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Die Verslegende «Veronica II»

Hybridedition und Studien zur Überlieferung

von Judith Lange (Autor:in)
©2014 Dissertation 396 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch wird erstmals die gesamte, äußerst heterogene Überlieferung der unter dem Namen des Spruchdichters Regenbogen überlieferten Verslegende Veronica II analysiert. Auf Basis der Analyseergebnisse wird die Verslegende überlieferungskritisch, unter Einbezug aller mittelhochdeutschen Quellen, in fünf Fassungen ediert. Die dazugehörige, im Internet zugängliche Online-Publikation ist als ein Versuch zu betrachten, dem Problem der komplexen Überlieferungslage der Veronica II mit Hilfe digitaler Medien zu begegnen. Auf diese Weise wird im Sinne der New Philology gewährleistet, die Textüberlieferung und deren mouvance ständig im Blick zu behalten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Siglen
  • I. Teil Einführung
  • 1 Einleitung
  • 1.1 (Pseudo-)Regenbogen - Die Überlieferung eines Dichters und seines Tönerepertoires in der Forschung
  • 1.2 Ziel der Arbeit
  • 1.3 Der Forschungsstand zur Veronica II
  • 1.3.1 Literaturwissenschaftlicher Forschungsüberblick
  • 1.3.2 Die Veronica II in der Präsenzdiskussion - Ein Vergleich mit Dit is Veronica des Wilden Mannes
  • 2 Die Veronica II - Zum Inhalt und ihrer stoffgeschichtlichen sowie literarischen Einordnung
  • 2.1 Zum Inhalt
  • 2.2 Ursprünge der Legende
  • 2.2.1 Die Cura sanitatis Tiberii und die Veronica-Legende der mittel-fränkischen Reimbibel als Motivlieferanten
  • 2.2.2 Die Vindicta Salvatoris und ihre Einflüsse auf die Fassungen der Veronica II
  • 2.2.3 Von der Vita Pilati zur Legenda aurea
  • 2.2.4 Die spätmittelalterliche Veronica I in cgm 841
  • 2.2.5 Zusammenfassung
  • 3 Die Veronica II in der Tradition des Meistersangs
  • 3.1 Entwicklungsgeschichte und Periodisierung des Meistersangs
  • 3.2 Verortung der Veronica II im Meistersang
  • II. Teil Editorische Grundlagen
  • 1 Angewandte Methoden
  • 1.1 Die Auffassung der New Philology
  • 1.2 Überlieferungsgeschichtliche Editionsmethoden
  • 1.2.1 Das Leithandschriftenprinzip
  • 1.2.2 Die Methode der überlieferungskritischen Edition
  • 1.3 Die Grazer Methode der dynamischen, mehrstufigen Edition
  • 2 (Text-)Varianzen - Betrachtungen zur Handhabbarkeit variantenreich überlieferter Texte
  • 2.1 Zur Entstehung von Varianzphänomenen - Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
  • 2.2 Zur Einordnung von Varianzphänomenen
  • 3 Von der Varianz zur Fassung - zum editorischen Umgang mit divergierenden Textvarianten
  • 3.1 Der Parzival in seinen Fassungen: Einblicke in das Parzival-Pro- jekt
  • 3.2 Das Bochumer Anselmus-Projekt
  • III. Teil Das Profil der Überlieferung
  • 1 Die Überlieferungsträger
  • 1.1 Handschriften
  • a: cgm 4997 (Kolmarer Liederhandschrift)
  • b: Cod. Vindob. germ. 5305
  • c: Fonds 181, Nr. 1405, Opis’ 16 (ehem. Cod. 1432)
  • e: C.O. 188
  • f: Cod. 3007
  • g: Ms. 1972
  • h: Hs. Georg. 25
  • l: cgm 5198 (Wiltener Liederhandschrift)
  • m: Ms. Praed. 91
  • 1.2 Fragmente
  • i: 1703/108
  • d: mgq 954
  • 1.3 Abschriften
  • j: mgq 978
  • k: mgq 902
  • d: mgq 954
  • 1.4 Drucke
  • n: H62/Cim.M(11)-1 (Dürnhofer Liederbuch)
  • p: Cim. 38#42
  • o: Yd 7820
  • q: Yd 8061
  • r: 2 Jd 0377 [12 an
  • 2 Charakteristika der Überlieferung
  • 2.1 Betrachtungen zu Metrik und Reimschema
  • 2.2 Strophenbestand und -reihung der Veronica II
  • 2.3 Analyse komplexer lexikalischer und syntagmatischer Varianten zwischen den Klassen I und II
  • 3 Die zwei Klassen der Veronica II
  • 3.1 Klasse I und ihre Subfassungen
  • 3.1.1 Zur Wahl der Leithandschrift
  • 3.1.2 Überlieferungsgruppen der Klasse I
  • 3.1.2.1 Die Überlieferungsgruppe ajm
  • 3.1.2.2 Text I der Wiltener Liederhandschrift und seine Beziehung zu Fassung g der Klasse II
  • 3.1.2.3 Die Drucküberlieferung
  • 3.2 Klasse II und ihre Subfassungen
  • 3.2.1 Fassung e
  • 3.2.2 Die Kurzfassung *f
  • 3.2.3 Fassung g - Ein Beispiel für Kontamination in der Veronica II-Überlieferung
  • 3.2.4 Die Pilatusfassung h
  • IV. Teil Die Edition
  • 1 Editionsprinzipien
  • 1.1 Grundsätze der Transkription
  • 1.1.1 Allgemeine Grundsätze der Transkription
  • 1.1.2 Besonderheiten einzelner Handschriften
  • cgm 5198
  • Cod. 3007 und Cod. 5305
  • 1.2 Normalisierungsrichtlinien der Edition
  • 1.2.1 Normalisierung der Abbreviaturen und Superskripte
  • 1.2.2 Normalisierung des Vokalbestandes (i, j, u, v, w und y)
  • 1.2.3 Normalisierung des Konsonantenbestands
  • 1.2.4 Umgang mit der Groß- und Kleinschreibung
  • 1.2.5 Interpunktion
  • 1.2.6 Sonstiges
  • 2 Die Textgestalt
  • 2.1 Einrichtung der Editionstexte
  • 2.2 Die Apparate
  • 2.2.1 Apparat für die Blattangaben
  • 2.2.2 Der Kommentarapparat
  • 2.2.3 Die Variantenapparate
  • 3 Die Veronica II online in TextGrid
  • 4 Veronica II in ihren Fassungen
  • Anhang
  • Kommentiertes Namensregister
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Siglen

