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Tarifgemeinschaften als Lösungsansatz für ein funktionierendes Tarifsystem im Rahmen von Tarifkollisionen

von Sarah Saeidy-Nory (Autor:in)
©2014 Dissertation 319 Seiten

Zusammenfassung

Nach dem Grundsatz der Tarifeinheit galt jahrzehntelang in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag. Im Jahr 2010 gab die Rechtsprechung die Tarifeinheit bei Tarifpluralitäten auf. Durch vermehrte Tarifabschlüsse von Spartengewerkschaften entstehen Tarifkollisionen, die nicht mehr aufgelöst werden. Die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems ist durch diese Entwicklung zunehmend gefährdet. Tarifgemeinschaften wurden insofern als verfassungsgemäße Lösung entwickelt. Sie sind gemäß Art. 9 Abs. 3 GG möglich und in der Praxis vorzufinden. Durch Tarifgemeinschaften werden weder Tarifverträge noch -partner aus dem System ausgegrenzt und die verfassungsrechtlich garantierten Koalitionsfreiheiten und -garantien werden gewährleistet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Abschnitt: Problemstellung, Aufgabenstellung und eigener Ansatz
  • I. Problemstellung
  • 1. Eingrenzung der tarifrechtlichen Problemstellung
  • 2. Die eingeschränkte Beachtung des Arbeitskampfrechts
  • 3. Zwischenergebnis und Folgerungen
  • 4. Die Entstehung von Gewerkschaftspluralitäten im Tarifvertragssystem unter historischen und aktuellen Gesichtspunkten
  • a) Gewerkschaftspluralität unter historischen Gesichtspunkten
  • b) Gewerkschaftspluralität unter aktuellen Gesichtspunkten
  • 5. Die Entstehung von Gewerkschaftspluralitäten in der Praxis: Der Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn in den Jahren 2007/2008
  • a) Tarifgemeinschaft bestehend aus der GDBA und der Transnet
  • b) Kooperationsvereinbarung zwischen der Tarifgemeinschaft und der GDL
  • 6. Zwischenergebnis und Folgerungen
  • 7. Folgerungen im Hinblick auf die Bewertungskriterien der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems
  • a) Tarifautonomie
  • b) Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie
  • c) Funktionsfähigkeit des Tarifsystem und Grundrechtsoptimierung
  • d) Individuelle positive und negative Koalitionsfreiheit
  • e) Kollektive Koalitionsfreiheit
  • f) Koalitionsgarantien
  • g) Zwischenergebnis
  • 8. Folgerungen aus der Kumulation von Koalitionsfreiheiten: Pluralitäten als organisatorisches, prozedurales und rechtliches Problemfeld
  • a) Organisatorisch
  • b) Prozedural
  • c) Rechtlich
  • 9. Ergebnis
  • II. Aufgabenstellung
  • 1. Die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit als Problem und Prüffeld für die Tarifgemeinschaften
  • 2. Verfassungsrechtlicher Koalitionspluralismus und Tarifgemeinschaften
  • III. Eigner Ansatz
  • 1. Tarifgemeinschaften und wechselseitige Grundrechtsoptimierung
  • 2. Tarifgemeinschaften als organisatorischer, prozeduraler und rechtlicher Lösungsansatz
  • 3. Die Bildung, die Funktionsvoraussetzungen und die Wirkungsweise von Tarifgemeinschaften
  • 4. Tarifgemeinschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung
  • 5. Tarifgemeinschaften als Gegenstand einer gesetzgebungspolitischen Aufgabe
  • 6. Ergebnis
  • 2. Abschnitt: Der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb als bisheriger Lösungsansatz im Rahmen von Tarifkollisionen
  • I. Der Grundsatz der Tarifeinheit
  • 1. Begrifflichkeiten
  • a) Der Grundsatz der Tarifeinheit
  • b) Tarifkonkurrenz
  • c) Tarifpluralität
  • d) Der Grundsatz der Spezialität
  • 2. Geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes der Tarifeinheit
  • 3. Der Grundsatz der Tarifeinheit als Lösungsansatz in der bisherigen Rechtsprechung
  • a) Tarifkonkurrenz
  • b) Tarifpluralität
  • 4. Ausnahmen vom Grundsatz der Tarifeinheit
  • 5. Begründung des Lösungsansatzes durch die Rechtsprechung
  • 6. Ergebnis
  • II. Kritik am Grundsatz der Tarifeinheit durch die Literatur
  • 1. Tarifkonkurrenz
  • 2. Tarifpluralität
  • a) Häufiger Gewerkschaftswechsel
  • b) Fehlen eines Fragerechts bzw. einer Offenbarungspflicht betreffend die Gewerkschaftszugehörigkeit(en)
  • c) Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln
  • 3. Ergebnis
  • III. Stellungnahme zur Kritik der Literatur
  • 1. Tarifkonkurrenz
  • 2. Tarifpluralität
  • a) Häufiger Gewerkschaftswechsel
  • b) Fehlen eines Fragerechts bzw. einer Offenbarungspflicht betreffend die Gewerkschaftszugehörigkeit(en)
  • c) „Tarifblockade“ und Balkanisierung
  • 3. Ergebnis
  • 3. Abschnitt: Die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb durch die Rechtsprechung
  • I. Entscheidungen des Vierten Senats des BAG vom 27.01.2010 sowie vom 07.07.2010
  • 1. Tarifvertragsgesetz
  • 2. Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
  • 3. Keine Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung auch unter Beachtung der Entstehungsgeschichte des TVG
  • 4. Keine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung
  • 5. Der Grundsatz der Tarifeinheit als nicht gerechtfertigter Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG
  • 6. Ergebnis
  • II. Stellungnahme zu den Entscheidungen des Vierten Senats des BAG vom 27.01.2010 sowie vom 07.07.2010
  • 1. Tarifvertragsgesetz
  • 2. Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
  • 3. Keine Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung auch unter Beachtung der Entstehungsgeschichte des TVG
  • 4. Keine gesetzesübersteigende Rechtsforbildung
