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Compliance und Rechtsstaat

Zur Freiheit von Selbstbelastung bei Internal Investigations

von Björn Kruse (Autor:in)
©2014 Dissertation XVII, 255 Seiten

Zusammenfassung

Rechtsstaatliche Abwehrprinzipien bedürfen der konsequenten Umsetzung in allen Bereichen staatlicher Ermittlungstätigkeit. Auch das Phänomen der Internal Investigations lässt keine Ausnahme von diesem Grundsatz zu und kann die Strafverfolgungsbehörden nicht von ihrer Verantwortung freisprechen, den eigenen Anforderungen auch bei Ausnutzung privater Ermittlungsergebnisse zu genügen. Deshalb muss das intradisziplinäre Spannungsverhältnis zwischen arbeitsrechtlicher Auskunftspflicht und strafprozessualer Selbstbelastungsfreiheit durch ein selbstständiges strafprozessuales Beweisverwendungsverbot aufgelöst werden. Dies ist erforderlich, um der rechtlichen Verselbstständigung der Compliance, fernab des originären Anwendungsbereichs der Prinzipien des Strafprozesses, entgegenzuwirken und das Risiko einer Subkultur im Bereich der Wirtschaftskriminalität zu entschärfen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Widmung
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Das Nemo-tenetur-Prinzip im rechtsstaatlichen Strafprozessrecht
  • A. Freiheit als Grundlage staatlichen Rechts
  • B. Ein prinzipienorientiertes Strafrecht zur Begrenzung staatlicher Macht
  • I. Zwang zur Sicherung des Rechtszustands
  • II. Strafe als Ausdruck der Strafgerechtigkeit
  • III. Strafgesetzlichkeit als Maßstab staatlicher Gesetzgebung
  • IV. Die Erforderlichkeit machtbegrenzender Schutzprinzipien
  • C. Die verfassungsrechtliche Umsetzung rechtsstaatlicher Anforderungen
  • I. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Verfassungsrecht
  • II. Das Prinzip des fairen Verfahrens als wesentlicher Bestandteil des rechtsstaatlichen Strafprozesses
  • D. Rechtsgrundlage
  • I. Anspruch auf rechtliches Gehör Art. 103 I GG
  • II. Freiheit der Person Art. 2 II GG
  • III. Gewissensfreiheit Art. 4 I GG
  • IV. Die Grundlage des Art. 2 I GG
  • V. Der Bezug zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG
  • 1. Der Menschenwürdegehalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • 2. Die Selbstbelastungsfreiheit und der Kernbereich der Menschenwürde
  • 3. Die Selbstbelastungsfreiheit als Kern des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • VI. Rechtsstaatsprinzip Art. 20 III GG
  • VII. Resümee und Ausblick auf den Umgang mit Selbstbelastung
  • Kapitel 2: Organisation und Motive der Corporate Compliance
  • A. Corporate Compliance
  • B. Motive für Compliance
  • I. Korruptionsgesetze in den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien
  • 1. United States Foreign Corrupt Practices Act (FCPA)
  • 2. Sarbanes-Oxley Act (SOA)
  • 3. United Kingdom Bribery Act (UKBA)
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Deutsche Korruptionsdelikte und Unternehmensverantwortlichkeit
  • 1. Deutscher Corporate Governance Kodex
  • 2. Strafrechtliche Individualverantwortlichkeit
  • 3. Unternehmensverantwortlichkeit
  • III. Reputationsschäden
  • IV. Pflicht zur Compliance
  • 1. Der Deutsche Corporate Governance Kodex und spezialgesetzliche Regelungen
  • 2. § 130 OWiG
  • 3. US-amerikanische Regelungen
  • 4. Zwischenergebnis
  • C. Compliance-Organisation
  • I. Präventive Compliance
  • 1. Internationale Standards eines Compliance-Management-Systems (CMS)
  • 2. Präventive Elemente eines Compliance-Management-Systems
  • a) Ethikrichtlinien
  • b) Risikoanalyse
  • c) Besondere Richtlinien
  • d) Weitere Präventionsmaßnahmen
  • aa) Interne Maßnahmen
