce temps, capte bien les parallélismes de la multiplicité de l'époque avec tous ses paradoxes.

En résultent une production et circulation d'idées exorbitantes, à laquelle est reliée dans sa structure et ses préoccupations un mouvement de recherche et de réformes multiples, ainsi que des formes d’associations qui sont certes caractéristiques de l’ère wilhelminienne, mais la dépassent largement. Leur éclosion était due à de multiples causes et leurs objectifs et revendications, tournés vers le futur, étaient très hétéroclites. Ce sont avant tout, mais pas seulement, des réactions à des processus de transformation de l’ordre social, économique, politique et culturel, susceptibles d’inquiéter les contemporains sans pour autant freiner leur foi dans le progrès, mais représentant plutôt pour eux une gageure.

Ces mouvements et leurs porteurs (principalement issus de la bourgeoisie cultivée), dans et par lesquels se manifestent les symptômes d’une société en plein bouleversement, sont surtout représentatifs d’une dynamique créatrice et ont durable ← 9 | 10 → ment influencé les développements, positifs et négatifs, du XXe siècle. Devant cet arrière-plan, l’ère wilhelminienne apparaît comme étant un « laboratoire de la modernité ». C’est à cela que sont consacrées les contributions de ce volume collectif franco-allemand, contributions qui jettent un regard critique sur les protagonistes, les mouvements et les idées de l’époque.

Ce volume est le fruit d’un colloque international qui s’est déroulé à l’Université Paul Valéry – Montpellier 3 et qui a été généreusement subventionné par l’Université Franco-Allemande (UFA, Sarrebruck). Nous en remercions les responsables, ainsi que ceux du CREG / EA 4151 (Centre de Recherches et d’Etudes Germaniques, Toulouse 2 / Montpellier 3) qui a soutenu cette publication. Il nous faut également remercier Stefan Noack, qui a œuvré à la rédaction et la mise en page de ce collectif, pour son engagement exceptionnel. Last but not least, nos remerciements vont aux auteurs allemands et français présents dans ce volume. Nous avons beaucoup apprécié leur collaboration constructive.

Berlin et Montpellier, septembre 2014

Katja Wimmer Christina Stange-Fayos Uwe Puschner

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1Walther RATHENAU, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 1921, p. 44.

2Voir par exemple Max LENZ, Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt, in: Cosmopolis. Internationale Revue 4 (1896), pp. 271–289, surtout p. 271.

3Hermann CONRADI, Ein Kandidat der Zukunft – Übergangsmenschen (Buchstück) 1889, in: IBID., Oeuvres, éd. par Werner PETERS, tome 3, München/Leipzig 1913, pp. 447–481.

Björn Hofmeister

Milieus und Regionen. Zum Verhältnis von Politik und Kultur im wilhelminischen Kaiserreich 1890–1918

Nationalstaat, Industriegesellschaft und politischer Massenmarkt

Die deutsche „Kulturnation“ war der zentrale Kampfbegriff der liberalen Einheitsbewegung vor 1871. Nach der Reichseinigung waren sowohl Bedeutung wie Inhalt dieser „Kulturnation“ jedoch höchst umstritten. Nicht nur blieb Österreich aus dem kleindeutschen Reich ausgeschlossen, sondern es kämpften verschiedene soziale Klassen, weltanschauliche Milieus und politische Parteien in den Regionen des Deutschen Reiches um Macht und kulturelle Bedeutung. Wesentliche Bedingungen des „politischen Massenmarktes“ hatten sich seit den 1860er Jahren herausgebildet, während die wesentlichen weltanschaulichen Makro-Milieus des Kaiserreichs (katholisches Milieu, sozialdemokratisches Arbeitermilieu sowie liberal-protestantisches und konservatives Milieu) sich im Zusammenhang von konfessioneller Bindung, regionaler Herkunft und sozialer Schichtung bereits um 1871 in ihrer Grundstruktur weitgehend unterscheiden ließen. Im Kaiserreich zeigte sich somit zunächst eine Fortentwicklung politischer Weltanschauungen die in ihrer Entstehung im späten 18. Jahrhundert lagen (Konservatismus und Liberalismus) oder um 1830 (politischer Katholizismus) und um 1848 (Sozialdemokratie) ihre organisatorischen Ursprünge hatten.