  • 5. Der Grundsatz der Tarifeinheit als nicht gerechtfertigter Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG
  • 6. Ergebnis
  • 4. Abschnitt: Lösungsansätze in der Literatur
  • I. Lösungsansätze in der Literatur und deren Würdigung
  • 1. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über die Verlagerung der Tarifeinheit in die Tarifzuständigkeit
  • b) Würdigung
  • 2. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über einen modifizierten Grundsatz der Tarifeinheit
  • b) Würdigung
  • 3. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über eine Anpassung der Laufzeit von Spartentarifverträgen
  • b) Würdigung
  • 4. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über die zeitliche Harmonisierung von Tarifverträgen durch die Gewährung eines Sonderkündigungsrechts des Arbeitgebers
  • b) Würdigung
  • 5. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über die Koordination der Tarifverhandlungen und der Arbeitskampfmaßnahmen
  • b) Würdigung
  • 6. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über die Entwicklung eines Grundsatzes der Tarifeinheit in der Sparte
  • b) Würdigung
  • 7. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über die Höhe des Anteils der organisierten Beschäftigten
  • b) Würdigung
  • 8. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über eine „Streiksperre“ konkurrierender Gewerkschaften bei Verhandlungen des Arbeitgebers mit einer Gewerkschaft
  • b) Würdigung
  • 9. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz über den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Tarifkollision
  • b) Meinungsstreit
  • c) Würdigung
  • 10. Lösungsansatz
  • a) Lösungsansatz in den USA und Großbritannien
  • b) Würdigung
  • 11. Ergebnis
  • 5. Abschnitt: Tarifgemeinschaften als eigener Lösungsansatz
  • I. Koalitionspluralität, Tarifgemeinschaften und Tarifkollisionen unter historischen Gesichtspunkten
  • 1. Gewerkschaftskongresse 1899 sowie 1902 und die Tarifgemeinschaft der Buchdrucker
  • 2. Die Entwicklung des Tarifrechts und der Gesetzgebung
  • a) Tarifvertragsverordnung und Weimarer Verfassung
  • b) Das Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit
  • c) Die Entstehung des Tarifvertragsgesetzes (TVG)
  • 3. Ergebnis
  • II. Begriffsbestimmung
  • 1. Fehlen einer gesetzlichen Regelung der „Tarifgemeinschaft“
  • 2. Abgrenzung der „Tarifgemeinschaften“ zu „Arbeits- und Betriebsgemeinschaften“
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 3. Abgrenzung der „Tarifgemeinschaften“ zu Brentanos „Zwangsorganisationen“ bzw. „Einheitskoalitionen“
  • a) Phänomen
  • aa) Die englischen Gewerkvereine
  • bb) Die Koalitionen in Deutschland
  • cc) Brentanos Gesetzesentwurf
  • b) Würdigung
  • 4. Abgrenzung Tarifgemeinschaft – Spitzenorganisation
  • a) Phänomen
  • b) Tarifgemeinschaftsoffenheit
  • c) Delegation des Rechts zum Tarifabschluss auf die Tarifgemeinschaft
  • d) Würdigung
  • 5. Abgrenzung Tarifgemeinschaft – Verhandlungsgemeinschaft
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 6. Die erste Tarifgemeinschaft – „Tarifgemeinschaft der deutschen Buchdrucker“
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 7. Gemeinsame Einrichtungen als Tarifgemeinschaft
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 8. Bezeichnung des Tarifvertrages als Tarifgemeinschaft
  • a) Phänomen
  • aa) Imle
  • bb) Dymke zum mehrgliedrigen Tarifvertrag
  • cc) Dymke zur Tarifgemeinschaft
  • b) Würdigung
  • 9. Tarifgemeinschaft aufgrund der Rechtssetzungsmacht eines Organs
  • a) Phänomen: „Personen-Tarifgemeinschaften“
  • b) Würdigung
  • c) Phänomen „Verbands-Tarifgemeinschaften“
  • d) Würdigung
  • e) Phänomen: Mischform aus Personen- und Verbandstarifgemeinschaft
  • f) Würdigung
  • 10. Tarifgemeinschaft bei Tariftreue
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 11. Tarifgemeinschaft der Arbeitgeberverbände
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 12. Die Verwendung des Begriffs „Tarifgemeinschaft“ durch das Kaiserliche Statistische Amt
  • a) Phänomen
  • b) Würdigung
  • 13. Ergebnis
  • III. Tarifgemeinschaften in rechtshistorischen Gesetzesentwürfen zum TVG
  • 1. Philipp Lotmar
  • a) Begriff, Voraussetzungen und Bildung von Tarifgemeinschaften
  • b) Rechtswirkung
  • c) Würdigung
  • 2. Sinzheimer
  • a) Begriff, Voraussetzungen und Bildung des „mehrgliedrigen Tarifvertrages“
  • b) Rechtswirkung
  • c) Begriff, Voraussetzungen und Bildung der „Tarifgemeinschaft“
  • d) Rechtswirkung
  • e) Würdigung
  • 3. Ergebnis
  • IV. Tarifgemeinschaften in der heutigen Zeit
  • 1. Definition der „Tarifgemeinschaft“
  • a) Dymke
  • b) Würdigung
  • c) Willers
  • d) Würdigung
  • e) Wendeling-Schröder
  • f) Würdigung
  • g) Löwisch/Rieble
  • h) Würdigung
  • i) Ricken
  • j) Würdigung
  • k) Ergebnis
  • 2. Rechtsnatur der Tarifgemeinschaft
  • 3. Gründungserfordernisse
  • a) Gesellschaftsvertrag
  • b) Satzung der Tarifgemeinschaft
  • 4. Verlust der Tarifzuständigkeit eines Partners der Tarifgemeinschaft
  • a) Ricken
  • b) Ulber
  • c) Ergebnis
  • V. Tarifgemeinschaften als Lösungsansatz für ein funktionierendes Tarifsystem im Rahmen von Tarifkollisionen
  • 6. Abschnitt: Ergebnisse und Folgerungen
  • I. Ergebnisse
  • II. Folgerungen
  • 1. Anerkennung der Tarifgemeinschaften als Lösungsansatz für die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch die Rechtsprechung
  • 2. Bildung von Tarifgemeinschaften in multilateralen Tarifvertragssystemen
  • Literaturverzeichnis