Die Siglen entsprechen der im RSM verwendeten alphabetischen Reihung. Es handelt sich dabei nicht um Bezeichnungen ganzer Codices, sondern um Texte in den entsprechenden Folianten.

a cgm 4997 (Kolmarer Liederhandschrift); München, Bayerische Staatsbibliothek (Bl. 274ra–285vb)

b Cod. 5305; Wien, Österreichische Nationalbibliothek (341rb–346va)

c Fonds 181, Nr. 1405, Opis‘ 16; Moskau, Archiv der Alten Akten (ehem. Cod. 1432) (43r–65r)

d mgq 954; Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (Fragment) (5r–8v)

e C.O. 188; Zemskøho archivu v Opavě, pobočka Olomouc (13v–27v)

f Cod. 3007; Wien, Österreichische Nationalbibliothek (57v–74r)

g Ms. 1972; Universitätsbibliothek Karl-Franzens Universität Graz (1r–28r)

h Hs. Georg. 25; Anhaltische Landesbücherei Dessau-Rosslau (1r–36r)

i 1703/108; Universitätsbibliothek Karl-Franzens Universität Graz (107v–109r)

j mgq 978; Krakau, Biblioteka Jagiellońska (Abschrift der verbrannten Straßburger Hs. StB B 84) (1ra–4va)

k mgq 902; Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (Abschrift der verschollenen Hildesheimer Hs. 19) (S. 1–35)

l cgm 5198 (Wiltener Liederhandschrift); München, Bayerische Staatsbibliothek (73r–89r)

m Ms. Praed. 91; Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main (20r–36r)

n H62/Cim-M(11)–1 (Dürnhofer Liederbuch); Universitätsbibliothek Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (1r–25v)

o Yd 7820; Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (32r–55r)

p Cim. 38#42; München, Bayerische Staatsbibliothek (S.391–445)

q Yd 8061; Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (1r–24v)

r 2 Jd 0377 [12 an; Dombibliothek Hildesheim (74r–105r)

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I. Teil Einführung

1 Einleitung

1.1 (Pseudo-)Regenbogen – Die Überlieferung eines Dichters und seines Tönerepertoires in der Forschung

