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Dean Gyoyuk – Reformpädagogik in Südkorea

von Jung-In Lee (Autor:in)
©2014 Dissertation 334 Seiten

Zusammenfassung

Die Reformpädagogik – genannt Dean Gyoyuk – stellt eine Neubestimmung der Humanität in den pädagogischen Konzepten in Südkorea dar. Insbesondere die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit steht im Mittelpunkt des pädagogischen Handelns. Vor diesem Hintergrund strebt die Reformpädagogik eine humanitäre Gesellschaft an, in der gute Schulzeugnisse und die Höhe der formalen Bildungsabschlüsse nicht mehr der alleinige Kategorisierungsmaßstab für die Menschen sein sollen. Dean Gyoyuk markiert somit einen Wendepunkt in der bisherigen südkoreanischen Bildungsentwicklung. Diese Untersuchung befasst sich mit der Bildungsgeschichte, dem Bildungssystem sowie aktuellen reformpädagogischen Bewegungen in Südkorea. Erziehung und Bildung werden vor dem Hintergrund geschichtlicher, kultureller, gesellschaftlicher und bildungspolitischer Kontexte analysiert und interpretiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Südkoreas politische und wirtschaftliche Entwicklung im Kontext der Reformpädagogik
  • 1.2. Ziele und Fragestellungen der Arbeit
  • 1.3. Stand der Forschung
  • 1.4. Aufbau der Arbeit
  • 1.5. Methodische Herangehensweise
  • 1.6. Theoretischer Bezugsrahmen: Ronald Inglehart – Wertewandel
  • 1.7. Eingrenzung des Themas
  • 1.7.1. Definition des Begriffs Reformpädagogik
  • 1.7.2. Definition des Begriffs Dean Gyoyuk
  • 1.7.3. Abgrenzung der Dean Gyoyuk gegenüber anderen pädagogischen Reformbewegungen in Südkorea
  • 1.7.4. Abgrenzung der Dean Gyoyuk gegenüber der Reformpädagogik in Europa und den USA
  • 2. Überblick über die Bildungsgeschichte in Südkorea
  • 2.1. Bildung in der Ersten Republik 1945–1960
  • 2.1.1. Amerikanisierung des südkoreanischen Bildungssystems
  • 2.1.2. Die Neue Bildung (Sae Gyoyuk)
  • 2.1.3. Etablierung der amerikanischen Pädagogik
  • 2.2. Bildung von der Zweiten bis zur Vierten Republik 1960–1979
  • 2.2.1. Geistige Umerziehung
  • 2.2.2. Bildung als Instrument für wirtschaftliche Entwicklung
  • 2.3. Bildung in der Fünften Republik 1980–1988
  • 2.3.1. Bildungsreformen der 1980er Jahre
  • 2.3.2. Transformation des Interesses an Bildung
  • 3. Das südkoreanische Bildungssystem und seine aktuelle Entwicklung
  • 3.1. Das heutige südkoreanische Bildungssystem – Aufbau und Übergänge
  • 3.1.1. Die Vorschulerziehung
  • 3.1.2. Die Grundschule
  • 3.1.3. Die Mittelschule
  • 3.1.4. Die Oberschule
  • 3.1.5. Die Hochschule
  • 3.2. Der Konfuzianismus
  • 3.2.1. Die konfuzianische Lehre und Ethik
  • 3.2.2. Die hohe Wertschätzung von Lernen und Bildung
  • 3.2.3. Die Familie
  • 3.3. Merkmale der südkoreanischen Schulkultur
  • 3.3.1. Das auswendig einprägende und reproduzierende Lernen
  • 3.3.2. Das Fremdsprachenlernen
  • 3.3.3. Das Lernverhalten der Schüler
  • 3.3.4. Der Nachhilfe- und Extraunterricht außerhalb der Schule
  • 3.3.5. Das elterliche Engagement hinsichtlich der Lerntätigkeiten ihrer Kinder: Erziehungsfieber (Gyo-yuk-yeol)
  • 3.4. Hochschulabschluss und Statuserwerb
  • 3.4.1. Die Bedeutung der Universität
  • 3.4.2. Die Bedeutung des Universitätszertifikats
  • 3.5. Gegenwärtige Bildungspolitik
  • 3.5.1. 5.31-Bildungsreform: Erneuerte Bildung (Sin Gyoyuk) in der Globalisierungs- und Wissensgesellschaft
  • 3.5.1.1. Die Offene Erziehung (Open Education – Yeollin Gyoyuk)
  • 3.5.1.2. Das 7. Nationale Schulcurriculum
  • 3.5.1.3. Das Projekt „BK 21“ (Brain Korea)
  • 3.5.2. Auswirkungen der gegenwärtigen Bildungspolitik
  • 4. Entstehung und Entwicklung der Reformpädagogik in Südkorea
  • 4.1. Das Entstehen der Reformpädagogik: Die auslösenden Faktoren
  • 4.2. Reformpädagogische Konzepte aus Europa
  • 4.2.1. Waldorfpädagogik
  • 4.2.1.1. Die Anthroposophie in der Waldorfpädagogik
  • 4.2.1.2. Die Entwicklung der vier Wesensglieder des Menschen
  • 4.2.1.3. Die vier Temperamente
  • 4.2.1.4. Methodisch-didaktische Prinzipien der Waldorfpädagogik
  • 4.2.2. Montessori-Pädagogik
  • 4.2.2.1. Grundlagen der Montessori-Pädagogik
  • 4.2.2.2. Sensible Perioden und Polarisation der Aufmerksamkeit
  • 4.2.2.3. Disziplin und Freiheit
  • 4.2.3. Summerhill-Pädagogik
  • 4.2.3.1. Das Menschenbild nach Summerhill
  • 4.2.3.2. Grundgedanken der antiautoritären Erziehung in Summerhill
  • 4.2.3.3. Erziehungsprinzipien in Summerhill
  • 4.3. Philosophische und methodische Grundlagen der Reformpädagogik in Südkorea
  • 4.3.1. Die konfuzianische Erziehungsvorstellung
  • 4.3.2. Das neue Bild vom Kind
  • 4.3.3. Menschlichkeitserziehung (Inseong Gyoyuk)
  • 4.3.4. Ganzheitliche Menschenbildung (Jeonin Gyoyuk)
  • 4.3.5. Natur- und Arbeitserziehung (Jayeongwa Nojak Gyoyuk)
  • 4.3.6. Erfahrungs- und praxisorientierte Erziehung (Tscheheom gwa Silsenghwal Gyoyuk)
  • 4.3.7. Selbstständigkeits- und Berufserziehung (Jaripgwa Jinro Gyoyuk)
  • 4.3.8. Künstlerische und musische Erziehung (Yesul gwa Umak Gyoyuk)
  • 4.3.9. Antiautoritäre Erziehung
  • 4.3.10. Ablehnung von Leistungsdruck
  • 4.4. Problemlagen von südkoreanischen Jugendlichen und Lösungsansätze der Reformpädagogik
  • 4.5. Zur Umsetzung reformpädagogischer Konzepte im südkoreanischen Schulsystem
  • 5. Schlussbetrachtung
  • 5.1. Zusammenfassung
  • 5.2. Abschließende Bemerkung
  • A. Literaturverzeichnis
  • B. Tabellenverzeichnis
  • C. Abbildungsverzeichnis
  • D. Abkürzungsverzeichnis