← 14 | 15 → 1. Abschnitt: Problemstellung, Aufgabenstellung und eigener Ansatz

I.    Problemstellung

1.   Eingrenzung der tarifrechtlichen Problemstellung

Kann die Kumulation von Freiheit oder von mehreren Grundrechtsträgern zu Einschränkungen führen? In der aktuellen Vergangenheit ist es im Tarifrecht dazu gekommen, dass mehrere Gruppen und Individuen sich auf ihre verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten berufen und diese in Anspruch genommen haben, obwohl das Ergebnis ihrer Freiheitsbetätigung nicht immer Wirksamkeit entfaltete. Konkret ist damit folgendes gemeint: Neuerdings nehmen sog. „Spartengewerkschaften“ in der Regel ohne Koordination mit den anderen betroffenen Gewerkschaften die aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz1 folgenden Autonomien für sich in Anspruch, die im Laufe dieser Arbeit noch dargestellt werden. Der Begriff der „Spartengewerkschaften“ ist weder in der jüngeren Rechtsprechung noch in der Literatur definiert. Als „Spartengewerkschaften“ werden all diejenigen Gewerkschaften bezeichnet, die Interessen bestimmter Berufsgruppen vertreten und dabei eigenständige Tarifverträge für Angehörige dieser Berufsgruppen erstreben.2 Es geht um die Konkurrenz von Branchengewerkschaften und Berufsgruppengewerkschaften in einem Betrieb. Im Ergebnis werden partikulare Interessen bestimmter Berufsgruppen auf der Grundlage von Spartengewerkschaften an die Koalitionstätigkeit nach Art. 9 Abs. 3 GG herangetragen. Der Grundsatz der Tarifinheit im Betriebwar hierfür bisher der Lösungsansatz, er ist aber auch seit geraumer Zeit ein Problemfeld. Im Zusammenhang mit ihm setzten in jüngster Zeit immer häufiger Tarifkonflikte von SpartengewerkschaftenAkzente. Der Grundsatz der Tarifeinheit wurde bereits Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Rechtsprechung entwickelt und besagt, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag bzw. ein Tarifwerk normativ gelten kann.3 Dies bedeutet zum einen, dass für das einzelne Arbeitsverhältnis nur die Regelungen eines Tarifwerkes derselben ← 15 | 16 → Tarifvertragsparteien gelten dürfen (Fälle der sog. „Tarifkonkurrenz4“). Zum anderen muss im Betrieb die Tarifanwendung einheitlich erfolgen (Fälle der sog. „Tarifpluralität“5). Welcher Tarifvertrag bzw. welches Tarifwerk bei einer Tarifkollision im Betrieb anzuwenden war, wurde bisher nach dem sog. „Grundsatz der Spezialität“ beurteilt. Nach diesem Grundsatz ist der Tarif vorrangig anwendbar, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht.6 Der unterlegene andere Tarifvertrag bzw. die unterlegenen anderen Tarifverträge wurden nicht wirksam. Dabei gehen doch die Rechtsprechung und die Wissenschaft von einer Tarifautonomie aus. Die Tarifautonomie ist nach allgemeiner Auffassung ein zentraler Bestandteil der verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit. Sie impliziert als Ausdruck dieses Freiheitsrechts die Befugnis aller tarifzuständigen und tariffähigen Koalitionen, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen grundsätzlich in Eigenverantwortung und ohne staatliche Einflussnahme durch den Abschluss von Tarifverträgen zu gestalten. Auch die Rolle des Staates wird besonders gesehen: Der Staat ist aufgrund der Koalitionsfreiheit dazu verpflichtet, ein „funktionsfähiges Tarifsystem“ bereitzustellen.7 Dieser Pflicht ist die Legislative grundsätzlich mit der Schaffung eines Tarifvertragsgesetzes nachgekommen. Auf die Rahmenbedingungen, Funktionsvoraussetzungen und Systemakteure des Tarifssystems wird an späterer Stelle noch eingegangen. Durch die Judikative wird das Tarifrecht weiterentwickelt und an neue Gegebenheiten und Anforderungen angepasst. Als einen Leitgedanken hat sie dabei die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu beachten, die ebenfalls noch skizziert wird.8 Die Tarifauseinandersetzungen der letzten Jahre haben deutlich gemacht, dass das Tarifsystem nach wie vor zwar funktioniert, aber besonderen Anforderungen ausgesetzt ist. Permanent wird von der Rechtswissenschaft, der Politik, der Rechtsprechung, der Literatur und den Koalitionen über das Tarifsystem diskutiert. Themen wie „Erosion des Flächentarifvertrages durch ← 16 | 17 → Rückgang des Organisationsgrades“, „Flexibilisierung der Flächentarifverträge“, „ OT-Mitgliedschaft“ und „Betriebliche Bündnisse für Arbeit“ stehen immer wieder in ihrem Fokus und werden insbesondere unter tarifrechtlichen und tarifpolitischen Aspekten kontrovers debattiert. Auch die Tarifpolitik muss mehr als jemals zuvor den ständigen Strukturwandel flankieren, der neuerdings durch das Aufkommen von Spartengewerkschaften und vor allem durch die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb durch die Rechtsprechung verschärft wird. Es ist aufgrund dessen mit der Koalitions-, insbesondere Gewerkschaftspluralitäten und mit daraus entstehenden Tarifkollisionen unter organisatorischen, prozeduralen und rechtlichen Gesichtspunkten umzugehen. Dabei ist die Gewährleistung des Freiheitsrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG zunächst darzustellen. Ziel sollte es sein, dass die Rechtspositionen aller beteiligten Grundrechtsträger nach Art. 9 Abs. 3 GG durch die Koalitionen selbst soweit als möglich optimiert werden. Dies ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Grundrechtsoptimierung im Rahmen von Koalitionspluralitäten bekannt.9 In der vorliegenden Arbeit sollen unter Beachtung der vorgenannten Aspekte Tarifgemeinschaften als ein Lösungsansatz für das Problem der Tarifkollisionen dargestellt werden. Dies findet statt vor dem Hintergrund der funktionierenden Tarifautonomie und der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems. Dabei ist wichtig, dass die Unterscheidung zwischen Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und Funktionsfähigkeit des Tarifsystems in der Analyse immer aufrecht erhalten wird. Die Arbeit wird zeigen, dass diese beiden Gesichtspunkte bei der Auflösung von Tarifkollisionen auf der einen Seite voneinander abhängen und aufeinander bezogen sind, aber auch kontrastiert werden können. Denn die Frage, wie mit den neuen Rahmenbedingungen aus tariflicher Sicht umzugehen ist, hat zu einer umfangreichen Debatte und zu einer Vielzahl an Strategien und Lösungsansätzen geführt, die an späterer Stelle exemplarisch dargestellt und gewürdigt werden. In dieser Gemengelage befinden sich nicht nur die Rechtsprechung, sondern vor allem auch die Tarifpartner als Urheber der Flächentarifverträge. Ihre Aufgabe ist es, die unterschiedlichen Interessen und Anforderungen an ein modernes Tarifrecht und einen innovativen Flächentarifvertrag wahrzunehmen und unter der Prämisse von Demokratie, Selbstbestimmung und Mitbestimmung wirksam werden zu lassen. Der Einzelne, der sich aufgrund seines freien Entschlusses und damit in Ausübung seiner individuellen positiven Koalitionsfreiheit zu einer ← 17 | 18 → Verbandsmitgliedschaft entschieden hat („Selbstbestimmung10“), wird aufgrund gleichberechtigter Willensbildung („Demokratie11“) in den Prozess einer tariflichen Weiterentwicklung des Systems „Flächentarifvertrag“ eingebunden („Mitbestimmung12“). „Mitbestimmung“ bezieht sich dabei auf das Verhältnis zwischen Individuum und Koalition, also zwischen Mitglied und Tarifvertragspartei und meint nicht etwa die Mitbestimmung des Betriebs-, Personal- oder Aufsichtsrates. Durch die Verbandsmitgliedschaft hat sich das Individuum, also der einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, dazu entschlossen, Tatbestände, die von ihm eigentlich aufgrund seiner Privatautonomie individuell mit dem Vertragspartner verhandelt und geregelt werden könnten, von einem Kollektiv einheitlich und verbindlich regeln zu lassen. