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Rechnen mit musikalischen Intervallen, Skalen und Stimmungen im historischen Kontext

von Walter Bühler (Autor:in)
©2014 Monographie VII, 180 Seiten

Zusammenfassung

Das interdisziplinär konzipierte Rechenkompendium bietet einen Überblick über die quantitativen Aspekte von musikalischen Intervallen, die im Laufe der Geschichte diskutiert worden sind. Für die mathematische Beschreibung des historischen Materials wird unter den möglichen Modellen bevorzugt das aristoxenische Treppenmodell verwendet, weil es größere Anschaulichkeit mit einem engeren Bezug zu musikalischen Sachverhalten verbindet. Die Betrachtung der diatonischen Struktur und der Notation im Liniensystem führt zunächst auf den Begriff der Stimmung. Der diatonische Algorithmus, der nach Ideen von Leibniz und Henfling mit Kettendifferenzen formuliert wird, garantiert schließlich ein systemübergreifendes Verfahren zur Gewinnung von Stimmungen in konsonanzbasierten Intervallsystemen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • I. Intervalle und Skalen im Anschauungsraum
  • § 1 Schätzen, Messen und Rechnen im Anschauungsraum
  • § 2 Darstellung von Skalen durch reelle Zahlen
  • § 3 Reelle Zahlen und Kettenbrüche
  • § 4 Rechnen mit dynamischen Skalen und Intervallen
  • § 5 Rechnen mit statischen Skalen
  • § 6 Rechnen mit statischen Intervallen
  • II. Musikalische Skalen und Intervalle
  • § 7 Grundlegende Hypothesen für musikalische Skalen
  • § 8 Die beiden Ansätze für die Untersuchung von Skalen
  • § 9 Oktave, Quinte und Quarte als Stimmkonsonanzen
  • § 10 Kettendifferenzen
  • § 11 Oktavreduktion, Basisoktave und Komplementärintervalle
  • § 12 Heptatonische Oktavskalen
  • § 13 Abschätzung der Quarte
  • § 14 Vielfalt der antiken Tongeschlechter
  • § 15 Bedeutung des diatonischen Tongeschlechts
  • III. Diatonisch gegliederte Skalen und gleichmäßiges Zwölfersystem
  • § 16 Diatonisches Geschlecht, Doppelganzton und Halbton
  • § 17 Diatonische Skala, diatonische Sequenz und Oktavgattungen
  • § 18 Gleichmäßiges Zwölfersystem
  • IV. Regulär strukturierte diatonische Skalen
  • § 19 Reguläre diatonische Feinstruktur
  • § 20 Diatonische Intervallklassen
  • § 21 Differenzierende Darstellung bei regulärer Feinstruktur
  • V. Liniensystem
  • § 22 Liniensystem und Intervallklassen
  • § 23 Solmisation und Liniensystem
  • VI. Stimmungen und Notation
  • § 24 Tasteninstrumente mit Normaltastatur
  • § 25 Die Notation diatonischer Skalen im Liniensystem
  • § 26 Allgemeine Stimmungen und Komplementarität
  • § 27 Intervallumgebung und Parametrisierung einer Stimmung
  • VII. Konsonanzbasierte Intervallsysteme und diatonischer Algorithmus
  • § 28 Der Begriff des Intervallsystems
  • § 29 Reguläre Intervallsysteme und Quintsysteme
  • § 30 Die Basisoktave von regulären Intervallsystemen