Die Parteien, die durch Weltanschauung und Milieubindung strukturiert waren und sich deshalb auch als Weltanschauungsparteien verstanden, beförderten eine weitgehend ritualisierte und homogenisierte Ausrichtung der Lebenswelt ihrer Anhänger sowie eine „sekundäre Integration“ im Vereinsmilieu und im „politischen Sozialmilieu“ der parteipolitischen Vertretungen.1 Die Parteien sahen sich seit der Reichseinigung vor die Herausforderung gestellt, Klientelpolitik und Integrationspolitik gegeneinander abzuwägen und soziale Konfliktlinien gegebenenfalls auszugleichen. Der damit verbundene Druck zur Entwicklung von Honoratiorenpolitik hin zur Massenpolitisierung um die Jahrhundertwende begann bereits in den 1870er und 1880er Jahren und wurde wesentlich durch die Ausdifferenzierung und politische Professionalisierung kultureller Milieus und ihrer Organisationsgrundlagen bedingt, deren Emanzipationskämpfe und Behauptungsbemühungen auch zu politischen Modernisierungsprozessen führten. Dazu zählt vor allem die steigende Bedeutung von Vereinen, Verbänden und Gewerkschaften sowie die Herausforde ← 11 | 12 → rung der sozialen, regionalen und konfessionellen Verankerung ihrer Anhängerschaften durch politische Kämpfe oder strategische Koalitionen zwischen den Parteien auf regionaler und nationaler Ebene.

M. Rainer Lepsius betonte in seiner klassischen Analyse des Zusammenhanges von politischem Handeln, sozialer Klassenlage und kultureller Lebensführung die „Koinzidenz“ von mehreren „Strukturdimensionen“ wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, schichtspezifische Zusammensetzung der „intermediären Gruppen“ sowie deren regionale Traditionen.2 Trotz der eingeforderten methodischen Erweiterung erscheint das idealtypische Milieu-Modell weiterhin sinnvoll als Ausgangspunkt für die Analyse von kulturellen Abgrenzungen und Überschneidungen sowie von politischer Kommunikation zwischen sogenannten Mehrheitsund Minderheitskulturen in der Auseinandersetzung um nationale Integration und politische Macht. Die kulturelle Struktur von politischem Verhalten, der Erfahrungen, Wahrnehmungen, Werte und Vorstellungen zu Grunde liegen, lassen sich mit entsprechenden Milieuverdichtungen, -überschneidungen und -erosionen sowie der Herausbildung von Teilmilieus für das wilhelminische Kaiserreich beschreiben.

Die politische Ausdifferenzierung der vier idealtypischen Makro-Milieus traf um die Jahrhundertwende auf eine sich dynamisch entfaltende Industriegesellschaft, die regionale Identitäten durch föderale Mechanismen der Reichsgestaltung auch kulturell verstärkte. Die Rationalität der modernen industriellen Gesellschaft und die Realitäten der sozialen und kulturellen Fragmentierung der deutschen Gesellschaft stellte eine Herausforderung für alle Milieus dar. Die Wirtschaft entwickelte sich trotz ökonomisch zuweilen unbeständiger Konjunkturlagen wie zwischen 1873 und 1896 weiter in Richtung Industrialisierung, der Agrarsektor wurde weiterhin gestützt, und die Berufsstruktur veränderte sich in Deutschland vor allem zugunsten des Dienstleistungssektors und der Erweiterung des „neuen Mittelstan ← 12 | 13 → des“. Waren 1882 noch 41,6% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, so verringerte sich der Anteil bis 1907 auf 28,4%, während er für die Industrie von 34,8% auf 42% anstieg.3 Die soziale Struktur des Deutschen Reiches veränderte sich fundamental bis zum Ersten Weltkrieg. Die Bevölkerungszahl stieg von 41 Millionen im Jahre 1871 auf 65 Millionen am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Verstärkte Urbanisierung führte zum Anstieg der Anzahl der Städte mit über 100,000 Einwohner von acht Städten um 1871 auf 48 Städte im Jahre 1910.4 Während die konjunkturelle Massenauswanderung zwischen 1846 und 1893 zurückging, stieg die Binnenwanderung innerhalb des Deutschen Reiches aufgrund von Arbeitsmigration sichtlich an. Allein bis 1907 verließen zwei Millionen Menschen die agrarisch geprägten Regionen Ost- und Westpreußens, Posens und Schlesiens und zogen vornehmlich in die industriellen Gebiete Sachsens und des Ruhrgebietes sowie in die urbanen Zentren des Reiches.5 Soziale Dislokationen waren die Folge, die von allen politischen Strömungen kritisch wahrgenommen wurden. Die Verschiebung von Lebenszentren führte auch zu einer Neuverteilung von politischen und sozialen Orten.