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass für alle tarifgebundenen Mitglieder derselben Branche dieselben Regelungen bzw. Mindestarbeitsbedingungen des (Flächen-)Tarifvertrages gelten. Außerdem kommt es zu einer Verlagerung von Konflikten z. B. in Bezug auf Entgelterhöhungen aus den Betrieben auf die Ebene der Tarifpartner. Dadurch werden regelmäßig wiederkehrende Verteilungskonflikte durch die Tarifvertragsparteien gelöst und aus den Unternehmen herausgehalten. Diese überbetriebliche Tarifpolitik wirkt friedensstiftend und schließlich auch friedenserhaltend. Sie fördert auch die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, da die jeweiligen Mindestarbeitsbedingungen nicht mehr individuell verhandelt werden müssen. Rechts- und Planungssicherheit sowohl für die Arbeitnehmer- als auch für die Arbeitgeberseite während der Laufzeit der Tarifverträge sind ein weiterer Vorteil des Flächentarifvertrages. Durch vielfach vereinbarte tarifliche Öffnungsklauseln und Flexibilisierungsinstrumente haben schließlich die Betriebsparteien die Möglichkeit, in Ergänzung oder anstelle der tariflichen Normen betriebsindividuelle Regelungen zu vereinbaren. Der Flächentarifvertrag hat demnach sowohl für die Betriebs- als auch für die Arbeitsvertragsparteien Vorteile. Die Stärkung des Flächentarifvertrages ist daher als Ergebnis ebenfalls durch die vorliegende Arbeit beweckt. An dieser Zwecksetzung ändert auch die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts nichts, dass der Flächentarifvertrag nicht nur Ausdruck eines Freiheitsrechts ist, sondern zugleich eine Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens bezweckt.13 Deutlich wird daraus nur folgendes: Freiheitsgebrauch und Freiheitskumulation sind auf Koordination und Prozeduralisierung zu beziehen. Dabei ← 18 | 19 → wird die individuelle Privatautonomie bewusst nur noch unter den Gesichtspunkten „Demokratie“ und „Mitbestimmung“ im Kollektiv ausgeübt oder aber im Rahmen des sog. „Günstigkeitsprinzips14“ nach § 4 Abs. 3 TVG. Anders ausgedrückt: Die individuelle Privatautonomie wandelt sich in eine kollektiv ausgeübte individuelle Privatautonomie.15 Die frühzeitige prozedurale Beteiligung des Individuums in Gremienarbeit am Entstehen und der Weiterentwicklung eines (Flächen-)Tarifvertrages ist unter den vorgenannten Gesichtspunkten richtungsweisend. Sie bringt kollektive und individuelle Autonomien in Gleichklang. Denn die Tarifvertragsparteien schließen Tarifverträge nicht zum Selbstzweck, sondern für ihre Mitglieder ab. Der (Flächen-)Tarifvertrag muss deshalb die differenzierten und vielseitigen Interessen aller Mitglieder der vertragsschließenden Koalitionen repräsentieren. Dies geschieht grundsätzlich durch eine enge Einbindung der Mitglieder in das Entstehen der tarifrechtlichen Normsetzung sowie eine permanente Rückkoppelung mit den Gremien, insbesondere in den jeweiligen Tarifkommissionen der tarifschließenden Arbeigeberverbände und Gewerkschaften. Den Gedanken der innerverbandlichen Solidarität findet man schon zu den Entstehungsbedingungen des Tarifvertrages bei den Ausführungen zur ersten Tarifgemeinschaft der Buchdrucker, die 1888 den ersten Tarifvertrag durch die Tarifkommission abschlossen.16 Auf diese Tarifgemeinschaft wird an späterer Stelle nochmals eingegangen. Der Flächentarifvertrag wird in Ausübung der individuellen Koalitionsfreiheit im Tarifsystem verankert. Dies erhöht im Gegensatz zu der reinen Inbezugnahme eines Tarifvertrages durch nicht verbands- und/oder tarifgebundene Unternehmen zum einen die innerverbandliche Solidarität der Koalitionsmitglieder. Zum anderen wird durch diesen Bezug zu der individuellen Koalitionsfreiheit die Legitimationswirkung des Flächentarifvertrages gegenüber seinen Mitgliedern begründet, das heißt die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen im Verhältnis der Tarifgebundenen zueinander. In einem Flächentarifvertrag, der als Branchentarifvertrag eine gesamte Branche betrifft, müssen sich jedoch alle vom Geltungsbereich erfassten Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit ihren spezifischen Interessen ausreichend repräsentiert fühlen, damit er an ← 19 | 20 → Akzeptanz gewinnt und behält. Gleichzeitig muss er für alle einheitliche Rahmenbedingungen setzen. Der Flächentarifvertrag ist dabei stets in ein ganzes Tarifwerk bestehend aus einer Vielzahl von einzelnen Flächentarifverträgen eingebunden (Manteltarifverträge, Entgelttarifverträge, usw.), die stetig komplexer werden. Das Tarifwerk ist durch die Tarifpartner verhandelt und die Tarifregelungen sind aufeinander abgestimmt. Dadurch entsteht eine Balance zwischen den branchenspezifischen Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, die flächendeckend geregelt werden. Die Stärkung des Flächentarifvertrages hat die Stärkung des gesamten Tarifwerkes zur Folge. Dadurch werden die tarifschließenden Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie die ihnen angehörenden Mitglieder ihrerseits in ihrem Bestand und ihrer Betätigung gestärkt. Sind die Freiheitsrechte gewahrt und von ist von ihnen Gebrauch gemacht worden, gab es bisher eine Einschränkung durch den Grundsatz der Tarifeinheit. Durch ihn wurde diese Balance eines Tarifwerkes aufgegriffen und auf Betriebe übertragen, in denen nur ein Tarifwerk gelten sollte. Diese „rechtliche Tarifeinheit“ wurde bisher durch die Rechtsprechung gewährleistet. Deutlich wurde daran, dass die Kumulation von Freiheitsrechten zur Herstellung einer Koordination von Tarifwirkungen durch ein einschränkendes Kriterium mit behandelt wurde. Gestützt wurde dies durch das sog. „Industrieverbandsprinzip“ („Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“). Auf seine rechtliche Festschreibung wurde zwar ausdrücklich verzichtet.17 Einen Rechtsgrundsatz, nach welchem einzelne Betriebe nur von der Tarifzuständigkeit einer einzelnen Gewerkschaft erfasst werden dürfen, gibt es nicht.18 Vielmehr ist das Industrieverbandsprinzip eine ordnungspolitische Richtschnur.19 Jedoch ist auch das Industrieverbandsprinzip vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG erfasst.20 Es hatte insbesondere während der Weimarer Republik an Bedeutung gewonnen. Die Gegensätze von Beruf und Betrieb verschärften sich, der Fachtarif verlor gegenüber dem Industrietarif zunehmend an Gewicht. Hintergrund war die Konzentration der Produktion in Großbetrieben, durch welche die Berufsverbände gegenüber den Industrieorganisationen benachteiligt wurden. Die Gewerkschaften mussten, um gegenüber großen Industrieeinheiten schlagkräftige Organisationen zu sein, möglichst alle Arbeitnehmer eines Betriebes einheitlich erfassen. Das Industrieverbandsprinzip etablierte sich und die Industrietarifverträge verdrängten ← 20 | 21 → die Fachtarifverträge.21 Dies bedeutet nicht, dass es in der Folgezeit nur „Einheitsgewerkschaften“ gab und keinerlei Pluralismus. Vielmehr wurde die Pluralismusfrage im Verhältnis der einzelnen Industriegewerkschaften zueinander gewerkschaftsintern gelöst, wie z. B. innerhalb der DGB-Gewerkschaften.22 Es bestand und besteht ein „Binnenpluralismus“23, der intern durch Zuständigkeitsregelungen gelöst wurde und extern als „Gewerkschaftseinheit“ in Erscheinung trat. Möglich war und ist dies, weil den Gewerkschaften die volle Organisationsautonomie zukommt.24 Der Binnenpluralismus ist dabei nicht gleichzusetzen mit einem Gewerkschaftsmonopol.25 Neuerdings scheren jedoch die Spartengewerkschaften aus diesem System aus. Dabei ist folgende Wechselwirkung zu beachten: Wenn die Mitglieder einer Koalition ausreichend repräsentiert werden, sind ihre Interessen im Rahmen eines Flächen- bzw. Branchentarifvertrages gewahrt. Es herrscht „faktisch Tarifeinheit“, weil es nicht oder nur vereinzelt zu Aus- und/oder Übertritten von Mitgliedern in andere, teilweise neu gegründete Koalitionen oder in Bezug auf die Arbeitgeber in Verbände oder Verbandsbereiche ohne Tarifbindung kommt. Ist dies nicht der Fall, kommt es möglicherweise nicht nur zur Artikulation von Partikularinteressen innerhalb einer bereits bestehenden Koalition, sondern zur Artikulation von spezifischen Interessen außerhalb der bestehenden Koalitionen. Das heißt durch die Bildung von neuen Koalitionen, die Berufsgruppen organisieren. Es besteht dann die Gefahr der Durchbrechung einheitlicher Tarifstrukturen und der Beeinträchtigung der Flächentarifverträge. Tariffähige Koalitionen und die von ihnen verhandelten und vereinbarten (Flächen-)Tarifverträge gehören aber untrennbar zusammen. Jedenfalls mittel- bis langfristig ist zu befürchten, dass organisatorische und/oder prozedurale Probleme zu rechtlichen Problemen bei der Wirkungsweise von Tarifregelungen führen, wenn nicht rechtzeitig geeignete Lösungsansätze gefunden werden. Fraglich ist dabei aber, ob man diese Kumulation von Freiheitsrechten lediglich unter Bezugnahme auf einen nicht näher definierten Topos26 wie die „Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems“ auflösen kann. Obwohl sie nicht näher definiert ist, wird sie vielerorts zur Diskussionsgrundlage und zum Argumentationsgerüst für die Auflösung von ← 21 | 22 → Koalitionspluralitäten und daraus entstehender Tarifkollisionen gemacht.27 Die so verstandene Funktionsfähigkeit des Tarifsystems wird dabei als gegebener Grundsatz vorausgesetzt. Dies macht deutlich, dass eine Lösungsfindung für das Phänomen der Tarifkollisionen dieses Kriterium nicht ignorieren kann, wobei es allerdings für diese Arbeit operationalisierbar hergeleitet, ausgestaltet und eingesetzt werden soll. Dafür ist zunächst eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Rahmenbedingungen und Systemakteuren des „Tarifvertrags- bzw. Tarifsystems“ erforderlich. Gleichzeitig muss es zur Beurteilung der „Funktionsfähigkeit“ kommen. Ziel ist es vorliegend, zwischen dem Tarifsystem und seiner Funktionsfähigkeit nicht nur einen Zusammenhang herzustellen, sondern zusätzlich um die Thematik der wechselseitigen Grundrechtsoptimierung anzureichern und damit eine neue Perspektive darauf zu ermöglichen. Dabei wird angenommen, dass ein Lösungsvorschlag, der Koalitionspluralitäten im Rahmen eines Tarifsystems aufnehmen und auflösen möchte, jedenfalls dann zu dessen Funktionsfähigkeit beiträgt, wenn alle betroffenen Akteure im System verbleiben, sich freiheitlich betätigen und die Ergebnisse ihres Freiheitsgebrauchs auch wirksam werden. Konkret heißt das: Wenn Spartengewerkschaften aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantien am Tarifgeschehen teilhaben wollen und können, müssen sie dies unter Beachtung der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems tun. Sind sie dazu nicht in der Lage und gefährden damit möglicherweise das funktionierende Gesamtsystem, muss ihre koalitionsspezifische Grundrechtsbetätigung derart ausgestaltet werden, dass die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems gestärkt wird. Wenn beispielsweise die Arbeitgeberseite zu befürchten hat, trotz Abschluss eines Tarifvertrages bzw. Tarifwerkes weiterhin und dauerhaft mit Forderungen der Arbeitnehmerseite zu einem identischen Gegenstand und im Extremfall mit Dauerarbeitskämpfen durch Spartenstreiks28 konfrontiert zu sein, kann dies ein Anhaltspunkt dafür sein, dass ein Teil der Akteure die bisher angenommene Funktionsfähigkeit des Tarifsystems nicht mehr klar erkennen kann. Entwicklungen in der Tariflandschaft, wie vorliegend die Spartengewerkschaften, müssen sich daher stets auch an der Funktionsfähigkeit messen lassen. Unter Beachtung dieses Ansatzes soll aufgezeigt werden, dass Grundrechtsgebrauch durch prozedurale Koordination optimiert und systemkonform ausgestaltet werden kann. Das Vorteilhafte am Abschluss eines Tarifvertrages wird von Seiten der Mitglieder der ← 22 | 23 → Koalitionen vor allem darin gesehen, Planungssicherheit für die vereinbarte Laufzeit zu haben. In dieser Zeit ist das Unternehmen in Bezug auf die geregelten bzw. implizit nicht geregelten Sachverhalte des Tarifvertrages keinen Nachforderungen von der Arbeitnehmerseite ausgesetzt. Ist diese jedoch gefährdet, weil die Rechtsordnung permanente Tarifverhandlungen und Streikandrohungen unterschiedlicher Gewerkschaften zulässt, entfällt nicht nur der Anreiz und der Vorteil des Tarifvertrages, sondern darüber hinaus sind auch der geordnete Betriebsablauf und der Betriebsfrieden betroffen.29 Außerdem wird die gemäß Art. 12 GG geschützte unternehmerische Entscheidungsfindung zumindest beeinträchtigt. Neben dem Grundsatz der Tarifeinheit war wie bereits erwähnt auch das Industrieverbandsprinzip lange Zeit eine wichtige Säule für ein funktionierendes Tarifvertragssystem. Die Tarifvertragsparteien waren eingespielte Verhandlungspartner, die Zuständigkeiten waren festgelegt und vertraut, der Tarifvertragsabschluss folgte gewissen Riten. Unterstützt wurde dies durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in Bezug auf die Tariffähigkeit einzelner Koalitionen. Diese mussten