  • bb) Externe Maßnahmen
  • e) Compliance-Beauftragter
  • f) Überbordende Anforderungen an präventive Compliance-Maßnahmen
  • II. Repressive Compliance
  • 1. Whistleblowing und Ombudsmänner im Hinweisgebersystem
  • 2. Internal Investigations
  • 3. Externe Anwaltskanzleien
  • 4. Repressive Compliance als verlängerter Arm der Strafverfolgungsbehörden
  • a) Der Umgang des Unternehmens mit Ermittlungsergebnissen der Compliance
  • aa) Motive der Bad Compliance
  • bb) Motive der (Good) Compliance
  • b) Compliance-Mitarbeiter als Gehilfe der Staatsanwaltschaft
  • III. Zwischenergebnis
  • Kapitel 3: Die Verwertbarkeit von Ermittlungsergebnissen der repressiven Compliance im Lichte des Nemo-tenetur-Prinzips
  • A. Rechtsnatur der Compliance
  • I. Compliance als „weiches Vorverfahren“
  • II. Drittwirkung strafprozessualer Prinzipien
  • III. Trennung von Privatrecht und Strafprozess als Status quo
  • B. Beweisgewinnung im Strafprozess
  • I. Interviewprotokolle als Urkundenbeweis
  • 1. Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO
  • 2. Umgehung des Richterprivilegs gemäß § 254 StPO
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Die Editionspflicht des § 95 StPO
  • III. Die Beschlagnahme der Interviewprotokolle
  • 1. Die Beschlagnahme der Interviewprotokolle im Gewahrsam der Sozietät
  • a) Die Beschlagnahme gemäß § 97 StPO
  • aa) Der Beschlagnahmeschutz des § 97 I Nr. 3 StPO (LG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2010)
  • bb) Der Gewahrsam des Berufsgeheimnisträgers gemäß § 97 II StPO
  • b) Der Beschlagnahmeschutz des § 160a StPO und das Verhältnis zu § 97 I Nr. 3 StPO (LG Mannheim, Beschluss vom 3.7.2012)
  • 2. Die Beschlagnahme der Interviewprotokolle im Gewahrsam des Mandanten
  • a) Der Beschlagnahmeschutz des § 148 StPO
  • aa) LG Bonn (Beschluss vom 21.06.2012) vs. LG Gießen (Beschluss vom 25.6.2012)
  • bb) Der effektive Schutz des Vertrauensverhältnisses im Lichte des § 148 StPO
  • b) Auslegung des § 160a I S. 5 StPO
  • IV. Die Befragung des Compliance-Beauftragten als Zeuge
  • V. Zwischenergebnis
  • C. Rechtswidriger Aussagezwang und Beweisverbote im Strafprozess
  • 1. Beeinflussung des freien Willens durch Zwang
  • 2. Aussagefreiheit und Duldungspflicht
  • 3. Herausgabe von Beweismaterial
  • 4. Der Schutz des Nemo-tenetur-Prinzips
  • a) Belehrungspflichten – Die Kehrseite der Selbstbelastungsfreiheit
  • b) Der Schutz von Verfahrensprinzipien durch Beweisverwertungsverbote
  • aa) Die Berechtigung eines Beweisverwertungsverbots
  • bb) Selbstständige und unselbstständige Beweisverwertungsverbote
  • cc) Gesetzliche und nicht normierte Beweisverwertungsverbote
  • dd) Die Begründung selbstständiger Beweisverwertungsverbote
  • ee) Die Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten
  • ff) Die Beachtlichkeit hypothetisch rechtmäßiger Beweisgewinnung
  • gg) Das Zwangsmittel- und Beweisverwertungsverbot zum Schutz des Nemo-tenetur-Prinzips
  • c) Schweigen zum Nachteil des Angeklagten?
  • aa) Schweigen während des gesamten Verfahrens
  • bb) Schweigen in einzelnen Verfahrensabschnitten
  • cc) Schweigen zu einer von mehreren Taten
  • dd) Schweigen auf einzelne Fragen
  • D. Spannungsverhältnis zwischen arbeitsrechtlicher Pflicht und strafprozessualer Selbstbelastungsfreiheit
  • I. Mitwirkungspflichten des Arbeitnehmers im unmittelbaren Zusammenhang mit der Arbeitsleistung
  • 1. Die Auskunft als vertragliche Hauptpflicht des Arbeitnehmers §§ 611, 241 I BGB
  • 2. Nebenpflichten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses
  • a) Allgemeine vertragliche Nebenpflichten
  • b) Auskunftspflicht als besondere vertragliche Nebenpflicht