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1. Einleitung

1.1. Südkoreas politische und wirtschaftliche Entwicklung im Kontext der Reformpädagogik

In der gegenwärtigen Bildungspolitik Deutschlands wird wegen vergleichsweise schwachen Abschneidens des deutschen Bildungswesens bei internationalen Schulleistungsuntersuchungen viel über die Frage diskutiert, wie die Lesekompetenz von Schülerinnen1 und Schülern effektiver gefördert und die Grundbildung in Mathematik sowie den Naturwissenschaften verbessert werden können. Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion steht demnach nicht die Reformpädagogik, sondern eher die Frage, wie Schüler bessere Leistungen erbringen können und wie sich somit die Studienergebnisse verbessern lassen. In Südkorea hingegen wird in der öffentlichen Bildungsdiskussion die konkurrenz- und leistungsorientierte Bildung kritisiert und die Frage gestellt, wie sie verändert bzw. abgebaut werden kann. Die Kritik an der leistungsorientierten Bildung und die Forderung nach Veränderung sind allerdings nicht neu. Diese Diskussion begann in Südkorea bereits in den 1980er Jahren, intensivierte sich mit der Einführung der Reformpädagogik (Dean Gyoyuk2대안교육) seit Mitte der 1990er Jahre und ist bis heute ein Dauerthema der öffentlichen Bildungsdiskussion.

