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Geraubte Erinnerungen

Die Ästhetik von Identität und «memoria» in Félix Bruzzones «Los topos»

von Lela Weigt (Autor:in)
©2015 Dissertation 104 Seiten

Zusammenfassung

In dem 2010 erschienenen Roman Los topos des argentinischen Gegenwartsautors Félix Bruzzone macht sich der Protagonist auf die Suche nach seinem während der argentinischen Militärdiktatur verschwunden geglaubten Bruder, die in der Suche nach der eigenen Identität gipfelt. In aller Radikalität betont Bruzzone die Tradierung der Gewalt bis in die Gegenwart. Der Roman stellt einen bedeutenden Beitrag zur gegenwärtigen Memoria-Debatte dar, indem er die konventionelle Verteilung von Täter- und Opferrollen in Frage stellt. Anhand von Methoden aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung wird Bruzzones literarische Inszenierung von Erinnerung und Identität im Kontext der argentinischen Gegenwartsliteratur mit Hinblick auf den aktuellen Gedächtnisdiskurs analysiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Erinnerung und Identität
  • 2.1 Identitätstheorien
  • 2.2 Narrative Identität
  • 3. Literatur und Erinnerung
  • 3.1 Die Entwicklung der Gedächtnisforschung
  • 3.2 Gedächtnisforschung in der Literaturwissenschaft
  • 3.3 Die dreifache mimẽsis nach Ricœur
  • 4. Die neue Generation von Erinnernden
  • Die nueva narrativa argentina
  • 5. Geraubte Erinnerungen: Die literarische Inszenierung von Identität und memoria in Félix Bruzzones Los topos
  • 5.1 Autor und Stoffgeschichte
  • 5.2 Synopse von Los topos
  • 5.3 Zeit- und Raumachsen im Roman
  • 5.3.1 Die Zeit
  • 5.3.2 Der Raum
  • 5.3.3 Die Blickwinkel
  • 5.4 Die Motive
  • 5.4.1 Die Familie
  • 5.4.2 Das Verschwinden
  • 5.4.3 Die Träume
  • 5.4.4 Die travestis
  • Travestismo als konstruierte Identität
  • Travestismo als politische Aussage
  • 6. Fazit
  • 7. Interview
  • 8. Bibliographie
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Nachschlagewerke
  • Internetquellen
  • Eidesstattliche Erklärung

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1. Einleitung

[...] il passato è sempre nuovo: Como la vita procede esso si muta perché risalgono a galla delle parti che parevano sprofondate nell’oblio mentre altre scompaiono perché oramai poco importanti. Il presente dirige il passato come un direttore d’orchestra i suoi suonatori. Gli occorrono questi o quei suoni, non altri. E perciò il passato sembra ora tanto lungo ed ora tanto breve. Risuona o ammutolisce. Nel presente riverbera solo quella parte ch’è richiamata per illuminarlo o per offuscarlo. Poi si ricorderà con intensità piuttosto il ricordo dolce e il rimpianto che il nuovo avvenimento.1

Erinnerung und Identität verbindet eine tiefgreifende Interdependenz. Die individuelle sowie die kollektive Erinnerung sind die Voraussetzungen für die Herausbildung der Identität. Denn erst durch das Erinnern an vergangene Erlebnisse kann sich ein Bewusstsein über die Kontinuität und die Einheit des vergangenen und gegenwärtigen Ichs einstellen. Erst in dieser zeitlichen Dimension vermag sich Identität zu konstituieren. Dabei prägt unsere Identität vor allem die Art und Weise, wie wir uns erinnern: Gedächtnisinhalte sind keine reinen Wissensträger, sondern werden durch individualpsychologische und soziokulturelle Prozesse konstruiert, verändert, destabilisiert und gegebenenfalls dekonstruiert.

Die Literatur kann aus diesem Themenkomplex schöpfen und in ästhetischen Verfahren neue Darstellungsmodi von Erinnerung und Identität liefern. Da der Prozess der Erinnerung nach selektiven Mustern verläuft, gibt die Darstellung von Erinnerung oft mehr Auskunft über die Gegenwart des sich Erinnernden als über die eigentlichen Erlebnisse in der Vergangenheit. Tatsächlich kann die Literatur nicht nur aus der Erinnerung neue fiktive Werke erschaffen, sondern auch auf die außertextuelle Wirklichkeit zurückwirken. Literatur ist demnach maßgeblich an der Reflexion über Erinnerung beteiligt und kann Versionen der Vergangenheit und Selbstbilder mitgestalten. Das zeigt nicht zuletzt, dass Schreiben eine kultur- und identitätsstiftende Funktion hat. ← 7 | 8 →