  • 3. Auskunftspflicht nach Weisungsrecht gemäß §§ 666, 675 BGB
  • 4. Delegation des Auskunftsanspruchs an externe Ermittler
  • 5. Weitere Mitwirkungspflichten des Arbeitnehmers
  • 6. Arbeitsrechtliche Konsequenzen
  • 7. Das Spannungsverhältnis zwischen arbeitsrechtlichen Pflichten und strafprozessualen Rechten
  • II. Das arbeitsrechtliche Auskunftsverweigerungsrecht vor dem Hintergrund weiterer Spannungsverhältnisse
  • 1. Der „Gemeinschuldner-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts
  • a) Die Vollstreckbarkeit eines Auskunftsanspruchs im Konkursverfahren im Lichte eines Auskunftsverweigerungsrechts
  • b) Strafrechtliches Beweisverwertungsverbot
  • 2. Die Selbstbelastungsfreiheit im Besteuerungsverfahren
  • 3. Parallelität zur Vollstreckung arbeitsrechtlicher Auskunftspflichten
  • a) Besonderheiten des Besteuerungs- und Konkursverfahrens
  • b) Der Transfer auf das arbeitsrechtliche Spannungsverhältnis
  • 4. Zivilrechtliche Ansätze zur Lösung des Spannungsverhältnisses
  • a) Belehrungs- und Hinweispflichten aufgrund arbeitsrechtlicher Fürsorgepflicht
  • b) Die Verhältnismäßigkeit der Interviews im Lichte des Zurückbehaltungsrechts
  • c) Die Unzumutbarkeit der Auskunftserteilung gemäß § 275 III BGB
  • 5. Zwischenergebnis
  • E. Zur Unzulässigkeit strafrechtlicher Verwendung von Internal Investigations der Compliance
  • I. Die Beteiligung der Compliance am staatlichen Ermittlungsverfahren
  • 1. Die Zulässigkeit privater Ermittlungen
  • 2. Grenzen privater Ermittlung
  • 3. Zulässigkeit der Internal Investigations
  • II. Die Zwangsqualität der Interviews
  • 1. Freiwillige Angaben des Befragten
  • 2. Mitwirkung im Bewusstsein der Auskunftspflicht
  • a) Die Zwangsqualität der Auskunftspflicht
  • b) Die Berücksichtigung faktischen Zwangs
  • c) Zwischenergebnis
  • III. Zurechnung durch Veranlassung der Strafverfolgungsbehörde
  • IV. Die Berücksichtigung erzwungener Interviews im Rahmen des Strafprozesses
  • 1. Die Regelungslücke durch die Schutzlosigkeit des Befragten
  • 2. Die Zwangsmittel des Zivil- und Strafrechts im Lichte der Einheit der Rechtsordnung
  • a) Die Zweckentfremdung zivilrechtlich rechtmäßigen Zwangs
  • b) Parallelität zum „Gemeinschuldner-Beschluss“
  • 3. Die Revisibilität außerstrafprozessual erzwungener Auskünfte
  • a) Die Beweisverwendungsverbote des Steuer- und Insolvenzrechts
  • b) Beweisverwertungs- und Beweisverwendungsverbote
  • c) Inhalt und Reichweite des § 393 II AO
  • d) Inhalt und Reichweite des § 97 I 3 InsO
  • aa) Auskunfts- und Mitwirkungspflichten
  • bb) Die Verwendung der Auskunft des Schuldners im Strafprozess
  • e) Die analoge Lage im Strafprozess
  • 4. Die Erforderlichkeit einer Ausstrahlungswirkung des Nemo-tenetur-Prinzips
  • a) Die Übertragbarkeit der Wertungen des „Gemeinschuldner-Beschlusses“
  • aa) Insolvenzrecht versus Arbeitsrecht
  • bb) Gesetzliche Rechtsfolge versus freiwillige Verpflichtung
  • cc) Vollstreckbarkeit der Auskunftspflicht als entscheidendes Zwangsmerkmal
  • b) Zum Beweisverwertungsverbot wegen staatlicher Nutzung von privaten Ermittlungsergebnissen
  • 5. Offenbarungsverbot
  • 6. Rechtsgrundlage des Beweisverwertungsverbots
  • 7. Die Reichweite des Beweisverwertungsverbots
  • a) Fehlende Belehrung im Interview
  • b) Die Auskunft und deren Informationsträger
  • c) Geschäftsunterlagen und strafrechtlich relevante Dokumente
  • d) Die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe
  • e) Der Schutz des Nemo-tenetur-Prinzips bei drohender intradisziplinärer Verwendung
  • Kapitel 4: Ergebnisse im Überblick
  • Literaturverzeichnis
  • Internetangaben (Abrufdatum 29.1.2014)