Mitte der 1990er Jahre setzte in Südkorea eine Wende in der Entwicklung des Bildungssystems ein, als der Begriff Reformpädagogik für Fragen der Veränderung des pädagogischen Alltags neu entdeckt wurde. Die Reformpädagogik in Südkorea ist eine junge Erziehungsform, die für neue pädagogische Inhalte und Zielsetzungen steht und die bis heute ihren Schwung nicht verloren hat. Im Jahr 1997 wurde die erste Reformschule in der Provinz Gyungsangnam-do Sancheong im Südosten von Südkorea gegründet, die „Ghandhi-Jugendschule“, die mit 27 Kindern ihren Schulbetrieb aufnahm. Die Gründung galt zu diesem Zeitpunkt als eine Sensation, da die Schule ohne die Genehmigung der Schulbehörde entstanden ← 9 | 10 → war; als Reformschule anerkannt wurde sie erst ein Jahr nach ihrer Gründung. Die staatlich anerkannte Reformschule wird seitdem in Südkorea als Eigenschaftsschule3 (Teukseunghwa Hakgyo – 특성화학교) bezeichnet (Ha 2008; S.-I. Kim 2007; J.-T. Lee 1998; B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008). Im Zuge der reformpädagogischen Bewegung (Dean Gyoyuk Undong) entstanden innerhalb eines kurzen Zeitraumes zahlreiche reformpädagogische Einrichtungen und Reformschulen. Anfang 2009 betrug die Zahl der Reformschulen in Südkorea insgesamt 168 (H. Lee/Hwang/Kang/Ha 2009).

Die Geburtsstunde der reformpädagogischen Bewegung lässt sich offiziell auf den Februar 1995 zurückverfolgen (S.-I. Kim4 2007; B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008; S.-J. Song 2006). Das heißt aber nicht, dass die reformpädagogische Bewegung plötzlich und unvermittelt in diesem Jahr entstanden ist. Vielmehr waren seit Mitte der 1980er Jahre viele pädagogische Reformbemühungen bereits im vollen Gange, die zur Entstehung der Reformpädagogik geführt haben. Diese pädagogischen Bewegungen fanden vornehmlich außerhalb der Schule statt und hatten konkrete Ergebnisse vorzuweisen: Bereits in den 1980er Jahren setzte in Südkorea infolge der politischen Demokratisierung eine pädagogische Bewegung von engagierten Lehrpersonen und Eltern ein, die Gruppe für Alternative Kulturbewegung (Tto Hanaui Munhwa Undong또 하나의 문화 운동), die außerhalb der Schule alternative Bildungsprogramme für Kinder im Grundschulalter anbot. In dieser Zeit lag der Schwerpunkt der pädagogischen Bewegung auf der Verwirklichung der demokratischen Gesellschaft durch die neue Erziehung (B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008, S. 40; S.-J. Song 2006, S. 37). Die alternativen Bildungsprogramme für Schüler wurden zwischen 1986 und 1993 außerhalb der Schule, sowohl am Wochenende als auch in den Ferien in Form von Camps, d. h. Ferien- und Wochenendlagern, mehrmals angeboten und durchgeführt (S.-I. Kim 2007, S. 214; J.-T. Lee 1998. S. 93f).