über eine gewisse Mitgliederstärke verfügen, um in der Lage zu sein, gültige Tarifverträge abzuschließen. Dabei ist es jedoch nicht geblieben. Neue Klein- und Kleinstgewerkschaften treten auf und fordern ihre Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG ein. Das Industrieverbandsprinzip, die Zuständigkeiten und die Verhandlungs- und Abschlussriten kommen unter diesen pluralistischen Gesichtspunkten ins Wanken. Diese Rahmenbedingungen sind ein weiterer Ansatzpunkt der vorliegend bearbeiteten Problemstellung. Auch die Rechtsprechung steht vor dieser neuen Herausforderung. Es hatte sich nämlich in den letzten Jahren ein System entwickelt, das aus einem normativen Gerüst, einer Auslegung durch die Rechtsprechung unter anderem durch den Grundsatz der Tarifeinheit und seiner Anwendung durch die Tarifpartner unter der Maxime der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems bestand. Ausgangspunkt war das traditionalistische Argument beim Bundesverfassungsgericht, dass man anders als zu Zeiten vor der Weimarer Verfassung Koalitionen und ihre Tätigkeit garantiert wollte, wenngleich auch die konkrete Ausgestaltung ihres Gebrauchs noch uneinheitlich war.30 Die Weimarer Republik war die Geburtsstätte des deutschen kollektiven Arbeitsrechts, worauf im Laufe der Arbeit noch genauer eingegangen wird. Dies führte dazu, dass auch die Koalitionen in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG einbezogen und ihnen ← 23 | 24 → Beteiligungsrechte gewährt wurden. Eine erste Zäsur fand allerdings statt, als das Bundesarbeitsgericht31 seine Rechtssprechung zur Tariffähigkeit von Koalitionen auch auf kleinere Gewerkschaften mit geringer Mitgliederzahl ausdehnte. Ausgangspunkt für die Beurteilung der sozialen Mächtigkeit als eine Voraussetzung für die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft war lange Zeit die Mitgliederzahl.32 Nunmehr sollten aber auch Spezialistengewerkschaften mit wenigen Mitgliedern tariffähig sein33 und die Autonomien aus Art. 9 Abs. 3 GG für sich in Anspruch nehmen können. Denn die Fähigkeit zur Druckausübung kann auch bei geringer Mitgliederanzahl vorliegen, insbesondere, wenn es sich in nennenswertem Umfang um Spezialisten in Schlüsselstellung handelt, die von der Arbeitgeberseite im Falle eines Arbeitskampfes kurzfristig überhaupt nicht oder nur sehr schwer ersetzt werden können.34 Die Koalitionsfreiheiten standen damit nicht nur den großen und etablierten Koalitionen zu, sondern auch den kleinen und aufstrebenden. War die Entstehung von Kollisionen damit vorprogrammiert? In Wahrheit konnten die Arbeitgeber auch schon vor der Entwicklung von Klein- und Kleinstgewerkschaften an mehrere Tarifverträge gebunden sein und es konnte aufgrund dessen zu Pluralismusproblemen kommen. Der historische Gesetzgeber hatte das Problem gesehen, es aber als „Randerscheinung“ beurteilt und aufgrund des vorherrschenden Industrieverbandsprinzips von einer einfachgesetzlichen Regelung zur Auflösung der Kollision Abstand genommen. Vielmehr sollte es vornehmlich die Aufgabe der Tarifpartner sein, durch die innerverbandliche Mitbestimmung in enger Abstimmung mit den Mitgliedern geeignete Lösungsmodelle zu finden. Darüber hinaus sah die Legislative die Judikative in der Pflicht, zur Auflösung dieser Thematik beizutragen und geeignete Ordnungsfaktoren im Sinne eines funktionierenden Tarifsystems zu finden. Und dies tat das Bundesarbeitsgericht. Es entwickelte den Grundsatz der Tarifeinheit, nach welchem in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag, nämlich der speziellere, Anwendung fand. Die Entstehungsgeschichte des Grundsatzes der Tarifeinheit sowie seine historische, rechtliche und tarifpolitische Begründung bilden daher einen weiteren notwendigen Schwerpunkt ← 24 | 25 → dieser Arbeit. Diese Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit wurde allerdings erheblich kritisiert, was die nachfolgend im Überblick dargestellte Diskussion verdeutlicht: Nach der überwiegenden Meinung in der Literatur sollte der Grundsatz der Tarifeinheit zwar in Fällen der Tarifkonkurrenz uneingeschränkt angewendet werden können.35 In Bezug auf eine Tarifpluralität war er allerdings schwerwiegenden Angriffen ausgesetzt.36 Begründet wurde die Kritik unter anderem damit, dass Art. 9 Abs. 3 GG keine Einheitsgewerkschaft vorsähe, sondern für jedermann gelte und daher sowohl eine Gewerkschafts- als auch eine Tarifvielfalt vorgesehen sei. Von den Kritikern wurde zudem bezweifelt, dass durch die Entwicklung des Grundsatzes der Tarifeinheit und damit durch die ergänzende Auslegung des TVG eine Rechtsklarheit und Rechtssicherheit erreicht werden würde. Denn die Bestimmung des spezielleren Tarifvertrages sei nicht unproblematisch und nicht stets eindeutig möglich.37Den Regelungen der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG sei vielmehr, bei Fehlen einer anderweitigen, den Grundsatz der Tarifeinheit anordnenden Regelung, zu entnehmen, dass Tarifpluralität im Betrieb vom Gesetzgeber gewollt, zumindest jedoch hinzunehmen sei.38 Auch seien Rechtsprinzipien wie der Grundsatz der Tarifeinheit lediglich Mittel der Auslegung und Lückenfüllung, die eine Rechtsfortbildung rechtfertigen können, die aber keine eigenständigen Rechtsnormen seien, die dem geschriebenen Recht vorgehen.39 Zudem könne angesichts der flächendeckenden Einführung der elektronischen Datenverarbeitung der Grundsatz der Tarifeinheit auch nicht mehr mit den praktischen Schwierigkeit und deren Kosten bei der Verwaltung unterschiedlicher Entgeltabrechnungen im Betrieb argumentiert werden.40 Die kritische Literatur verwies schließlich darauf, dass der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb auch vom BAG nicht in allen Fallgestaltungen konsequent angewendet werden würde. Schließlich vertrete die höchstrichterliche Rechtsprechung die Auffassung, dass im Falle eines Betriebsübergangs nach § 613 a BGB die Tarifverträge des Veräußerers durch diejenigen ← 25 | 26 → des Erwerbers nur dann abgelöst werden, wenn „beidseitige Tarifbindung vorliegt“. Das heißt, sowohl der Veräußerer als auch der Erwerber müssten einen Tarifvertrag mit der Gewerkschaft geschlossen haben, deren Mitglieder die vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer seien.41 Auch dann, wenn ein Arbeitgeber während der Nachwirkung des vorherigen Tarifvertrages gemäß § 4 Abs. 5 TVG einen Tarifvertrag mit einer anderen Gewerkschaft abschließe, solle dies nicht zur Geltung des „neuen“ Tarifvertrages bei einem Arbeitnehmer führen, dessen Gewerkschaft den nachwirkenden Tarifvertrag abgeschlossen habe.42 In beiden Fällen akzeptiere das BAG im Ergebnis die Geltung und Anwendung verschiedener Tarifverträge in einem Betrieb. Also genau das, was durch den Grundsatz der Tarifeinheit verhindert werden solle. Wenn das BAG dies aber schon für den Nachwirkungszeitraum so sähe, könne der Grundsatz der Tarifeinheit