  • § 31 Zur Notation regulärer Systeme im Liniensystem
  • § 32 Der diatonische Algorithmus in regulären Systemen
  • § 33 Reguläre Auswahlstimmungen
  • § 34 Die Entstehung der biregulären diatonische Struktur
  • § 35 Bireguläre Intervallsysteme und Quint-Terz-Systeme
  • § 36 Das Quint-Terz-Trapez (QT-Trapez)
  • § 37 Die Basisoktave von biregulären Intervallsystemen
  • § 38 Zur Notation biregulärer Systeme im Liniensystem
  • § 39 Reguläre und bireguläre Oktavteilungen niederer Ordnung
  • § 40 Der diatonische Algorithmus in biregulären Systemen
  • VIII. Musikalische Intervallwahrnehmung und Modellbildung
  • § 41 Physikalische Grundannahmen im Frequenzmodell
  • § 42 Logarithmen im Treppen- und Frequenzmodell
  • § 43 Das Mersennesche Gesetz und das Saitenlängenmodell
  • § 44 Äquivalenz der drei Modelle
  • § 45 Deutlichkeit bei der musikalischen Intervallwahrnehmung
  • IX. Pythagoreisches und natürliches System als historische Systeme
  • § 46 Der historische Hintergrund des pythagoreischen Systems
  • § 47 Die Grundkonstruktion des pythagoreische Systems
  • § 48 Numerische Gestalt des pythagoreischen Systems
  • § 49 Zum Hintergrund des natürlichen Systems
  • § 50 Numerische Gestalt des natürlichen Systems
  • § 51 Realisierbarkeit und Temperatur des natürlichen Systems
  • § 52 Reguläre Temperaturen des natürlichen Systems
  • § 53 Darstellung von Intervallsystemen im QT-Trapez
  • X. Stimmungen und natürliches System
  • § 54 Reine Parameter einer allgemeinen temperierten Stimmung
  • § 55 Reine Parameter bei regulären Stimmungen
  • § 56 Pythagoreische und natürliche Auswahlstimmungen
  • XI. Naturwissenschaftliche Legitimation des natürlichen Systems
  • § 57 Moderne naturwissenschaftliche Legitimation
  • § 58 Die Koinzidenztheorie
  • § 59 Partialtöne und Koinzidenz
  • § 60 Physikbasierte Theorien und natürliches System
  • XII. Zum Rechnen mit Proportionen und Progressionen
  • § 61 Progressionen und Proportionen
  • § 62 Progressionen im Saitenlängen- und Frequenzmodell
  • § 63 Gewinnung neuer Progressionen aus einer Progression π
  • § 64 Verknüpfungen zweier Progressionen π und φ
  • § 65 Formaler Intervallkalkül mit Proportionen
  • § 66 Besonderheiten bei ganzzahligen Progressionen
  • § 67 Arithmetische und harmonische Teilung
  • § 68 Rechnen mit überteiligen Proportionen
  • Anhang
  • A.1 Geometrische Progressionen im Saitenlängenmodell
  • A.1.1 Monoton fallende geometrische Folgen
  • A.1.2 Näherungsverfahren für geometrische Progressionen
  • A.1.2.1 Approximation durch Summen- und Differenzenbildung
  • A.1.2.2 Das geometrische Mittel
  • A.1.2.3 Einfügung von zwei mittleren Proportionalen
  • A.1.2.4 Das Mesolabium
  • A.1.2.5 Stråhles Konstruktion
  • A.2 Zur Modellbildung bei Lindley und Turner-Smith
  • A.3 Oktavteilungen niedriger Ordnung
  • A.4 Eine Auswahl von 612 natürlichen Intervallen
  • Stichwortverzeichnis