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Anfang der 1990er Jahre war in Südkorea die von der Bevölkerung lang ersehnte Demokratie erreicht, und das Land befand sich inmitten eines dynamischen Gesellschaftswandels. Mit der Veränderung der Gesellschaft und ihrer Werte, die die Ziele der Erziehung wesentlich beeinflussten, wandelten sich auch die Ziele der reformorientierten Interessengruppen. Die pädagogischen Programme für Kinder und Jugendliche wurden von verschiedenen Trägern der Reformideen in unterschiedlicher Art und Weise organisiert und durchgeführt, wobei der Schwerpunkt auf neuen und alternativen pädagogischen Themen lag. In Wochenend- und Ferienlagern wurden hauptsächlich solche erfahrungsbezogenen und naturbetonten Aktivitäten angeboten, welche die Schüler aufgrund der etablierten leistungsorientierten Vermittlung von Wissen in der Schule selbst nicht erfahren konnten. Zu nennen sind etwa das Wandern, Theaterspielen, Kochen, Bergsteigen, Gärtnern und Pflegen von Tieren, aber auch das Diskutieren (S.-I. Kim 2007; B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008). Im Februar 1995 wurde zum ersten Mal in der Stadt Daejon-Yuseong eine Versammlung der reformorientierten Gruppen und Camps-Anbieter organisiert, an der insgesamt 45 Mitglieder 17 verschiedener Gruppen teilnahmen. Während dieser Zusammenkunft wurden die Missstände des südkoreanischen Bildungssystems diskutiert und folgende wichtige Eckpunkte für dessen Reform festgelegt: die Betonung einer gemeinschaftlichen, humanitären und naturfreundlichen Erziehung, eine Erziehung mit Freiheit und Autonomie, eine schülerorientierte Unterrichts­methode und Lernen durch Selbsterfahrung (S.-I. Kim 2007, S. 214; B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008, S. 39f; S.-J. Song 2006, S. 37). Die Aktivisten für die reformpädagogische Erziehung bemühten sich um die Verbreitung und Verwirklichung dieser Ideen. Viele Informationsveranstaltungen, Workshops und Symposien wurden angeboten, an denen nicht nur Wissenschaftler, Pädagogen und Lehrer teilnahmen, sondern auch Eltern, Arbeiter, Verleger, Studierenden und Interessierte unterschiedlicher Berufsschichten (B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008, S. 68). Die Bewegung stieß auf das Interesse eines breiten gesellschaftlichen Spektrums.

Zu den bekannten Vertretern der Reformpädagogik in Südkorea zählen folgende Personen: Jae-Won Do (Leiter der Geochang-Oberschule), Hee-Gyu Yang (Leiter der Gandhi-Schule), Gu-Byung Yun (Leiter der Byunsan-Schule), Yoo- Seong Cheong (Professor an der Seogang-Universität), Byung-Hun Ko (Professor an der Seogang-Universität) und Sun-Jae Song (Professor an der Universität für Methodistische Theologie), Duk-Myung Hwang (Verleger der Zeitschrift Tcheoum Tcherum – dt. ‚Wie am Anfang‘) und Byung-Ho Hun (Verleger der Zeitschrift Mindlle dt. ‚Löwen­zahn‘) (Hong, 2001, S. 34). Sie hielten öffentliche Vorträge, stellten ausländische Modelle und philosophische Grundlagen der Reformpädagogik vor, gaben Zeitschriften heraus und veröffentlichten eine Reihe von Aufsätzen zur Reformpädagogik (S.-I. Kim 2007, S. 39, S. 214).

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Der Ausgangspunkt der reformpädagogischen Bewegung (Dean Gyoyuk Undong) in Südkorea war die Kritik am offiziellen Bildungssystem, dessen gesamte Bildungsgänge von der Grundschule bis zur Oberschule vorrangig auf die Vorbereitung für die Universitätsaufnahmeprüfung ausgerichtet und somit extrem leistungsorientiert waren (Son 2005). Je nachdem, wo die inhaltlichen Schwerpunkte der Universitätsaufnahmeprüfung lagen, unterscheiden sich die Lernziele in der Schulpraxis. Im Hinblick darauf beschränken sich die didaktischen Maßnahmen auf die mechanische Wissensvermittlung. Das Lernverhalten der Schüler blieb im Rahmen der ein­seitigen, notenorientierten Wissens­aneignung ganz ohne eigenständiges Denken und Handeln und war auf die mechanische Reproduktion von auswendig gelernten Informationen reduziert. Erziehungsformen und -fächer, die bei diesem Leistungserwerb nicht mithielten, konnten dabei kaum an Bedeutung gewinnen. Außerschulische Aktivitäten wie Sport, Kunst und Musik waren im Bildungssystem nicht erwünscht, da sie sich nicht direkt auf den Erwerb einer besseren Note für die Universitätsaufnahmeprüfung bezogen. Der „Kampf“ um gute Schulleistung und um das Bestehen der Universitätsaufnahmeprüfung setzte Schüler unter einen enormen Leistungs- und Konkurrenzdruck. Um gute Leistungen zu erbringen und das gewünschte Bildungszertifikat einer Hochschule zu bekommen, waren sie zu monotonem Auswendiglernen und Leistungskonkurrenz gezwungen; für die Förderung von Kreativität und Persönlichkeit war wenig Raum. Das Lernziel war funktionalistisch ausgerichtet, das Lernen sollte primär dem Zweck dienen, mit den vollbrachten schulischen Leistungen an einer renommierten Universität studieren zu können. Die allein auf die Aufnahme­prüfung hin orientierte Schulbildung war mitverantwortlich für den harten Konkurrenzkampf um die besten Schulnoten. Da der Bildungserfolg der Kinder in Südkorea zudem nicht als persönliche Angelegenheit des Individuums, sondern immer als Erfolg der ganzen Familie betrachtet wurde, verstärkte sich der ohnehin enorme Druck für die südkoreanischen Schüler noch. Diese bis heute in Südkorea vorherrschenden Vorstellungen vom Lernen und die didaktischen Konzeptionen der Erziehungs- sowie Schulpraxis sind Elemente, die sich in den letzten Jahrhunderten insbesondere in der konfuzianischen Tradition manifestiert haben. Diese traditionelle Leistungsideologie wird inzwischen nicht nur von einzelnen Personen als ein privates Bildungsproblem angesehen, sondern von vielen Bildungsbeteiligten als ein ernsthaftes soziales Problem anerkannt, mit dem das moderne Bildungssystem in Südkorea zu kämpfen hat.