← XVIII | 1 → Einleitung

Der Begriff Compliance ist in aktiengesellschaftlichen Unternehmensstrukturen allgegenwärtig und hat sich als ein fester Bestandteil der Unternehmensorganisation etabliert. Dazu haben insbesondere medienwirksame korruptions-1, daten-2 und kartellrechtliche3 Verfahren in Großunternehmen sowie eine verschärfte unternehmensbezogene Gesetzgebung und Gesetzesanwendung beigetragen. Auch in Zukunft wird das Thema Compliance keine „Binsenweisheit“4 oder „Modewort“5 sein, sondern, gerade im Hinblick auf die Unternehmensverantwortlichkeit und eine etwaige Strafbarkeit juristischer Personen,6 im Rahmen der Unternehmensstrukturen wegweisend bleiben7.

Ungeachtet genauer Begriffsbestimmungen wird Compliance allgemein mit der Einhaltung von Regeln und Gesetzen definiert.8 Damit ist zunächst nicht viel gesagt und es erklärt vor allem auch nicht, warum Compliance zunehmend an Bedeutung im Wirtschaftsleben gewinnt. „Normen des positiven Rechts sind stets auf Geltung berechnet“9, es ist daher eher ein „in allen Rechtsstaaten selbstverständliches Prinzip“10, ← 1 | 2 → die Regeln und Gesetze einzuhalten. „So allgemein verstanden ist es weder neu noch besonders aufregend, dass es Compliance gibt.“11 Vielmehr ist das ‚Wie‘, also die Umsetzung eines konformen Verhaltens in Unternehmensstrukturen, das wesentliche Ziel der Compliance. Dies beinhaltet unter anderem organisatorische Maßnahmen des Risikomanagements, um rechtswidrigen Handlungen entgegenzuwirken und zudem internes Fehlverhalten repressiv aufzudecken. Letztere Compliance-Maßnahmen bezwecken auch interne Ermittlungen, sog. Internal Investigations, zur Aufklärung einzelner Rechtsverstöße jeglicher Art.

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist es, die Vorteile der Compliance im Hinblick auf die Abwendung von Strafzahlungen gegen das Unternehmen aufzuzeigen, aber auch mögliche Gefahren darzustellen. Durch das zunehmende Ausmaß unternehmensweiter Compliance-Managements und das Bestreben, internes Fehlverhalten selbst aufzuklären, liegt eine Parallele zu Ermittlungsverfahren der Strafverfolgungsbehörden vor, die kritisch zu hinterfragen ist. Es ist zu befürchten, dass die Verselbstständigung der Ermittlungen in Unternehmen die Entstehung einer (rechtlichen) Subkultur im Hinblick auf die Verfolgung von Wirtschaftsdelinquenz fördern könnte.

Ein Bestandteil der Internal Investigations sind auch Befragungen der Mitarbeiter, sog. Interviews, die durch Gedächtnisaufzeichnungen, im Wesentlichen aber durch Interviewprotokolle dokumentiert werden und selbstbelastende Auskünfte beinhalten können. Die Besonderheit dieser Art der Arbeitnehmerbefragung ist, dass dem befragenden Arbeitgeber ein Auskunftsanspruch zusteht, der im Zweifel durch arbeitsrechtliche Maßnahmen und Sanktionsandrohungen wie Abmahnungen, Kündigung oder Schadensersatzforderungen durchgesetzt werden kann.