Die Töne des Spruchdichters Regenbogen sind einige der am breitesten tradierten Liedformen1 des Mittelalters. Alleine die Kolmarer Liederhandschrift (Cgm 4997 der Bayerischen Nationalbibliothek) überliefert etwa 1000 Strophen und Hunderte mehr finden sich in 61 weiteren Handschriften.2 Trotzdem ist die Forschung bei der Beschäftigung mit diesem Dichter noch heute weitestgehend auf das Wenige angewiesen, was in Friedrich Heinrich von der Hagens Minnesinger (MS), Karl Bartschs Meisterlieder der Kolmarer Handschrift (MKH) und Philipp Wackernagels Deutschem Kirchenlied (WKL) ediert ist.3 Ergänzt wurden diese großen Sammeleditionen in neuerer Zeit ← 13 | 14 → lediglich durch Editionen einzelner Lieder, die nach thematischen Schwerpunkten ausgewählt wurden,4 oder durch Editionen ganzer Handschriften, in denen sich Regenbogentöne befinden.5 Grundsätzlich ist zu den existierenden Ausgaben festzuhalten, dass sie entweder nicht mehr den heutigen editori- schen Standards entsprechen oder unvollständig sind. Eine von Reinhold Schröder geplante kritische Edition aller Regenbogen zugeschriebenen Töne und Lieder wurde, obgleich 1965 auf einem Kolloquium vorgestellt und bis heute im Editionsbericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften6 gelistet, nicht zu Ende geführt.7 Neben den bereits erwähnten Ausgaben findet sich kaum neuere Forschungsliteratur zu Gedichten oder Tönen Regenbogens. Die wenigen erschienenen Aufsätze zu Regenbogen beleuchten lediglich einzelne Facetten und Fragestellungen: So wurde beispielsweise der sogenannte ,Sängerstreit‘ zwischen Frauenlob und Regenbogen immer wieder thematisiert,8 oder einzelne Texte oder Themen standen im Fokus.9 Michael Baldzuhn veröffentlichte 2007 einen Aufsatz über die Minnethematik in den Sangspruchtönen Regenbogens, in dem auch eine ganze Reihe von bis dato unedierten Minneliedern in Regenbogentönen abgedruckt wurden.10 Andere Monographien wiederum beziehen nur einzelne Überlieferungsträger in ihre Analyse mit ein.11 In Michael Baldzuhns Dissertation ← 14 | 15 → Vom Sangspruch zum Meisterlied finden sich mehrere Lieder in Regenbogentönen aus der Kolmarer Liederhandschrift neu ediert, anhand derer er – neben bereits länger edierten Texten – versucht, die Entstehung der Barbildung exemplarisch nachzuvollziehen.12

Eine eigenständige Regenbogenedition existiert also trotz der Bedeutung des Dichters für das Mittelalter und der Planungen Schröders bis heute nicht. Dass diese Lücke innerhalb der Sangspruch- und Meistersingerforschung besteht, ist sicherlich auch auf den großen Umfang der anonym überlieferten Lieder in Regenbogentönen zurückzuführen. Um die enorme Bedeutung des Tönerepertoires Regenbogens für das Spätmittelalter hervorzuheben, sollte eine solche Edition von dem Anspruch absehen, ,echte‘ Regenbogenlieder von den im Meistersang gedichteten anonymen Texten in Tönen Regenbogens zu trennen.13 Obwohl Regenbogen den Meistersingern als einer der zwölf ,alten Meister‘ galt,14 sind aus dem Sangspruch lediglich fünf Strophen überliefert, ← 15 | 16 → denen der ,authentische‘ Regenbogen mit einer gewissen Sicherheit als Autor zugewiesen werden kann. Die Rezeption der Töne des Dichters im Spätmittelalter ist im Vergleich zur mageren Überlieferungssituation (vermutlich) authentischer Lieder unverhältnismäßig groß und hätte sicherlich eine ausführlichere Würdigung seitens der Forschung verdient. Diese erforderte allerdings zunächst eine genaue Erfassung und Edition aller unter Regenbogens Namen überlieferten Texte; die Entstehung einer solchen Edition ist jedoch bislang nicht abzusehen.15