Schüler werden im modernen südkoreanischen Schulsystem je nach schulischer Leistung in „gut“ und „weniger gut“ klassifiziert. Die als „gut“ eingestuften Schüler stehen unter enormem Leistungsdruck, da sie sich für die sich ihnen weiter ← 12 | 13 → eröffnenden Möglichkeiten qualifizieren müssen. Als „weniger gut“ eingeordnete Schüler erhalten dagegen erst gar keine Chancen auf weiterführende Bildung und Karriere. Dies hat nicht selten Auswirkungen auf ihre körper­liche und geistige Entwicklung: Minderwertigkeitskomplexe und Perspektivlosig­keit sind oft die traurigen Folgen, an denen viele Jugendliche zerbrechen (vgl. Y.-S. Cheong 1997). Eine steigende Kriminalitätsrate und eine hohe Suizidrate unter Jugendlichen in Südkorea sind ebenfalls ein eindeutiger Beweis für deutliche Missstände im Bildungssystem (vgl. B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008).

Mit der Dean Gyoyuk, der Reformpädagogik, soll eine Neubestimmung der Humanität in den pädagogischen Konzepten stattfinden. Insbesondere soll die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in den Mittelpunkt des pädagogischen Handelns gerückt werden. Vor diesem Hintergrund strebt die Reformpädagogik eine humanitäre Gesellschaft an, in der gute Schulzeugnisse und die Höhe der formalen Bildungsabschlüsse nicht mehr als ein Kategorisierungsmaßstab für Menschen sein sollen. Es wird damit in Südkorea eine neue pädagogische Form geschaffen, mit neuen Ansätzen, Methoden und Zielen, die sich von der herkömmlichen Bildung eindeutig unterscheidet. Hier findet ein Wertewandel im pädagogischen Bereich statt: weg von der traditionellen, notenorientierten Bildungsvorstellung hin zu einer humaneren Form der Bildung. Die Reformpädagogik sollte aber nicht nur als Kritik oder einfache Ablehnung der gegenwärtigen Erziehungspraxis auf­gefasst werden (Y.-S. Cheong 1997, S. 51). Sie gilt vielmehr als der Versuch, „einen neuen pädagogischen Weg“ mit humanistischen Gedanken in der pädagogischen Praxis zu erschließen (B.-H. Lee/Y.-S. Kim 2008, S. 226). Sie möchte mit neuen Zielen, Methoden und Inhalten Impulse zur Weiterentwicklung von neuen pädagogischen Möglichkeiten geben. Dean Gyoyuk markiert hiermit einen Wendepunkt in der bisherigen Bildungsentwicklung in Südkorea. „Lernen für eine mögliche bessere Gesellschaft von Morgen, die einen Teil der alltäglich empfundenen Unzulänglichkeiten zu verbessern versucht, ist die umfassendste Zielstellung“ der Reformpädagogik (Röhrs 1994, S. 334). Schließlich haben die reformpädagogischen Schulen nicht nur aufgrund ihrer „pädagogischen Stabilität und Entwicklungsfähigkeit modellhaften Charakter, sondern sie repräsentieren insgesamt Beispiele einer guten Schule mit einer lebendigen Methode“ (ebd.).