während der „Normallaufzeit“ eines Tarifvertrages erst recht nicht dessen Verdrängung bewirken.43 Unter Vernachlässigung weiterer Einzelheiten, die an späterer Stelle ausführlich dargestellt werden, kann zusammenfassend gesagt werden, dass dem BAG bis dato ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer vorgeworfen wurde, deren Tarifvertrag durch das Spezialitätsprinzip zugunsten eines anderen, im Betrieb einheitlich anzuwendenden Tarifvertrages bzw. Tarifwerkes verdrängt wurde. Im Ergebnis sind erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken44 bis hin zur Verfassungswidrigkeit geäußert worden.45 Gleichzeitig wurden diverse Lösungsmöglichkeiten sowohl durch die Kritiker des Grundsatzes der Tarifeinheit als auch durch dessen Befürworter entwickelt, von denen einige an späterer Stelle dargelegt und gewürdigt werden sollen. Nahezu allen Vorschlägen ist gemeinsam, dass Koalitionspluralismus mit einem funktionierenden Tarifvertragssystem in Einklang gebracht werden soll. Die Lösungsansätze reichen von prozeduralen Reformvorschlägen unter Beibehaltung des Grundsatzes der Tarifeinheit bis hin zu materiell-rechtlichen Regelung bei Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit. Teilweise werden prozedurale Reformvorschläge auch mit materiell-rechtlichen kombiniert. Konkret soll der Grundsatz der Tarifeinheit modifiziert oder beispielsweise auf den Spartentarifvertrag als den spezielleren Tarifvertrag bezogen ← 26 | 27 → werden. Auch über die Anpassung der Laufzeiten von Spartentarifverträgen, die zeitliche Harmonisierung von Tarifverträgen oder die Koordination von Tarifverhandlung und Arbeitskampfmaßnahmen soll ein funktionierendes Tarifsystem gesichert werden. In der Arbeit wird aufgezeigt, dass ein Teil der bisherigen Lösungsansätze zur Auflösung von Tarifkollisionen im Ergebnis die bisher von der Rechtsprechung angenommene Lösung zur Tarifeinheit wieder herstellen wollten. Dies wird im Verlauf der Arbeit deutlich zu machen sein. Hromadka schlägt schließlich als einer der ersten eine gesetzliche Regelung der Tarifkollisionen anhand eines konkreten Gesetzesentwurfs vor, der noch darzustellen sein wird.46 Das BAG hat zwischenzeitlich die Sichtweise der Kritiker des Grundsatzes der Tarifeinheit erstmals in der Entscheidung des Vierten Senats vom 27. Januar 2010 aufgenommen.47 Die Situation spitzt sich damit zunehmend zu: Der Senat hat in seinem vorgenannten Beschluss angekündigt, dass der Grundsatz der Tarifeinheit in Fällen der Tarifpluralität in Zukunft nicht mehr der Rechtsprechung des für Tarifsachen zuständigen Vierten Senats entsprechen wird und dies nunmehr auch so entschieden.48 Dieser Auffassung hat sich der Zehnte Senat in seinem Beschluss vom 23.06.2010 angeschlossen.49 Der Vierte Senat des BAG wird in seiner Entscheidung grundsätzlich. Ausgangspunkt ist § 3 Abs. 1 TVG. Im Falle einer unmittelbaren Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG soll die Auflösung einer Tarifpluralität zukünftig nicht mehr nach dem Grundsatz der Tarifeinheit zugunsten des spezielleren Tarifvertrages erfolgen. Das Tarifvertragsgesetz ordnet in §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG die unmittelbare und zwingende Wirkung der Normen eines Tarifvertrages im Arbeitsverhältnis der beiderseits Tarifgebundenen an. Die Möglichkeit, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 1 TGV an unterschiedliche Tarifverträge gebunden sein können, hindert diese gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolgen nicht. Darüber hinaus führt der Senat aus, dass die Verdrängung eines Tarifvertrages mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar ist. Tarifverträge von tariffähigen Koalitionen, die im Rahmen ihrer Tarifzuständigkeit geschlossen werden, entfalten für die beiderseits Tarifgebundenen unmittelbare und zwingende Wirkung. Diese gesetzlich angeordnete Wirkungsweise der Tarifverträge wird legitimiert durch die freie Entscheidung der Arbeitsvertragsparteien, Mitglied einer Koalition zu werden. Dadurch haben sowohl die Tarifvertragsparteien als auch die Arbeitsvertragsparteien ← 27 | 28 → ihr Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG wahrgenommen und Regelungen zu bestimmten Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Unter diesen Gesichtspunkten und zur Sicherung der Tarifeinheit sowie im Interesse der Tarifautonomie angesichts dieser aktuellsten Rechtsprechungsentwicklung forderten die Spitzen der betroffenen Koalitionen, namentlich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund mit einer gemeinsamen Initiative, die Tarifeinheit gesetzlich zu regeln und dadurch die Tarifautonomie zu sichern.50 Es bleibt abzuwarten, ob und wenn ja wie der Gesetzgeber diese Initiative zum Anlass nehmen wird, die Tarifeinheit einer gesetzlichen Normierung zuzuführen. Diese spezielle Problematik des Umgangs mit Tarifkollisionen trifft zusätzlich noch auf ein Legitimationsproblem des Tarifvertrages und seiner Wirkungsweise in allgemeiner Hinsicht. Der Flächentarifvertrag soll nach Ansicht einiger Autoren nach wie vor in der Krise stecken.51 Der Ruf nach einer Veränderung der Funktionsweise des Flächentarifvertrages laut wird. Die Fallgruppen unterscheiden sich jedoch durch eine entscheidende Besonderheit: Wenn es bis dato stets um die Perspektive auf ein Tarifwerk oder die Parteien eines Tarifwerkes ging und die Lösung durch Absicherung dieses Tarifwerkes oder seiner Parteien gefunden wurde, zwingt das Aufstreben der Sparten- und Spezialistengewerkschaften und deren Absicherung durch die Rechtsprechung zunehmend zu einer pluralistischen Betrachtungsweise. Tatsächlich finden wir aktuell eine veränderte Gewerkschaftslandschaft52 vor und es wird eine ergänzende Perspektive auf das Tarifvertragssystem notwendig. Nunmehr geht es nicht allein um die Absicherung eines Tarifwerkes, sondern es sollen plurale Tarifwerke zur Geltung kommen. Dies zwingt gegebenenfalls zur Neubewertung des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifkollisionen.53 Zeitgleich stehen die Unternehmen im nationalen und internationalen Vergleich vor den Herausforderungen der zunehmenden Globalisierung, ← 28 | 29 → dem Wandel der Gesellschaft sowie einem allgemeinen Fachkräftemangel. Die Aufgabe der Tarifpolitik besteht nicht nur darin, die nationalen Tarifverträge an die notwendigen Rahmenbedingungen der voranschreitenden Globalisierung und der sich ändernden Gesellschaft anzupassen, sondern künftige Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und daraus abgeleitet die notwendigen Veränderungen der tariflichen Rahmenbedingungen umzusetzen54. Grundlage hierfür ist die Koalitionsfreiheit, die im Laufe der Arbeit kontrastiert werden wird. Der deutsche Verfassungsgeber hat sie im Ausgangspunkt in Art. 9 Abs. 3 GG vom 23. Mai 1949, zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 28.08.2006, textlich wie folgt normiert:

