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Alltagsrassismus erfahren

Prozesse der Subjektbildung – Potenziale der Transformation

von Astride Velho (Autor:in)
©2016 Dissertation 234 Seiten

Zusammenfassung

Die subjektorientierte Studie befasst sich mit der psychischen Form rassistischer Macht und mit Potenzialen der Transformation. Die Autorin befragte Personen mit Rassismuserfahrungen mittels problemzentrierter biographischer Interviews. Die Analyse verdeutlicht, wie tief alltägliche Rassismuserfahrungen in Selbst- und Weltverhältnisse eingreifen und in welch komplexer Weise Prozesse der Subjektbildung wirksam werden. Sie beleuchtet die Verantwortung des sozialen Umfelds bei Bildungsprozessen, das entweder Dominanzverhältnisse aufrecht erhalten und Diskriminierung fortsetzen oder aber kritische Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit stärken kann. Daraus ergeben sich wichtige Impulse für Soziale Arbeit, Pädagogik und Psychologie.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Alltagsrassismus erfahren: Qualitative Forschung im deutschsprachigen Raum
  • 2. Produktivität von Macht als Perspektive auf Rassismuserfahrungen
  • 2.1 Governmentality Studies
  • 2.2 Rassifizierung und Differenzierung
  • 2.3 Vielfacher Tod, Ausgrenzung und Auslöschung der Anderen
  • 2.4 Fragen nach der psychischen Form der Macht und nach der Konzeption von Handlungsfähigkeit und Widerstand
  • 3. Subjektorientierung als Forschungsansatz - Forschungsdesign, Forschungsmethode und Methodologie
  • 4. Prozesse der Subjektbildung - zwischen Othering, Internalisierung und Bekenntnis
  • 4.1 Die Anderen herstellen
  • 4.2 Interkulturelle Pädagogik als Praxis des Othering – ein Beispiel
  • 4.3 Othering – theoretische Annäherungen
  • 4.4 Othering als Dispositiv
  • 4.5 Hegemoniale Subjektivierung
  • 4.6 Die Frage nach den Erfahrungen und Subjektivierungen der Anderen
  • 4.7 Internalisierung des Selbst als Anderes und Praxen der Assimilierung
  • 4.8 Kindheitserfahrungen – Wie die Absenz von Wissen über Rassismus die Internalisierung der Andersheit befördert
  • 4.9 Internale, globale und stabile Attributionen und erlernte Hilflosigkeit
  • 4.10 Mentalisierungsfähigkeit und das kindliche Wissen um Rassismus
  • 4.11 Artikulationen als Perspektive auf Erfahrungen von Alltagsrassismus
  • 4.12 Bekenntnisse der rassifizierten Anderen – Technologien des Selbst
  • 4.13 Weitere methodologische Fragen zu den Erfahrungen und Subjektivierungen der Anderen
  • 5. Potenziale der Transformation - zwischen Schaulust, Involvierung, Exotisierung, Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit
  • 5.1 Fixierung auf die Position der Anderen: Widerständige Entgegnungen, aber auch Involvierungen
  • 5.2 Repräsentationsregime, Voyeurismus, historische Grammatiken und die Zurschaustellung der Anderen
  • 5.3 Binaritäten von Stereotypisierungen: Über das Befinden zwischen Exotisierung, Sexualisierung und Dezivilisierung
  • 5.4 Begehren, Verschiebung und Fetischisierung
  • 5.5 Verstrickungen in Erfahrungen der Exotisierung und Sexualisierung
  • 5.6 Bekenntnis und Artikulation als Praxen der Handlungsfähigkeit, Widerständigkeit und solidarischen Intervention und Unterstützung
  • 5.7 Rassismus bildet: Materialisierungen der Körper / der Anderen
  • 5.8 Resignifizierungen, Identifizierungen, Handlungsfähigkeit und Transformationen der Selbst- und Weltverhältnisse
  • 6. Zusammenfassung
  • 7. Ausblick - psychosoziale und pädagogische Arbeit, Bildungspraxen, der Zugang zu Ressourcen und Potenziale der Transformation
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Einleitung

Diese Studie fragt nach der Wirkung der durchdringenden Macht des Rassismus, die oft dadurch beschrieben wird, dass diejenigen, welche diese Erfahrungen an den eigenen Körpern und Seelen machen, die rassifizierten Anderen, sich selbst als solche Andere wahrnehmen und empfinden (vgl. Hall 1994: 20 ff.). Rassismus ist auch innerhalb der dominierten Subjekte wirksam (ebd.). Diese können im Kontext von Alltagsrassismus dazu gebracht werden, sich selbst als die Minderwertigen zu erfahren (ebd.). Dabei will diese Studie aber nicht stehenbleiben. So wird danach gefragt, wie Subjekte unter diesen Bedingungen Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit herstellen können und Prozesse der Transformation begünstigt werden. Welche Prozesse der Subjektbildung und Potenziale der Transformation können im Zusammenhang mit Rassismuserfahrungen beschränkt oder möglich werden?