Südkorea gehört zu den ostasiatischen Gesellschaften, die sich ökonomisch und politisch auf dem Konfuzianismus gründen. Der Konfuzianismus als philo­sophische Grundhaltung hat die Kultur der südkoreanischen Bevölkerung tief beeinflusst. Er ist die älteste etablierte Tradition in der südkoreanischen Gesellschaft und hat in den letzten 500 Jahren bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorstellungen über Bildung und Erziehung grundlegend geprägt; seine Spuren ← 13 | 14 → sind bis heute in vielen Alltagssituationen zu finden. Als Beispiele seien etwa die respektvolle Umgangs- und Anredeform gegenüber älteren Menschen genannt, das hierarchisch strukturierte und autoritäre Lehrer-Schüler-Verhältnis, die Anpassung und Zurückhaltung in der Gruppe, die als eine Form der Höflich­keit betrachtet wird oder auch die Betonung der Gruppenzugehörigkeit. Bis heute sind die Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuche, Umgangsformen und ganz generell Normen der südkoreanischen Gesellschaft häufig konfuzianisch geprägt, ohne dass dies der Bevölkerung explizit bewusst wäre. Diese Prägung kann als eine der kulturellen Besonderheiten Südkoreas verstanden werden.

Südkorea zählt heute – nach 40 Jahren rapider und erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung – zu den entwickelten Industrieländern. Im Jahr 1996 trat das Land der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bei.5 Gemessen am Bruttosozialprodukt liegt Südkorea wirtschaftlich auf Platz 13 der Weltrangliste.6 Noch vor gut 50 Jahren galt Südkorea wirtschaftlich gesehen als ein armes Entwicklungsland (Machetzki/Pohl 1988, S. 172).7 Die Spuren der 35jährigen japanischen Kolonialisierung (1910–1945)8 und des Koreakrieges (1950–1953) waren noch bis zu Anfang der 1960er Jahre allgegenwärtig. Trotz der umfangreichen westlichen Entwicklungshilfe in den 1950er Jahren ging es Südkorea wirtschaftlich kaum besser (Hillebrand 1987). Erst in den 1960er Jahren begann Südkorea unter der Regierung von Chung-Hee Park (1961–1979), wesentliche wirtschaftliche Fortschritte zu machen.9 Unter dem Motto „Die Modernisierung Koreas“ begann die ← 14 | 15 → militärisch orientierte Regierung von Chung-Hee Park, das Bildungssystem sowohl politisch zu instrumentalisieren als auch wirtschaftlich umzugestalten und drängte auf eine konsequente Politik der wirtschaftlichen Entwicklung. Obwohl es keine demokratischen Rechte wie z. B. Meinungsfreiheit oder faire Wahlen gab, beteiligten sich die Menschen in Südkorea mit Be­geisterung an der Umsetzung der auf die Wirtschaftsentwicklung gerichteten Politik. Industrialisierung und Exporte stiegen an und das Bruttoinlandsprodukt wuchs jährlich um zehn Prozent.10 In dieser Zeit erfuhr das Land eine rasche industrielle Entwicklung und wandelte sich somit von einer agrarisch geprägten Nation zu einem modernen Industriestaat. Gleichzeitig wurde das Bildungssystem nach westlichem Modell reformiert und die Bildung breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht, da man hierin das zukünftige Kapital des Landes sah. Im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums war die existenzielle Armut des Landes bald überwunden. Damit verbesserte sich der durchschnittliche Lebensstandard der Südkoreaner. Technischer Fortschritt, ökonomische Wohlstandssteigerung und Modernisierung wurden zu Synonymen für Erfolg. Die erfolgreiche Industrialisierung war allerdings verbunden mit einem einseitigen, planvoll entwickelten Wirtschaftswachstum, das eine Reihe von soziokulturellen Änderungen mit sich brachte. Dazu zählen etwa die Widersprüchlichkeit zwischen Tradition und Moderne, der Verlust der tradierten Wertesysteme und nicht zuletzt das Schulsystem, in dem nach wie vor noten­orientierte und traditionelle konfuzianische Erziehungsmethoden Anwendung finden. Insbesondere letzteres entspricht nicht den veränderten und westlich orientierten Wertvorstellungen der Heranwachsenden, die den Wert einer Persönlichkeit nicht nach den Schulnoten bemessen möchten und im Vergleich zu der älteren Generation über ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein verfügen (M.-C. Kim 1994).