Abgesehen von arbeitsrechtlichen Maßnahmen kann der Inhalt des Gesprächs bzw. der Interviewprotokolle – sofern ein strafrechtlich relevantes Verhalten offenbart wird – auch für die zuständigen Strafverfolgungsbehörden von Bedeutung sein. Dabei bestehen zwei Möglichkeiten, die zur naheliegenden Verwendung in einem Strafverfahren führen können. Entweder gibt das Unternehmen die Unterlagen ungeachtet der konkreten Interessen freiwillig an die Strafverfolgungsbehörden heraus oder die entsprechenden Unterlagen werden beschlagnahmt. Dieser Transfer kann dazu führen, dass rechtsstaatliche und verfassungsrechtliche Prinzipien an Bedeutung verlieren. Die dabei aufgeworfenen rechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Bedenken sollen vom Entstehen bis zur Verwendung der Interviewprotokolle diskutiert werden, um die Rechtmäßigkeit der Verwertbarkeit der Beweismittel zu hinterfragen. Dagegen sprechen auch keine grundsätzlichen ← 2 | 3 → Hindernisse. Das Argument, dass sich strafprozessuale Prinzipien nur an staatliche Institutionen richten,12 ist in diesem Zusammenhang „zu simpel und auch zu oberflächlich“, um den „Kern des Problems treffen zu können“13.

Zu erörtern ist, ob die zivilrechtliche Auskunftspflicht – bei selbstbelastendem Inhalt – aufgrund der Gefahr einer strafrechtlichen Verwertung eingeschränkt werden muss und gegebenenfalls ein Auskunftsverweigerungsrecht zu erwägen ist. Sofern die Unterlagen beschlagnahmt werden, ist fraglich, ob aufgrund der oft rechtsanwaltlich durchgeführten Internal Investigations etwaige Beschlagnahmeverbote einschlägig sind. Sobald der Transfer in ein Strafverfahren stattfindet, ist des Weiteren zu hinterfragen, wie die Interviewprotokolle im Rahmen des Urkundenbeweises Einzug in die Hauptverhandlung finden könnten und damit grundsätzlich verwertbar wären.

Wesentlicher Fokus der vorliegenden Untersuchung soll auf dem intradisziplinären Spannungsverhältnis zwischen der arbeitsrechtlichen Auskunftspflicht und dem strafprozessualen Nemo-tenetur-Prinzip liegen. Neben der Frage eines Auskunftsverweigerungsrechts in der arbeitsrechtlichen Befragungssituation ist darüber hinaus in Betracht zu ziehen, ob ein Beweisverwertungsverbot erforderlich ist, wobei die Umstände der arbeitsrechtlichen Befragung bei der Beurteilung der Zwangswirkung miteinzubeziehen sind. Dabei sind insbesondere, aufgrund der Intradisziplinarität des Spannungsverhältnisses, der Aspekt der Einheit der Rechtsordnung, die Übertragbarkeit der Grundsätze des „Gemeinschuldner-Beschlusses“ des Bundesverfassungsgerichts sowie die Reichweite eines möglichen Beweisverwertungsverbots zu diskutieren.

Um das Problem der Freiheit von Selbstbelastung im Rahmen von Internal Investigations richtig zu erfassen, bedarf es eingangs der Sichtung der zugriffsbegrenzenden Prinzipien eines rechtsstaatlichen Strafrechts des Freiheitsschutzes. Im Rechtsstaat gibt es keinen strafrechtlichen Zugriff um jeden Preis, sondern nur eine verfassungsrechtlich und vor allem menschenrechtlich legitimierte Strafverfolgung.

______________________

1    Siehe Presseerklärung der Siemens AG v. 15.12.2008; Ad-hoc Meldung der Siemens AG v. 15.12.2008; vgl. Jahn, StV 2009, 41ff.

2    Siehe zu Deutsche Bahn und Deutsche Telekom, Brockhaus, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Internal Investigations, Kap. 26 Rn. 20ff.; Knierim, StV 2009, 324.

3    Presseerklärung der EU-Kommission v. 21.2.2007 zum „Aufzug-Kartell“, u.a. Thyssen-Krupp, siehe IP/07/209; Presseerklärung der EU-Kommission v. 4.12.2013 zum „Libor-Skandal“, u.a. Deutsche Bank, siehe IP/13/1208.