Der vorliegenden Arbeit liegt die Frage zugrunde, mit welchen literarischen Verfahren der argentinische Autor Félix Bruzzone in seinem Roman Los topos2 den Prozess des Erinnerns und die damit verknüpfte Konstruktion der individuellen Identität des Protagonisten inszeniert. Dieser Thematik übergeordnet lautet die Frage, in welcher Form Literatur überhaupt am gesellschaftlichen Gedächtnisdiskurs teilnimmt und welche Rolle Los topos darin spielen kann.

Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, ist es wichtig, auch Bruzzones Biographie im Kontext der jüngeren Geschichte seines Landes zu beleuchten. Der Autor steht als hijo de desaparecidos, Kind von Verschwundenen der Militärdiktatur, sowohl exemplarisch für die argentinische Geschichte als auch für die literarische Auseinandersetzung mit ihr. Der Held seiner Geschichten ist stets auf der Suche nach einer Wahrheit, die ihm letztlich versagt bleibt. Der Protagonist von Los topos ist ebenfalls ein hijo de desaparecidos, der auf der Suche nach seinem verschwunden geglaubten Bruder ist und ihn im Transvestiten Maira zu finden glaubt. Tatsächlich dreht sich seine Suche vor allem um die eigene Identität, deren Ursprung in der Vergangenheit verwurzelt ist. Bruzzone setzt in seinem konspirativ-parodistischen Roman mit ausgesprochener Knappheit und Beiläufigkeit Reminiszenzen aus diktatorischen Zeiten in Szene.

Um seine Inszenierung vom Gedächtnis in der Literatur zu untersuchen, wird zunächst ein vertiefter Einblick in die Theorien von Erinnerung und Identität gewährt. Hier wird vor allem auf die individualpsychologischen Studien zur Identität eingegangen, da ich mich in der nachfolgenden Analyse mit der konstruierten Identität des Protagonisten beschäftigen werde. Ansätze zur kollektiven Identität werden daher nur ansatzweise erläutert.

Daraufhin werden die Entwicklungen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und die maßgeblichen literaturwissenschaftlichen Konzepte der Gegenwart vorgestellt. In diesem Rahmen wird auch ← 8 | 9 → das stufenartige Konzept der dreifachen mimẽsis nach Paul Ricœur in seinen Grundzügen erläutert, das für die vorliegende Arbeit als maßgebende Denkfigur dient. Nach Ricœur entsteht Literatur im Kontext von Kulturen, in denen bereits Versionen von Erinnerung und Identität herrschen (Präfiguration). Auf der zweiten Stufe kann Literatur diese Gedächtnisinhalte und Selbstbilder anhand von ästhetischen Verfahren in Fiktion formen und ein mimetisches Verhältnis von Erinnerungsprozessen darstellen (Konfiguration). Schließlich können beachtete literarische Inszenierungen auf die Wirklichkeit außerhalb des Textes zurückwirken und so neue Versionen der Vergangenheit beeinflussen (Refiguration).3

Für die Frage nach der literarischen Inszenierung ist vor allem die Schnittstelle zwischen Präfiguration und Konfiguration aufschlussreich und wird für die anschließende Untersuchung der Motive hilfreich sein. Dabei werden, wo es nötig erscheint, auch psychoanalytische Studien konsultiert. In der darauf folgenden Textanalyse sollen die literarischen Verfahren und narrativen Formen Aufschluss über Bruzzones Ästhetik der Konstruktion von Identität und Erinnerung liefern. Dies kann sich zum Beispiel in einer betonten „Erinnerungshaftigkeit“4 des Protagonisten äußern oder in der Perspektive, aus der erzählt wird.

Details

Seiten
104
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049893
ISBN (ePUB)
9783653979602
ISBN (MOBI)
9783653979596
ISBN (Paperback)
9783631655351
DOI
10.3726/978-3-653-04989-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Memoria-Debatte Gedächtnisforschung Militärdiktatur Gedächtnisdiskurs
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 104 S.

Biographische Angaben

Lela Weigt (Autor:in)

Lela Weigt studierte Romanistik, Psychoanalyse und Geschichte an der Universität Frankfurt am Main und der Universität Barcelona.

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Titel: Geraubte Erinnerungen
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