Mit der positiven ökonomischen Entwicklung und der zunehmenden sozialen Sicherheit wuchs in den 1970er Jahren bei der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit dem diktatorischen Regierungsstil.11 Es entstand eine erste Bewegung für ← 15 | 16 → Demokratie, die der Diktatur Widerstand leistete. Die Demonstrationen wurden jedoch brutal unterdrückt. Die aufkeimende Hoffnung der Südkoreaner auf Demokratie erfüllte sich damals noch nicht. Nach der Ermordung Parks im Jahr 1979 erlebte das Land erneut einen abrupten politischen Wechsel.12 Dieser erneute Militärputsch löste eine heftigere Studentendemonstration aus. Die Forderungen nach Demokratie wurden immer lauter. Die demokratische Bewegung, die anfangs nur auf politischer Ebene aktiv war, erstreckte sich allmählich auf weitere Bereiche, einer davon war die Pädagogik. Mitte der 1980er Jahre intensivierte sich die Widerstandsbewegung zu einer Protestwelle, die durch die Verfassungsreform eine direkte Präsidentschaftswahl und formale Demokratisierung einleitete. Im Dezember 1987 wurde Ex-General Tae-Woo Roh (Amtszeit: 1988–1993)13 in der ersten direkten Präsidentschaftswahl zum neuen Präsidenten gewählt. Damit fand die erste friedliche Machtübergabe in der 40jährigen modernen Geschichte Südkoreas statt. Dieser Demo­kratisierungsprozess erstreckte sich auch auf das Schulwesen und führte zu einer Förderung antiautoritärer Erziehung in den Schulen. Engagierte Lehrer, die zu Mitgliedern der neu gegründeten demokratischen Lehrergewerkschaft geworden waren, trugen zu dieser Erneuerung der Bildung und Erziehung bei (Son 2005). Bei den Wahlen im Dezember 1992 wählte Südkorea mit Young-Sam Kim (Amtszeit: 1993–1998) seinen ersten zivilen Präsidenten. Die Zeit der Militärdiktatur war somit beendet.14 Während seiner Amtszeit beseitigte Kim allmählich die autoritären Regierungsformen, nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der pädagogischen Ebene.

Es wurden in diesen Jahren etliche Neuerungen im pädagogischen Bereich umgesetzt: So wandelten sich etwa vom Staat monopolisierte Lehrpläne zu demokratischen und dezentralisierten Bildungsplänen, außerdem konnten die Befugnisse der jeweiligen Schulverwaltung und die Autonomie der jeweiligen Schule ← 16 | 17 → verstärkt und erweitert werden u. a. m. Vor allem die durch die diktatorische Regierung autoritär geprägten Inhalte der Schulbücher, welche besonders auf politisch und wirtschaftlich etablierte Denk- und Wertemuster (Loyalität, Gehorsam etc.) rekurrierten und sich für die ideologische Indoktrinierung eigneten, wurden durch die demokratische Bewegung in hohem Maße beeinflusst.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der südkoreanischen Gesellschaft, verbunden mit der Industrialisierung, ein Modernisierungsprozess in Gang gesetzt worden ist, der eine gesamtgesellschaftliche Umwälzung mit sich brachte. Der Übergang zur Demokratie vollzog sich vor dem Hintergrund einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung. Die radikale wirtschaftliche Entwicklungsstrategie, die nur an Wachstum und Armutsbekämpfung orientiert war, tritt inzwischen in den Hintergrund. Für viele Südkoreaner steht heute der Wunsch nach materieller und physischer Sicherheit nicht mehr im Vordergrund. Man schenkt Lebensbereichen mehr Beachtung, die früher nicht relevant waren, so etwa der Lebensqualität, Selbstverwirklichung, Sinnsuche oder dem freiwilligen ehrenamt­lichen Engagement. Auch im pädagogischen Bereich werden neue Gedanken laut. Das südkoreanische Bildungssystem, das trotz der ständigen bildungspolitischen Reformversuche unverändert notenorientiert geblieben ist, gerät zunehmend in die Kritik. Insbesondere werden der Leistungs- und Prüfungsdruck sowie das Bildungsziel der Vorbereitung auf die Universitätsaufnahme­prüfung kritisiert.