 

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12 a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87 a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“55

Art. 9 Abs. 3 GG ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht56 und schützt seinem Wortlaut nach zunächst das Recht für jedermann, also für das Individuum, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und ist damit individualistisch ausgestaltet. „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ sind alle rechtlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, an denen der Unternehmer als Arbeitgeber beteiligt ist57. Dieses Begriffspaar kennzeichnet in seiner Kombination eine funktionale Einheit58. „Arbeitsbedingungen“ betreffen dabei das Arbeitsverhältnis selbst, also Themen wie Entgelt, Arbeitszeit, Urlaub, Arbeitsschutz und dergleichen mehr. „Wirtschaftsbedingungen“ beinhalten darüber hinaus Aspekte wirtschafts- und sozialpolitischer Art, wie zum Beispiel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das heißt Arbeitsmark- bzw. Beschäftigungspolitik59, die Einführung neuer Techniken und die Vermögensbildung.60 Daher ist ein Konsumverein ← 29 | 30 → beispielsweise keine Gewerkschaft und ein Kartell- oder Wirtschaftsverband kein Arbeitgeberverband.61 Eine ausdrückliche Garantie der von den Koalitionen abgeschlossenen Kollektivvereinbarungen und damit der Tarifautonomie, wie dies durch Art. 165 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Deutschen Reiches, sog. „Weimarer Verfassung“62, ausdrücklich gewährleistet war, ist der Norm aber nicht zu entnehmen63. Aus der strengen Wortlautauslegung könnte daher der Schluss gezogen werden, es handle sich bei Art. 9 Abs. 3 GG lediglich um ein Individualgrundrecht. Sinzheimer führte sehr zutreffend aus:

 

„Wer nur in den Gesetzen des Arbeitsrechts sucht, wird es niemals finden. Die Gesetze spiegeln nur die allgemeinen Tatbestände des Arbeitslebens wieder, die Fülle seiner wirklichen Gestaltung lässt sich daraus nicht erkennen.“64

So verwundert es nicht, dass die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit durch die Rechtsprechung der Bundesgerichte65 über den reinen Wortlaut hinaus konkretisiert und ausgestaltet wurde und wird, woraus sich ein komplexes System grundrechtlicher Gewährleistungen entwickelt hat, das an späterer Stelle nochmals aufgegriffen werden soll. Vor allem das Bundesverfassungsgericht hat sich dabei in seiner älteren Judikatur auf die historische Entwicklung des Koalitionsrechts gestützt und das Grundrecht der Koalitionsfreiheit auch den Koalitionen als solchen zugestanden.66 Entwicklungsgeschichtlich fällt die Entstehung des Koalitionsrechts mit ← 30 | 31 → dem Beginn der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts zusammen. Auch wenn es bereits davor schon berufsständische Organisationsbildungen und koalitionsähnliche Institutionen wie beispielsweise Zünfte, Gilden, etc. gab, bedeutete erst die Entstehung autonomer Arbeitnehmervereinigungen dogmenhistorisch eine entscheidende Zäsur.67 Verdeutlicht wird dies durch die wichtigsten rechtshistorischen Eckdaten: Aufhebung des Koalitionsverbots durch die §§ 152, 153 GewO vom 29. Mai 1869, Sozialistengesetzgebung des Jahres 1878 und deren Aufhebung 1890, Arbeitsgemeinschaftsabkommen der Spitzenverbände von Arbeitnehmern und Arbeitgebern vom 15. November 1918 und schließlich die Tarifvertragsordnung vom 23. Dezember 1918. Mit der Bestimmung der Art. 159, 165 WRV erhielt die Koalitionsfreiheit dann erstmals die verfassungsrechtliche Legitimation und Garantie.68 Art. 165 WRV ordnete die Koalitionsfreiheit dem funktionellen Kontext des Wirtschaftslebens zu und qualifizierte die Bipolarität von organisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern als zentralen Ordnungsfaktor der Arbeitsordnung.69 Die besondere Qualifikation der Koalitionsfreiheit durch die Rechtsprechung der Bundesgerichte ist demnach historisch begründet. Die Rechtsfrage, ob die Vereinigung als solche durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützt ist, war lange Zeit umstritten und wurde vom Reichsgericht70 unterschiedlich beurteilt. In der Rechtslehre schien sich hingegen die Meinung zu etablieren, dass nicht nur der Einzelne, sondern auch die Vereinigung selbst durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützt sei, wobei ausdrücklich auf die Anerkennung der Koalitionen in Art. 165 Abs. 1 WRV verwiesen wurde. Das Bundesverfassungsgericht nahm diese traditional orientierten Argumente schließlich auf und bezog die Vereinigungen selbst in den Schutz des Grundrechts der Koalitionsfreiheit ein.71 Nicht mehr nur die Arbeitsvertragsparteien ← 31 | 32 → und vor allem die Arbeitnehmer sollten durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt werden, sondern auch die Koalitionen, auch wenn eine den Art. 159 sowie Art. 165 Abs. 1 WRV vergleichbare Regelung im Grundgesetz fehlte.

 

Sie „war aber entbehrlich, weil das GG unter Berücksichtigung des bestehenden verfassungs- und arbeitsrechtlichen Zustandes in den Ländern von der rechtlichen Anerkennung der Sozialpartner als selbstverständlich ausgehen konnte.“72

Details

Seiten
319
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043273
ISBN (ePUB)
9783653986525
ISBN (MOBI)
9783653986518
ISBN (Paperback)
9783631651490
DOI
10.3726/978-3-653-04327-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Schlagworte
Tarifeinheit Tarifpluralität Tarifrecht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 319 S.

Biographische Angaben

Sarah Saeidy-Nory (Autor:in)

Sarah Saeidy-Nory studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und absolvierte einen Fachanwaltslehrgang im Arbeitsrecht. Sie war zunächst als Syndikus in einem internationalen Unternehmen tätig. Die Autorin arbeitet als Rechtsanwältin in einem Arbeitgeberverband und ist dort Leiterin der Tarifabteilung.

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Titel: Tarifgemeinschaften als Lösungsansatz für ein funktionierendes Tarifsystem im Rahmen von Tarifkollisionen
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