4    U. Schneider, ZIP 2003, 646.

5    Auf diesen Verdacht weisen hin Jahn, ZWH 2012, 478; Rotsch, ZIS 2010, 615; Moosmayer, NJW 2012, 3013.

6    Siehe Antrag der „SPD-Fraktion“ v. 16.4.2013, BT-Drucks. 17/13087; siehe auch Kutschaty, DRiZ 2013, 16f.; dagegen BRAK-Stellungnahme-Nr. 9/2013, S. 2ff.

7    Vgl. Bock, Criminal Compliance, S. 22.

8    Hauschka, in: Hauschka, Corporate Compliance, § 1 Rn. 2; Bock, Criminal Compliance, S. 19; Momsen, ZIS 2011, 508; Rotsch, ZIS 2010, 614; Eufinger, CCZ 2012, 21; Dix, ZIS 2011, 110; Kort, NZG 2008, 84.

9    Jahn, ZWH 2012, 478.

10   Hauschka, in: Hauschka, Corporate Compliance, § 1 Rn. 2; vgl. Prittwitz, in: Compliance und Strafrecht, S. 126; Rotsch, ZIS 2010, 614; ders., in: FS-Samson, S. 142.

11   Kuhlen, in: Compliance und Strafrecht, S. 1.

12   Siehe zu § 136a StPO Raum, StraFo 2012, 398.

13   Deutlich und zutreffend im Hinblick auf § 136a StPO Hassemer/Matussek, Das Opfer als Verfolger, S. 76.← 3 | 4 →

← 4 | 5 → Kapitel 1: Das Nemo-tenetur-Prinzip im rechtsstaatlichen Strafprozessrecht

Zunächst wird die Bedeutung des Nemo-tenetur-Prinzips im Rahmen zentraler Prinzipien des rechtsstaatlichen Strafrechts erläutert.

A. Freiheit als Grundlage staatlichen Rechts

Der Begriff des Rechts ist vielseitig und wurzelt in divergierenden gesellschaftstheoretischen Ansätzen. Das Fundament moderner Staatslehre ist die Frage nach dem Zustand, der vorherrschte, noch bevor von einer Gesellschaft oder auch Gemeinschaft gesprochen werden konnte.

1. Hobbes, der diesen Weg maßgeblich vorzeichnete,14 nennt diesen Zustand ein „Krieg aller gegen alle“, in dem „alle ein Recht auf alles hätten“, und betitelt dies als „Naturzustand“15. Der Mensch sei zwar von Natur aus nicht böse, er habe jedoch von Natur aus Begierden, Furcht und Zorn16. Dies führe dazu, dass die guten von den bösen Menschen nicht hinreichend unterschieden werden könnten, was letztlich zum Misstrauen aller gegenüber allen führe.17 Man müsse dem anderen zuvorkommen, ihn unterjochen, um sich auf alle Weisen zu verteidigen.18 Hobbes zeichnet damit ein negatives Menschenbild, das bei fehlendem gemeinsamen Konsens und Zusammenhalt in einer Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Individuen endet und somit zu einem „Kriegszustand“ führt.19 Davon ausgehend kann das Ziel menschlichen Zusammenlebens nur die Überwindung ← 5 | 6 → dieses „elenden Zustands“20 sein. Trotz dieses Zustands oder gerade aufgrund von ihm ist das Individuum keinen öffentlichen bzw. gemeinschaftlichen Zwängen ausgesetzt. Dem Naturzustand immanent und Grundlage des Rechts ist der Gedanke der Freiheit,21 bei dem der Mensch jedem anderen in Körper und Geist gleich ist22. „Das Naturrecht ist die Freiheit, nach welcher ein jeder zu Erhaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas beizutragen scheint, tun kann.“23 Freiheit ist, ihrer ursprünglichen Bedeutung nach, die Abwesenheit aller äußeren Hindernisse in sich.24 Der freiheitliche Naturzustand ist der wesentliche Bestandteil weiterer Ansätze, die den Begriff des Rechts herleiten und darstellen. Das Wie der Konstitution einer Gemeinschaft baut auf dem Gedanken des Naturzustands und der Freiheit auf, wird jedoch unterschiedlich interpretiert.