Die Südkoreaner haben innerhalb des kurzen Zeitraumes von 30 Jahren einen dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess durchlaufen, der durch ein widerspruchvolles Bild von quantitativem Fortschritt durch Wirtschaftswachstum auf der einen und qualitativer Verschiebung in soziokulturellen Bereichen auf der anderen Seite charakterisiert werden kann. Bildung und Erziehung markieren in diesem Kontext die Stelle, an der dieses widerspruchsvolle Bild aufgrund der Konflikte zwischen traditionellen und modernen Erziehungswerten und -zielen am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Werte wie Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Respekt vor anderen Menschen oder das harmonische Miteinander im Alltagsleben, die in Südkorea aufgrund der konfuzianischen Lehre lange Zeit bewahrt worden waren, aber in der jüngeren Vergangenheit allmählich verloren gegangen sind, werden wieder wahrgenommen. Der Erziehungs- und Unterrichtsprozess soll sich „wieder an den organisch gewachsenen erzieherischen Naturformen der Familie, Werkstatt, Lebensgemeinschaft“ (Röhrs 1994, S. 299) etc. orientieren. Das heißt aber nicht, dass man in die Vergangenheit zurückkehrt oder die traditionellen Erziehungswerte zurückholen möchte. Man nimmt die heutige Realität wahr und versucht einen neuen zukunftsweisenden Weg zu erschließen.

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Im Jahr 1995 trat nun in der südkoreanischen Gesellschaft eine neue Erziehungsform hervor, die sich Reformpädagogik nennt. Diese Pädagogik unterscheidet sich grundlegend von früheren Formen: Zum einen entstand sie kurz nach der Demokratisierung des Landes, die die Grundlage für neue Werte und Überzeugungen schaffte, aus gesellschaftsbedingten Notwendigkeiten heraus, zum anderen nahm die Idee von dieser neuen Erziehungsform bei den Angehörigen der Bildungsbeteiligten selbst Gestalt an, wurde also von „engagierten Eltern, Lehrergruppen und Pädagogen“ entwickelt und vorangetrieben (S.-I. Kim 2007, S. 27). Daher lässt sich in diesem Zusammen­hang die These aufstellen, dass in Südkorea mit der Reformpädagogik eine neue pädagogische Epoche eingeleitet wurde und sich eine neue Geisteshaltung im Land ausbreitet.

1.2. Ziele und Fragestellungen der Arbeit

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Reformpädagogik in Südkorea. Für das angemessene Verständnis des Themas wird der gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Kontext durchleuchtet. „Das Bildungssystem wird von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft geformt und formt diese wiederum aufgrund von mannig­fachen Rückkoppelungseffekten.“ (Allemann-Ghionda 2004, S. 57) Bildung und Erziehung in Süd­korea sind dementsprechend das Resultat der geschichtlichen sowie der kulturellen, politischen und wirtschaft­lichen Entwicklung. Aus diesem Grund soll zuerst dargelegt werden, inwiefern die jeweiligen Machthaber das südkoreanische Bildungssystem bei der Durchsetzung ihrer politischen und wirtschaftlichen Zwecke sowie zur Stabilisierung ihrer Herrschaft in Süd­korea instrumentalisiert haben und wie sich dies auf das heutige südkoreanische Bildungs­system und die südkoreanische Bevölkerung auswirkte. Ein weiteres Ziel der Arbeit besteht darin, die Ursachen und Problematik des enormen Leistungs- und Konkurrenzdrucks unter südkoreanischen Schülern einerseits und die Bedeutung des Erwerbs von Universitäts­zertifikaten andererseits zu analysieren. Ferner soll der Charakter der Reformpädagogik in Südkorea anhand der philo­sophischen und methodischen reformpädagogischen Ansätze anschaulich dargestellt werden. Dabei werden die zu­grunde liegenden reformpädagogischen Prinzipien erläutert und analysiert, besonders dann, wenn sie sich konzeptionell von der offiziellen Schulbildung unterscheiden.

Auf der Grundlage der im einleitenden Kapitel beschriebenen Darstellung geht die vorliegende Arbeit folgenden Fragestellungen nach:

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 Wie lassen sich die Merkmale der südkoreanischen Schulkultur charakterisieren?

Details

Seiten
334
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044676
ISBN (ePUB)
9783653983746
ISBN (MOBI)
9783653983739
ISBN (Hardcover)
9783631653104
DOI
10.3726/978-3-653-04467-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Bildungsgeschichte in Südkorea Elterliches Engagement Bildungssystem Konfuzianische Lehre
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 334 S., 44 Tab., 11 Graf.

Biographische Angaben

Jung-In Lee (Autor:in)

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Titel: Dean Gyoyuk – Reformpädagogik in Südkorea
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