Neben den zahlreichen Liedern in Regenbogentönen findet sich unter Regenbogens Namen auch eine längere Verslegende mit dem Titel Veronica II,16 die aus der Regenbogenüberlieferung in besonderer Weise hervorsticht.17 Die Metrik der Legende folgt mit leichten Abwandlungen der schon in der großen Heidelberger Liederhandschrift belegten Briefweise18 und der Name Regenbogen findet sich sowohl in Tonangaben, als auch als direkte ,Autornennung‘ in der letzten Strophe des Gedichts.19 Es handelt sich um eine der frühesten ← 16 | 17 → überlieferten Verslegenden, deren insgesamt 18 erhaltenen Quellen von der lebhaften Tradierung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zeugen; der Schwerpunkt der Überlieferung liegt im 15. Jahrhundert.20 Wie schon die übrigen Regenbogen zugeschriebenen Gedichte, könnte auch die Veronica von großem Interesse für die Forschung sein. Sie ist bislang aufgrund ihres großen Variantenreichtums und der umfangreichen Überlieferungslage jedoch nie überlieferungskritisch ediert worden.21 Obwohl der Name Regenbogen in den meisten der 18 Textzeugen erwähnt wird (bspw. jn der brieff wyse meyster Regenbogen [a, Bl. 274ra] oder Ich Regenboge [V. 60,1]),22 ist eine Autorschaft Regenbogens auch für die Legende mehrfach kontrovers diskutiert und bewertet worden. Sowohl Wilhelm Grimm als auch Karl Pearson gingen von der Annahme aus, es habe tatsächlich eine Veronica-Legende Regenbogens existiert, die der Veronica II als Vorlage diente.23 Gustav Roethe und Karl Bartsch bezweifelten hingegen die Echtheit des Textes. Roethe plädierte für die These, spätere Dichter hätten sich des Namens Regenbogen bedient und für ihre eigenen Gedichte benutzt. Tatsächlich ist bis heute keine eindeutige Quelle aus der Lebenszeit Regenbogens für die Veronica II auszumachen. Eine Autorschaft des Dichters ist nicht gänzlich auszuschließen, ist aber unwahrscheinlich.

1.2 Ziel der Arbeit

Eine ausführlichere Diskussion der Überlieferungsgeschichte der Töne Regenbogens wäre unter Berücksichtigung neuerer Untersuchungsmethoden ein beträchtlicher Gewinn, ist allerdings im Rahmen einer Dissertation aufgrund der Fülle an unediertem Material nicht leistbar. Aus diesem Grund beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die hybride Edition der Verslegende Veronica ← 17 | 18 → II in Regenbogens Briefweise und auf die Analyse ihrer komplexen Überlieferungssituation.24 Als hybrid ist die Edition zu bezeichnen, da die gedruckte Fassungsedition um eine Archivausgabe erweitert wird. Im Repository der Forschungsumgebung TextGrid sind Faksimiles sowie Transkription aller Textzeugen als open source frei zugänglich. Ziel der Ausgabe ist, wie für alle Archivausgaben geltend, die dokumentarische Edition: Es handelt sich um eine Textdarbietung, die sich auf eine weitestgehend interpretationsfreie, quellennahe Darstellung der Primärtexte konzentriert.25 Nur selten wurde der für diese Ausgabe beschrittene Weg, konservative – zumeist kritische – interpretative Editionsformen und interpretationsarme Archivausgaben miteinander zu verbinden,26 bisher gegangen. Das größte Problem derzeit ist die Gewährleistung der Langzeitarchivierung digitaler Daten. Die VFU TextGrid ist angetreten, hier Abhilfe zu schaffen.27

Georg Steer formuliert, der Editionsvorgang sei eine erste wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur, genauer gesagt mit den Quellen, den Handschriften und ihrer Überlieferung.28 Gleichzeitig liefert die Edition auch die Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem edierten Text. Der Editor ← 18 | 19 → muss zu Beginn seiner Arbeit Entscheidungen über den Umgang mit seinen Quellen und deren adäquate Darbietung treffen, wobei die Entscheidungsfindung in der Regel stark abhängig von der Zielgruppe der Edition ist, ihren Ansprüchen und Interessen. Die Mittel einer digitalen oder hybriden Edition bieten in der heutigen Zeit Möglichkeiten, den Text für verschiedene Benutzergruppen zu öffnen und das Spektrum der Textarbeit deutlich zu erweitern.