Rassismuserfahrungen machen krank. Sie marginalisieren und belasten Menschen auch gesundheitlich, was sich auf ihre Befindlichkeit, Subjektivität und Handlungsmöglichkeiten auswirkt (vgl. Velho 2011; Mecheril & Velho 2013). In manch anderen westlichen Staaten gibt es eine rege und jahrzehntelange Forschungstätigkeit zu den seelischen und körperlichen Auswirkungen von Rassismuserfahrungen. In der Bundesrepublik wird das Thema Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung aber häufig ausgeblendet. Vorwiegend wird über die Auswirkungen von Migration und kulturellen Differenzen, beispielsweise auf die Gesundheit oder Kommunikation, geforscht und interkulturelle Konzepte für die berufliche Praxis werden entwickelt. Diese gehen selten auf die diskriminierende Lebensrealität ein und versäumen häufig, die Dimensionen gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu berücksichtigen, in denen Begegnungen, die als interkulturell verstanden werden, stattfinden.

Die Normalität rassistischer Diskriminierung stellt Lebensbedingungen her, die als prekär und potenziell krisenhaft bezeichnet werden können, auch wenn viele unter diesen Bedingungen handlungs- und widerstandsfähig sind und bleiben. Nicht nur für die Gesundheit bedenkliche alltägliche Erfahrungen von Unterwerfung und Herabwürdigung, sondern auch Erfahrungen von Angebot und Anrufung, durch die sich sowohl Restringierungs- als auch Ermöglichungsprozesse entwickeln (Mecheril 2006: 125), erschaffen Subjektivität. Rassismuserfahrungen wirken durch ihren repressiven Gehalt nicht lediglich unterdrückend, ausgrenzend oder krankmachend, sondern sind zudem als Angebote auf gewisse Subjektpositionen zu verstehen, die wiederum Konsequenzen für die Verfasstheit und das Handeln der Betroffenen haben. Es geht deshalb in der vorliegenden Studie um die Annäherung an eine Antwort auf die komplexe Frage, wie die ← 15 | 16 → psychischen Effekte von Macht als einer ihrer „heimtückischsten Hervorbringungen“ (Butler 2001: 12) Bindung an Unterordnung im Kontext von Rassismuserfahrungen in der Bundesrepublik herstellen. Aber auch darum, dass sich das Subjekt durchaus so denken lässt, „dass es seine Handlungsfähigkeit von eben der Macht bezieht, gegen die es sich stellt, so unangenehm und beschämend das insbesondere für jene sein mag, die glauben, Komplizenschaft und Ambivalenz ließen sich ein für allemal ausrotten“ (ebd.: 22).

Textpassagen aus den biographischen Interviews zu Rassismuserfahrungen werden vor dem Hintergrund theoretischer Zugänge gerahmt und es werden eigenmächtige Modellierungen an ihnen vorgenommen. Von Interesse ist hierbei einerseits, welche phänomenalen Qualitäten Erfahrungen von Othering (zum bzw. zur Anderen machen / gemacht werden) und Rassismus aufweisen. Im Fokus liegen dabei alltägliche, häufig subtile Interaktionen, innerhalb derer rassistische Normalität Wirklichkeit wird – nicht so sehr die offen gewalttätigen, ex ← 16 | 17 → kludierenden und entrechtenden Formen des Rassismus und ihre (in anderer Weise und anderer Existenzialität) gravierenden Effekte.

Andererseits liegt der Fokus der Interviews darauf, wie Subjektivität durch diese Bedingungen mit erschaffen wird; die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf Prozesse der Subjektbildung werden in der Analyse der Interviewsequenzen deutlich. Es steht zur Disposition, inwiefern Rassismuserfahrungen, die mit anderen Ungleichheitsdimensionen einhergehen, sowohl unterwerfende als ermöglichende Erfahrungen sind: Erfahrungen, die Macht verinnerlichende und sich den Normen der Macht angleichende Subjektpositionen nach sich ziehen. Zugleich ist zu fragen, in welcher Weise Handlungsfähigkeit beibehalten und Kritikfähigkeit und Widerständigkeit entwickelt werden können. Der theoretische Zugang wird hier mit den Begriffen der Artikulation und Repräsentation von Stuart Hall, zusammen mit jenen des Dispositivs und der selbsttechnologischen Praxis des Bekenntnisses von Michel Foucault sowie der Konzeption der erlernten Hilflosigkeit von Martin P. Seligman erarbeitet. Eine Analyse von Othering- und Rassismuserfahrungen und ihren Auswirkungen auf Subjektivierungen, die auf Auswertungsergebnisse der biographischen Interviews, vorliegenden qualitativen Studien zu Rassismuserfahrungen und auf theoretische Bezüge rekurriert, führt zu der zentralen Fragestellung, wie Subjekte unter diesen Bedingungen Handlungsmächtigkeit und Widerständigkeit herstellen.