Diese neuen Entwicklungen hatten entscheidenden Einfluss auf die Erfahrungsverarbeitung und den Erwartungshorizont der Zeitgenossen für die zukünftige Gestaltung Deutschlands auf innen- sowie auf außenpolitischem Gebiet, so dass man die Jahrhundertwende des Fin de Siècle auch als Beginn eines langen 20. Jahrhunderts begreifen kann.6 Nicht erst die Wirkungen des Ersten Weltkrieges schienen für eine solche Sichtweise zu sprechen. Bereits ab den 1880er und 1890er Jahren manifestierten sich kulturelle Bewegungen, künstlerische Strömungen, politische Vereine und Reformdiskurse, die eine Zäsur um 1900 anzeigen. Eine zunehmende Komplexität und tiefgreifende Transformationen in Politik, Kunst, gesellschaftlicher Massenmobilisierung, Sozialreform, Stadtplanung, Konsumverhalten und der Geschlechterverhältnisse verweisen auf weitreichende Veränderungen in Staat und Gesellschaft.

Details

Seiten
271
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653046823
ISBN (ePUB)
9783653988321
ISBN (MOBI)
9783653988314
ISBN (Hardcover)
9783631650462
DOI
10.3726/978-3-653-04682-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
klassische Moderne Leitkultur Gegenkultur wilhelminische Epoche
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 271 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Uwe Puschner (Band-Herausgeber:in) Christina Stange-Fayos (Band-Herausgeber:in) Katja Wimmer (Band-Herausgeber:in)

Uwe Puschner ist Professor am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und Mitglied des Centre d’Études Germaniques Interculturelles de Lorraine (CEGIL) an der Université de Lorraine. Uwe Puschner enseigne l’histoire à l’Université libre de Berlin (Institut Friedrich Meinecke). Il est membre du Centre d’Études Germaniques Interculturelles de Lorraine (CEGIL) de l’Université de Lorraine. Christina Stange-Fayos lehrt Landes- und Kulturwissenschaft an der Germanistikabteilung der Universität Paul Valéry (Montpellier 3). Sie ist Mitglied des Centre de Recherche et d’Études Germaniques (CREG) der Universitäten Montpellier 3 und Toulouse 2. Christina Stange-Fayos enseigne la civilisation au département d’allemand de l’Université Paul Valéry, Montpellier 3. Elle est membre du Centre de Recherche et d’Études Germaniques (CREG) des Universités Montpellier 3 et Toulouse 2. Katja Wimmer lehrt Literatur an der Germanistikabteilung der Universität Paul Valéry (Montpellier 3). Sie ist Mitglied des Centre de Recherche et d’Études Germaniques (CREG) der Universitäten Montpellier 3 und Toulouse 2. Katja Wimmer enseigne la littérature au département d’allemand de l’Université Paul Valéry, Montpellier 3. Elle est membre du Centre de Recherche et d’Études Germaniques (CREG) des Universités Montpellier 3 et Toulouse 2.

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