1990 befasste sich bereits Karl-Ernst Geith mit den Problemstellungen, die die Überlieferungslage der Veronica an den Editor heranträgt. Nach einer Beschreibung der damals bekannten Überlieferungssituation bietet Geith eine Muster-Edition der Veronica anhand einer „beliebig gewählte[n]“ Strophe. Das Ziel der Beispieledition ist es, zu verdeutlichen, dass die ausgeprägte Heterogenität der Textüberlieferung eine Edition nach dem Leithandschriftenprinzip nahezu unmöglich macht.29 „Der Umfang des Apparates mit dem Abdruck der Lesarten der übrigen Überlieferung“30 stelle ein scheinbar unüberwindliches Hindernis dar und verbiete, so Geith, eine solche Vorgehensweise.31 Als „einzig sinnvoller Ausweg“ bleibe somit

„ein rezeptionsorientiertes Editionsverfahren, d. h. der Abdruck der Texte, wie sie im Mittelalter rezipiert worden sind. Da für keine der überlieferten Handschriften und Drucke eine höhere Qualität oder größere Nähe zum Original erwiesen werden könne, bliebe als Lösung nur der Abdruck aller Überlieferungszeugen.“32

Nur auf diesem Weg sei es möglich, das „Profil jeder Fassung zu verdeutlichen.“33

Nicht abzusprechen ist Geith, dass sich die Überlieferungslage der Veronica II durchaus komplex darstellt; sie ist sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene des Textes durch große Heterogenität geprägt. Die Gesamtüberlieferung lässt sich aber dennoch in zwei Stränge untergliedern. Diese Überlieferungszweige werden im Folgenden als Klassen begriffen und bilden das Grundgerüst der Edition. Die zweite Klasse (II) bedurfte dabei einer anderen Herangehensweise als die erste Klasse (I). Konnte Letztere mit Hilfe einer synoptischen Darstellungsform, die maßgebliche Varianten schnell sichtbar macht, nach dem Leithandschriftenprinzip ediert werden, bedurfte es für Klasse II einer Aufsplittung in Fassungen (e, g, h und *f), wie Geith sie für ← 19 | 20 → die gesamte Überlieferung fordert.34 In den Kapiteln II.3.1 und II.3.2 werden alle Subfassungen analysiert und die Gründe für das Vorgehen, Klasse II in Fassungen zu edieren, im Einzelnen dargelegt.

In die Ausgabe aufgenommen wurden nur die mittel- und frühneuhochdeutschen Handschriften (abcdefgh) sowie die fünf Drucke (nopqr). Fragment i und die Grimmabschrift k wurden aufgrund ihres niederdeutschen Sprachstandes von der Edition ausgenommen. Die vom Mittelhochdeutschen abweichende Syntax des Mittelniederdeutschen würde die Edition des Textes zusätzlich erschweren, da sie zahlreiche weitere Varianten – vor allem bei den Reimendworten – erzeugt. Außerdem existiert eine Ausgabe der niederdeutschen Veronica auf Basis der verschollenen Hildesheimer Handschrift 19. Diese Handschrift ist heute, neben der genannten Edition – auf die an dieser Stelle explizit hingewiesen werden soll35 –, nur noch in Abschrift k erhalten. Bei der ebenfalls nur in Abschrift vorliegenden zerstörten Straßburger Handschrift StB B 84 handelte es sich zwar um eine mhd. Quelle, doch da Wilhelm Grimm nur Passagen einzelner Strophen kopierte, wurde auch mgq 978 (j) nicht in die Edition aufgenommen. Alle drei Textzeugen (ijk) werden jedoch in der Archivausgabe zur Verfügung gestellt und können für wissenschaftliche Zwecke herangezogen werden.