Einleitung

Nicht weniger als die Pythagoreer verwenden auch
die Aristoxener auf Zahlen beruhende Beweise.

Porphyrius1.

Wer sich in der Geschichte der Musiktheorie mit musikalischen Intervallen, Skalen und Stimmungen beschäftigt, sieht sich mit einer erstaunlichen Vielfalt von Rechenverfahren und quantitativen Aussagen über musikalische Intervalle konfrontiert. Das hier vorgelegte Rechenkompendium stellt einen Versuch dar, dieses historische Material hinsichtlich seines rechnerischen Gehalts unter einheitlichen und teilweise neuartigen Gesichtspunkten und Begriffen zu ordnen. Ich beschränke mich dabei auf den Bereich der europäisch geprägten Musik, wie sie seit dem hohen Mittelalter im Liniensystem notiert wird.

Mathematische Modellbildungen in der Musik beginnen heutzutage gewöhnlich mit physikalischen Betrachtungen zur Schallerzeugung und zur Schallausbreitung. Das Phänomen Tonhöhe, welches hinsichtlich der musikalischen Intervalle den zentralen Aspekt der musikalischen Kommunikation charakterisiert, wird mit der Frequenz einer Schallwelle identifiziert und kann so mit den vertrauten mathematischen Methoden behandelt werden, wie sie sich in der modernen Physik bewährt haben. Daher kann man bei einem solchen theoretischen Ansatz vom Frequenzmodell sprechen. Seit Helmholtz wird die Argumentation im Frequenzmodell enger mit einer physiologischen Analyse des Ohres und mit einer Reflexion hörpsychologischer Befunde verbunden. Ein Beispiel für dieses Vorgehen findet man in dem Buch von David J. Benson2.

Der Begriff der Frequenz wird jedoch erst ab dem Ende des 16. Jahrhunderts in modernem Sinne als physikalische Größe quantitativ formuliert, und die Entwicklung von praxistauglichen Messverfahren für akustische Frequenzen hat sich über die folgenden Jahrhunderte hingezogen. In der pythagoreischen Tradition werden dagegen seit der Antike Saitenlängenverhältnisse verwendet, die erheblich leichter quantitativ bestimmt und mit dem Ohr kontrolliert werden können. Das physikalische Gesetz, welches den Zusammenhang zwischen ← 1 | 2 → Saitenlängenverhältnissen und Frequenzverhältnissen regelt, wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Mersenne aufgestellt. Das Saitenlängenmodell, welches über lange Jahrhunderte in der Musiktheorie im Vordergrund steht, kann daher heute als eine Vorform oder Variante des Frequenzmodells betrachtet werden, obwohl die Theoretiker der pythagoreischen Tradition in Wirklichkeit von einer andersartigen numerologisch-transzendenten Grundposition ausgegangen sind. Aus heutiger Sicht lassen sich jedenfalls Frequenz- und Saitenlängenmodell gemeinsam der Akustik und somit der Physik zuordnen.

Man kann sich jedoch dem Thema der musikalischen Intervalle und Skalen auch von einer anderen Seite her nähern. Sprache und Musik sind als die wichtigsten Formen der menschlichen Kommunikation eng miteinander verwandt. Das Nachdenken über Musik ist so alt wie das Nachdenken über die Sprache, und beide Kommunikationsformen beruhen auf einer stabilen, durch Lernen erworbenen kulturellen Praxis, deren Ursprung weit vor der Entstehung der Schrift und vor der Herausbildung der eigentlichen Musiktheorie und der Mathematik zu datieren ist. Daher kann es nicht völlig befriedigen, wenn die musikalische Elementarlehre, die zu dieser uralten Praxis gehört, im Gegensatz zur sprachliche Elementarlehre in zentralen Punkten auf ein Lehrsystem wie die moderne Physik zurückgreifen soll, das außerhalb der unmittelbaren musikalischen Erfahrung liegt und sich historisch viel später entwickelt hat. Außerdem sollte ja auch heute noch jedes Individuum den Umgang mit musikalischen Grundbegriffen und ihre Anwendung in der Praxis in der Regel früher erlernen als die zugehörigen physikalischen Gesetze.

Aus diesem Grunde habe ich mich zu dem Versuch entschlossen, die Fundamente für das vorliegende Kompendium nicht im Saitenlängen- oder Frequenzmodell, sondern im Treppenmodell zu legen. Diesen Ansatz habe ich bereits in meinem Buch über Naturwissenschaftler der frühen Neuzeit verfolgt3, allerdings nicht in der gleichen Ausführlichkeit.

Schon in der Antike hat Aristoxenos die These aufgestellt, dass die musikalischen Begriffe Tonhöhe, Intervall und Skala intuitiv in der gleichen Weise benutzt und interpretiert werden wie die entsprechenden protogeometrischen räumlichen Begriffe, die alle um den Abstand, die Abstandsschätzung und die Abstandsmessung kreisen. Nach Aristoxenos muss jeder, der sich mit der Melodiebildung beschäftigen will, zu allererst die Bewegung der Stimme analysieren, und zwar die Bewegung dem Orte nach. Wenn man diesen protogeometrischen Ursprung der musikalischen Begriffsbildung akzeptieren kann, und wenn man sich zugleich den eigenen intuitiven Umgang mit musikalischen Intervallen be ← 2 | 3 → wusst macht, dann kann man auf der Basis der heutigen Elementarmathematik Begriffe und Methoden entwickeln, welche auf der einen Seite das quantitative Denken und Rechnen bei musikalischen Skalen einfach und übersichtlich beschreiben können, aber auf der anderen Seite die historische Entwicklung und die musikpädagogische Konkretisierung nicht aus den Augen verlieren. Das derart neu rekonstruierte Treppenmodell sollte der Natur der musikalischen Kommunikation und ihrer historischen und kulturellen Vielfalt besser gerecht werden als Modellbildungen, die von einem naturwissenschaftlichen Ansatz ausgehen. Saitenlängen- und Frequenzmodell werden daher erst nach dem Treppenmodell behandelt und auf dessen Hintergrund dargestellt.