Hobbes beschreibt den Weg zur Bildung der Gemeinschaft mittels des Vertragskonstrukts. Im Naturzustand folgt jeder seinem eigenen Ziel und übt Gewalt selbst aus, weshalb in diesem Zustand „keiner, sollte er auch der Stärkste sein, sich für sicher halten kann“25. Der Ursprung der „großen und dauernden Verbindung der Menschen“ erfolgt daher aus der Furcht, von anderen verletzt zu werden.26 Solange der Mensch sich sein Naturrecht – „alles zu tun, was er will“ – vorbehält, dauert auch der Krieg an.27 „Jeder muss von seinem Recht auf alles – vorausgesetzt, dass andere dazu auch bereit sind – abgehen und mit der Freiheit zufrieden sein, die er den übrigen eingeräumt wissen will.“28 Den wechselseitigen Verzicht betitelt Hobbes als Vertrag.29 Dies schafft kein neues Recht, das das Individuum nicht schon von Natur aus hätte, sondern es tritt das Recht einem anderen nur so ab, dass jeder sein schon vorher gebrauchtes Recht ausüben kann, ohne von diesem ein Hindernis zu befürchten.30

← 6 | 7 → Dieser Vertrag ist jedoch zunächst nur ein „gedankliches Konstrukt“31 und hat keine zwingende Bindungswirkung. Jedoch stellt Hobbes fest, dass vertragliche Abkommen zu halten seien, da man ansonsten dem Recht auf alles vergeblich entsagt hätte und der Krieg aller gegen alle bleiben würde.32 Verträge können an und für sich den Zustand des Krieges aller gegen alle nicht aufheben, da bloße Worte keine Furcht erregen können.33 Diese Furcht, insbesondere vor Strafe, muss jedoch auf die Einhaltung des Vertrags drängen.34 Dies kann nur mit der Ausübung der allgemeinen Gewalt erreicht werden, derer sich alle unterworfen haben. Und als hätte jeder zu jedem gesagt: „Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst“, werden Einzelne zu einer Person und heißen Staat oder Gemeinwesen35. „Dabei wollte Hobbes zeigen, durch welchen Akt es rechtlich möglich wird, dass sich das Volk (im Sinne der bloßen Menschenmenge) als Volk (in staatsrechtlicher Bedeutung) konstituiert.“36 Gleichermaßen entstehen durch diesen Vertrag zum einen die Staatsgewalt als Quelle der staatsrechtlichen Kompetenz, die allgemeine Gewalt auszuüben, und zum anderen auch die staatsbürgerliche Pflicht, sich dieser Gewalt unterzuordnen.37

2. Auch der Vertragstheoretiker Rousseau legt seinen Theorien den Naturzustand sowie die Freiheit des Individuums zugrunde. „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“38 Er unterstellt dabei, dass das Fortbestehen des Naturzustandes den Menschen schaden und das Menschengeschlecht zugrunde gehen würde, sofern es die Art seines Daseins nicht ändere.39 Das Verlassen des Naturzustandes ist daher vielmehr logische Konsequenz. „Allein die Vorteilssuche treibt den Menschen aus dem Naturzustand.“40 Die Menschen schließen einen Vertrag, um ihre eigene Nutzenposition zu verbessern41 und vereinen daher ihre ← 7 | 8 → Kräfte stärker als jeder Widerstand, um sie gemeinsam wirken zu lassen42. Die Problematik des Zusammenschlusses besteht darin, eine Form zu finden, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen verteidigt sowie schützt und gleichzeitig jeder genauso frei bleibt wie zuvor.43 Diese Form kann nur der Gesellschaftsvertrag sein, dessen Vertragsgrundlage die „volonté générale“ – der Allgemeinwille – ist.44 Durch diesen Zusammenschluss wird aus jedem Einzelnen eine „sittliche Gesamtkörperschaft“, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch diesen Akt ihre Einheit und ihr „gemeinschaftliches Ich“ erhält.45 Diese „öffentliche Person“ nennt sich Staat.46