1. Alltagsrassismus erfahren: Qualitative Forschung im deutschsprachigen Raum

Alltagsrassismus erfahren – diese Studie versteht sich als Spurensuche, als Versatzstück oder Baustein einer Analyse, die (inzwischen) auch im deutschsprachigen Raum begonnen wurde. Einer Spurensuche, die einerseits der Alltäglichkeit der Rassismuserfahrungen in diesem Land nachgeht und andererseits versucht, dies aus einer konsequent subjektorientierten Position zu tun, die die Perspektive und das Eingebundensein derer, die Alltagsrassismus erfahren, zum Ausgangspunkt der Analyse macht. Ziel der Analyse ist, die prekären Lebenswirklichkeiten der zu Anderen Gemachten deutlich werden zu lassen und Prozessen der Subjektbildung und der Entwicklung von Handlungsfähigkeiten sowie Potenzialen der Transformation und des Widerstands auf die Spur zu kommen. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang beispielsweise die Studien von Encarnación Gutièrrez Rodríguez (1999), Paul Mecheril (2003), Mark Terkessidis (2004), Claus Melter (2006), Susanne Spindler (2006), Maria do Mar Castro Varela (2007), Grada Kilomba (2008), Tina Spies (2010), Zülfukar Çetin (2012), Nadine Rose (2012) und Wiebke Scharathow (2014).

Rassistische Praxen schaffen machtvolle Differenzierungen zwischen Menschen. Sie positionieren Subjekte nach dem Kriterium der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit. Sie schaffen und legitimieren soziale Ungleichheit. Die vorliegende Studie befasst sich mit der Erfahrung derer, denen Positionen im Außerhalb, in der Nichtzugehörigkeit zugewiesen werden. Die Positionen ergeben sich nicht nur aus Zuweisungen und Viktimisierungen, sondern werden auch durch Selbstpositionierungen hergestellt, denen Praxen von Überlebenskunst, Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit zugrunde liegen.

Rassistische Macht wirkt als differenzierende Macht (Miles, 1999), die als Ideologie auftritt und Rassifizierungs- und Ausgrenzungspraxen zeitigt. Sie entfaltet sich sowohl in individuellen Begegnungen, in institutionalisierter und struktureller Form als auch im Kulturellen (Hall 1994, Kalpaka/ Räthzel 1990, Mecheril 2003, Terkessidis 1998 & 2004). Rassismus unterscheidet Menschen, indem wesenhafte Differenzen über „Abstammung“, „Religion“ oder „Kultur“ konstruiert und herstellt werden (Mecheril / Melter 2010: 156): Diese Zeichen der Andersheit werden in unveränderlicher Verbindung zu stabilen Dispositionen auf der Ebene von „Charakter“, „Intelligenz“ oder „Temperament“ gesehen (ebd.). „Mentalitäten“ der eigenen, dominanten und fraglos zugehörigen Gruppe – beispielsweise die Mehrheitsbevölkerung in einem Nationalstaat – werden in Abgrenzung zu den Eigenschaften der Anderen als positiv angesehen, während ← 19 | 20 → die Anderen als minderwertig und nicht-zugehörig betrachtet und positioniert werden (ebd.).

Im Folgenden möchte ich weiter auf theoretische Ausführungen rekurrieren, die deutlich machen, um welchen Gegenstand und welche Erfahrungen es sich handelt, wenn von Erfahrungen des Alltagsrassismus gesprochen wird. All dies möchte ich als Bemühung verstanden wissen, die der Wegbereitung einer Analyse von Prozessen der Subjektbildung und Potenzialen der Transformation im Kontext dieser Erfahrungen dienen kann (vgl. nachfolgendes Kapitel).

Details

Seiten
234
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653046175
ISBN (ePUB)
9783653985788
ISBN (MOBI)
9783653985771
ISBN (Hardcover)
9783631651889
DOI
10.3726/978-3-653-04617-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Rassismuserfahrungen Diskriminierung Subjektivierung Bildungsprozesse Empowerment Handlungsfähigkeit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 234 S., 11 Tab.

Biographische Angaben

Astride Velho (Autor:in)

Astride Velho ist Professorin für Soziale Arbeit mit Geflüchteten an der Frankfurt University for Applied Sciences sowie Erziehungswissenschaftlerin, Psychologin und Erzieherin. Sie war viele Jahre im Münchner Migrations- und Flüchtlingssozialbereich und in verschiedenen Initiativen tätig.

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