Mit diesem Kompendium wird demnach ein Vorschlag zur Diskussion gestellt, welcher bei den musiktheoretischen Grundlagen auf einen reduktionistischen Ansatz verzichtet und eine Mathematisierung ohne den üblichen Umweg über die Naturwissenschaften ermöglicht. Wie andere Vorstellungen, die mit der musikalischen Klangwahrnehmung verbunden sind, gehören die mit der Tonhöhe verknüpften Vorstellungen ja nicht zur physischen Realität im engeren Sinne, sondern zum kulturellen Kontext. Im Treppenmodell werden Phänomene quantitativ untersucht und in mathematischer Gestalt formalisiert, die zur Vorstellungswelt des musizierenden und des hörenden Subjekts gehören. Ordnet man das Frequenz- und Saitenlängenmodell der Akustik und damit der modernen Physik zu, dann kann man das Treppenmodell der musikalischen Elementarlehre im heutigen Wissenschaftskatalog am ehesten der Hörpsychologie zuordnen.

Die Beschränkung auf das Liniensystem und seine Geschichte äußert sich in der Konzentration auf die einheitliche diatonische Struktur und auf die in ihr gebildeten diatonischen Intervallklassen, wie sie im Liniensystem mit den heute üblichen Vorzeichen notiert werden können. Die diatonischen Intervallklassen bilden in der europäisch geprägten Musik über all die unterschiedlichen Stimmungen und Systeme hinweg die allgemein anerkannte Basis der musikalischen Terminologie, und zwar sowohl in der Praxis wie in der Theorie.

Mit den dreizehn diatonischen Intervallklassen innerhalb der Oktave ist der Begriff der Stimmung verbunden, welcher hier im engen Bezug zu den Tasteninstrumenten definiert wird. Hierbei wird eine einfache mathematische Formalisierung als unstrukturierte Menge aus dreizehn reellen Zahlen vorgenommen. Außer der Zahl 0 für die Prime und einer Zahl A für die Oktave muss eine Stimmung noch elf weitere Zahlen enthalten, welche zu den elf diatonischen Intervallklassen zwischen Prime und Oktave gehören. Mit dieser elementaren Definition können nicht nur die zahlreichen regulären und biregulären Stimmungen, sondern auch die vielen irregulären Stimmungen berücksichtigt werden, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert diskutiert werden. Es zeigt sich ← 3 | 4 → außerdem, dass die Notation im Liniensystem für eine solche Stimmung unabhängig von ihren konkreten numerischen Werten sinnvoll gedeutet werden kann.

Details

Seiten
VII, 180
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041743
ISBN (ePUB)
9783653988109
ISBN (MOBI)
9783653988093
ISBN (Paperback)
9783631650592
DOI
10.3726/978-3-653-04174-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Aristoxenisches Treppenmodell Diatonische Struktur Intervallsysteme Notation im Liniensystem pythagoreisches Saitenlängenmodell
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. VIII, 180 S., 71 s/w Abb., 6 Tab., 13 Graf.

Biographische Angaben

Walter Bühler (Autor:in)

Walter Bühler studierte Mathematik und Physik in Tübingen und unterrichtete zuletzt als Studiendirektor auch Informatik an Berliner Gymnasien. Neben und nach der Berufstätigkeit forschte er zur Alten Musik und den musiktheoretischen Positionen von Naturwissenschaftlern der frühen Neuzeit, vor allem zu Leibniz.

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