Allen Ansichten des Gesellschaftsvertrags ist gemeinsam, dass der Vertrag „nur“ als „gedankliches Konstrukt“47 existiert, um den Naturzustand zu überwinden: „Im Falle eines Konflikts, also dann, wenn ein anderer unerlaubt in die eigene Freiheitssphäre eindringt, soll der Mensch auf den Einsatz eigener Gewaltmittel“48, die ihm kraft Natur gegeben sind, verzichten. Um das Opfer jedoch nicht schutzlos zu stellen, überträgt das Individuum sein Gewaltmonopol auf einen neutralen Dritten, der dann die Lösung des Konflikts übernimmt.49 „Mit dem wechselseitigen Verzicht auf Gewalt und deren Übertragung auf einen Dritten ist der Staat begründet.“50 Zu diesem Zeitpunkt tritt das Individuum in den Zustand des Rechts ein.51

Der gegenseitige Verzicht auf Gewalt kann mittels des Gesellschaftsvertrags hergestellt werden. Daneben ist allerdings auch ein Begründungsansatz aufzuzeigen, der sich dieses Konstrukts nicht bedienen muss, sondern die Entstehung einer Gemeinschaft mit der „praktischen Vernunft“ der Individuen begründet.

3. Kant bedient sich zur Herleitung der Gemeinschaft, des Staates und des Rechts des Begriffs der Metaphysik, einer Wissenschaft, „die über die Grenzen ← 8 | 9 → der Natur als Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung hinausgeht“52. „Sie ist also Erkenntnis a priori oder aus reinem Verstande und reiner Vernunft.“53 Die Vernunft ergibt sich aus dem Vermögen des Einzelnen, nach systematischen Prinzipien zu urteilen und zu handeln.54 „Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.“55 Dabei wird deutlich, dass sich Kant des vertraglichen Konstruktes nicht bedienen muss.56 Jeder erkennt seinen universalen Zweck, welcher gegenseitig vermittelt und dadurch verwirklicht wird.57

Eine Verbindung zu irgendeinem gemeinsamen Zweck sei zwar in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen, allerdings sei eine äußere Verbindung zwischen Menschen, die an sich der Zweck und damit unbedingte und oberste Pflicht des Zusammenlebens sind, nur in einer bürgerlichen Gesellschaft vorzufinden.58 Demnach ist nicht ein Vertrag, sondern der Zweck der Grund für den Zusammenschluss der Gemeinschaft. „Der Zweck nun, der in solchem äußeren Verhältnis an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann.“59 Damit verdeutlicht Kant, dass nur ein Zweck zum äußeren Verhältnis der Gemeinschaft führen und öffentliche Zwangsgesetze legitimieren kann, um dadurch vor Eingriffen zu schützen. Der Begriff des äußeren Rechts geht aus dem Begriff der Freiheit im äußeren Verhältnis zueinander hervor. „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige ← 9 | 10 → Zusammenstimmung möglich machen.“60 Das Recht muss demnach die Freiheit durch öffentliche Gesetze einschränken, um gleichzeitig die Freiheit eines jeden zu sichern. Dabei unterwirft sich der freie Mensch in einer bürgerlichen Verfassung Zwangsgesetzen, da auch „jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines anderen Zwang heißt“61.

Diesen Schluss begründet Kant mit der Vernunft, die es selbst so will.62 Die Vernunft drängt den Menschen in einen rechtlichen Zustand, da in einem nicht-rechtlichen Zustand jeder verfährt, wie es ihm „recht und gut dünkt“, und dabei „seinem eigenen Kopfe“ folgt63. Dies muss nicht zwangsläufig ein ungerechter Zustand sein, ist jedoch ein Zustand der Rechtlosigkeit,64 in dem niemand sicher ist, da keiner auf die Einhaltung des Rechtsprinzips achtet65. Daher kann Recht und Freiheit nur in einem rechtlichen Zustand gewährleistet werden.66 Dieser rechtliche Zustand ist der Staat, welchen zu errichten somit aus der Vernunft folgt und oberste Pflicht ist.67

Details

Seiten
XVII, 255
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653045468
ISBN (ePUB)
9783653982961
ISBN (MOBI)
9783653982954
ISBN (Hardcover)
9783631653548
DOI
10.3726/978-3-653-04546-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Strafprozess Strafrecht Beweisverwertungsverbote Selbstbelastungsfreiheit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XVIII, 255 S., 1 Graf.

Biographische Angaben

Björn Kruse (Autor:in)

Björn Kruse, Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main; derzeit LL.M. Student bei den Vereinten Nationen (UNICRI) in Turin und Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Universität in Frankfurt am Main.

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