Das Problem der in einer kritischen Edition nicht zu erfassenden komplexen und variantenreichen Überlieferungslage soll durch die digitalen Möglichkeiten, die eine hybride Edition bietet, gelöst werden. Die Herausgabe der Volltranskriptionen nebst den zur Transkription genutzten Digitalfaksimiles der Textzeugen in einer Archivausgabe (zugängig unter http://www.textridrep.de/) ersetzt die von Geith als erforderlich erachteten Einzeleditionen. Die erste Aufgabe der Archivausgabe besteht, in Anlehnung an Klaus Kanzog und Christine Edel,36 in der Visualisierung des gesamten verfügbaren Quellenmaterials zur Veronica. Mit Hilfe elektronischer Medien wird auf diese ← 20 | 21 → Weise gewährleistet, „die Gegebenheiten der Textüberlieferung ständig im Auge zu behalten.“37 Dem Informationsverlust klassischer Texteditionen kann effektiv entgegengewirkt werden38 und in Bezug auf die Texteditionen ermöglicht ein solches Vorgehen eine ,Entschlackung‘ der Variantenapparate. Vor dem Hintergrund, dass Spezialisten sich für ihre Fragestellungen wichtige Informationen aus der selbstständigen Handschriftenkollation anhand der Transkriptionen oder der Digitalfaksimiles erarbeiten können, wird der Variantenapparat von zahlreichen ,nicht aussagerelevanten‘39 oder dialektbestimmten Varianten entlastet.

Ziel der Dissertation ist es, eine flexible Nutzung der Gesamtüberlieferung der Veronica zu ermöglichen. Elektronisch verfügbar gemachte Faksimiles und durchsuchbare Transkriptionen ermöglichen sprachhistorische und sprachwissenschaftliche Untersuchungen, während die gedruckt vorliegenden Fassungseditionen einen Einblick in die Überlieferungssituation bieten. Eine moderate Normalisierung der Texte (vgl. hierzu Kap. IV.1.2) erleichtert den literaturwissenschaftlichen Gebrauch zusätzlich.

Abschließend seien Hinweise zu den Primärzitaten aus der Veronica II sowie den Textsiglen gegeben: Zitate folgen der Leithandschrift c der Klasse I, sofern nicht anders angegeben.40 Bei den Siglen handelt es sich nicht um die üblicherweise verwendeten Handschriftensiglen, sondern vielmehr um Textsiglen. Die Siglen a-q folgen der Reihung im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder41 und benennen die Blätter, auf denen die Veronica innerhalb eines Codex überliefert ist.42 Obwohl durchaus von Leithandschrift c ← 21 | 22 → oder Handschrift e (usw.) gesprochen wird, stehen die Siglen nicht für den gesamten Codex, sondern für die Blätter, auf denen die Veronica überliefert ist.

1.3 Der Forschungsstand zur Veronica II

1.3.1 Literaturwissenschaftlicher Forschungsüberblick

Die erste und wichtigste Grundlage für die vorliegende Edition der Veronica stellt Band 5 des Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts (RSM) dar, der alle weiteren Arbeiten mit und um die Veronica auf eine sichere Materialbasis stellt. Da die Textüberlieferung von einer Ausnahme abgesehen im RSM vollständig erfasst ist, konnten alle Handschriften und Drucke gezielt bei den Bibliotheken bestellt und eingesehen werden.43 Den maßgeblichen Forschungsüberblick liefert, trotz des Umstandes, dass die aktuellste Auflage des 10. Bandes mittlerweile 13 Jahre alt ist, Schanzes Artikel zur Veronica II. Obwohl eine sehr gute Materialaufarbeitung vorliegt, zeigt der Blick ins VL, dass der Text in der Forschung bis heute kaum Aufmerksamkeit gefunden hat. Schanze nennt in den Literaturangaben insgesamt acht Titel, seine eigenen Erwähnungen der Veronica in Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs44 eingeschlossen. Weder findet der Text in der Sekundärliteratur angemessenen Niederschlag, noch gibt es eine Edition des Textes, die die Überlieferungslage der Legende adäquat darstellt. Wie bereits dargelegt, konnten als Arbeitsgrundlage für eine Beschäftigung mit der Legende bislang neben den Quellenzeugnissen nur ein Teilabdruck in WKL und Karl Eulings Abdruck der niederdeutschen Hildesheimer Handschrift 1945 als Textausgaben herangezogen werden.

Details

Seiten
396
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043167
ISBN (ePUB)
9783653981445
ISBN (MOBI)
9783653981438
ISBN (Hardcover)
9783631652497
DOI
10.3726/978-3-653-04316-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Meistersang Editionswissenschaft New Philology Spruchdichter
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 396 S.

Biographische Angaben

Judith Lange (Autor:in)

Judith Lange studierte Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Geschichte an der RWTH Aachen. Nach Lehrtätigkeiten an der Ruhr-Universität Bochum sowie der Humboldt-Universität zu Berlin ist sie derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Heilsspiegel-Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie.

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