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Zur Semantik von «rike» in der Sächsischen Weltchronik

Reden über Herrschaft in der frühen deutschen Chronistik – Transformationen eines politischen Schlüsselwortes

von Meike Pfefferkorn (Autor:in)
©2015 Dissertation 314 Seiten
Reihe: Beihefte zur Mediaevistik, Band 19

Zusammenfassung

Wie lässt sich die Versprachlichung eines Abstraktums wie Herrschaft in der deutschen Sprache fassen? Insbesondere in einer Zeit, die noch stark vom Lateinischen geprägt ist? Die Untersuchung des Wortgebrauchs von rike innerhalb der ersten deutschsprachigen Prosaweltchronik, der Sächsischen Weltchronik, nähert sich dieser Frage anhand detaillierter Handschriftenauswertungen. Dank der breiten und teils sehr disparaten Überlieferung der Sächsischen Weltchronik ist es möglich, in einem Querschnitt zu erschließen, wie stabil das Reden über Herrschaft in diesem Text ist. Die in der Analyse gemachten Beobachtungen werden abschließend synthesen- und überblicksartig mit bestehenden Beobachtungen zu Herrschaftsvorstellungen in der Entstehungszeit der Sächsischen Weltchronik verknüpft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Das Verb verschwindet – eine Einleitung
  • a) Das Verb verschwindet – Reden über Herrschaft in der deutschen Chronistik
  • b) Text
  • c) Versuchsaufbau
  • d) Zum Forschungsstand
  • d I) Konzeptebene - Herrschaft, Staat, Reich
  • d II) Semantische Ebene – von der lateinischen politischen Sprache zur vernakularen politischen Sprache
  • d III) Quellenebene – Geschichte der SW
  • e) Sprache
  • e I) rike vs. Reich – Quellensprache/Beschreibsprache
  • e II) Nū sîn wir alsô arm an tiutscher sprâche – Übersetzungsproblematik
  • e III) Sprache und Denken – Historische Semantik als Arbeitsmethode
  • I. Quelle
  • Kapitel 1 Die Sächsische Weltchronik, ihre Handschriften und die Überlieferung
  • 1.1 Die Sächsische Weltchronik als Quelle
  • 1.1.1 Die Chronik Frutolfs von Michelsberg in der Überarbeitung von Ekkehard von Aura
  • 1.1.2 Die Pöhlder Annalen
  • 1.1.3 Quellennutzung der Sächsischen Weltchronik
  • 1.1.4 Der unfeste Text
  • 1.1.5 Überlieferungschronologie
  • 1.1.6 Verfasserfrage
  • 1.1.7 Auftraggeber und Publikum
  • 1.1.8 Überlieferungsgeographie
  • 1.1.9 Überlieferungszentren
  • 1.1.10 Editionen
  • 1.2 Handschriftenauswahl
  • 1.2.1 Handschriftenauswahl
  • 1.3 Besonderheiten der einzelnen Handschriften
  • 1.3.1 Die Handschrift der Rezension AI
  • I. Äußere Befunde
  • II. Inhaltliche Befunde
  • 1.3.2 Die Handschrift der Rezension B
  • I. Äußere Befunde
  • II. Inhaltliche Befunde
  • 1.3.3 Die städtisch umgeformte Handschrift
  • I. Äußere Befunde
  • II. Inhaltliche Befunde
  • 1. Textauswahl
  • 1.a) Bedeutung und Funktion antiker Stoffe in der mittelalterlichen Literatur
  • 1b.) Zum ‚Basler Alexander‘:
  • 2. SW-Bestand
  • 1.3.4 Die sprachlich umgeformte Handschrift
  • I. Äußere Befunde
  • II. Inhaltliche Befunde
  • II. Analyse
  • A. Kookkurrenzen
  • Kapitel 2 rike in der Sächsischen Weltchronik – ein Schlüsselterminus?
  • 2.1 Kookkurrenzen
  • 2.1.1 rike-Kookkurrenzen
  • 2.1.2 Kookkurrenzen zu kunich
  • 2.1.3 Kookkurrenzen zu keiser
  • 2.1.4 Zusammenfassung
  • 2.2 rike-Typen
  • 2.3 Elemente von rike
  • 2.4 rike - eine Beobachtung zur Chronik von Frutolf von Michelsberg in der Überarbeitung durch Ekkehard von Aura
  • B. Verwendungskontexte von rike
  • Kapitel 3 Verben
  • 3.1 Handlungsbereiche
  • 3.1.1 Mächtig Werden
  • 3.1.2 Mächtig sein
  • 3.1.3 Herrschaft loslassen
  • 3.1.4 Machtverlust
  • 3.1.5 Designation
  • 3.1.6 unselbstständige Herrschaft
  • 3.1.7 Herrscherlob
  • 3.1.8 Krieg und Gewalt
  • 3.1.9 andere Herrschaften im römischen Reich
  • 3.1.10 Zusammenfassung
  • 3.1.11 rike und seine Verben
  • 3.1.12 Ergebnis
  • Kapitel 4 rike ze rom - das Verhältnis Ost- und Westroms im Text der Sächsischen Weltchronik
  • Kapitel 5 Akteure
  • 5.1 Do begunde daz rike zwen keiser haben - rike als Handlungsträger
  • 5.1.1 Aufstieg und Niedergang von rike
  • 5.1.2 Machtwechsel
  • 5.1.3 Rechtsordnung
  • 5.1.4 „physischer“ Zustand
  • 5.1.5 ideeller Zustand
  • 5.1.6 Zusammenfassung
  • 5.1.7 Ergebnis
  • 5.2 er waz ein gut man ze got und hohete wol daz rike - Das aktive Personenrepertoire gegenüber rike
  • 5.2.1 Bischof/Bischöfe
  • 5.2.2 Papst
  • 5.2.3 Die Großen
  • 5.2.3.1 hertzog
  • 5.2.3.2 fursten/herren
  • 5.3 Könige und Kaiser
  • 5.3.1 römisch-deutsche Könige
  • 5.3.1.1 Mächtig Werden
  • 5.3.1.2 Machtbesitz/Herrscher sein
  • 5.3.1.3 Nachfolgeregelungen
  • 5.3.1.4 Machtaufgabe
  • 5.3.1.5 Krieg, Kampf, Eroberung
  • 5.3.1.6 Zusammenfassung
  • 5.3.2 nicht-römisch-deutsche Könige
  • 5.3.2.1 Machtbesitz/Herrscher sein
  • 5.3.2.2 Herrschaftsunterordnung
  • 5.3.2.3 Widerstand gegen rike
  • 5.3.2.4 Zusammenfassung
  • 5.3.3 vorkonstantinische Kaiser
  • 5.3.3.1 Machtübernahme/Herrscher werden
  • 5.3.3.2 Machtbesitz/Herrscher sein
  • 5.3.3.3 Herrschaftsteilung
  • 5.3.3.4 Zusammenfassung
  • 5.3.4 römisch-deutsche Kaiser
  • 5.3.4.1 Machtbesitz/Herrscher sein
  • 5.3.4.2 Nachfolgeregelung
  • 5.3.4.3 Machtaufgabe
  • 5.3.4.4 Krieg, Kampf, Eroberung
  • 5.3.4.5 Raumzuordnung
  • 5.3.4.6 Zusammenfassung
  • 5.3.5 Ergebnis
  • 5.4 rike als Genitivattribut
  • 5.5 herschaft und gewalt - Aktive und passive Komponenten von Herrschaft
  • Kapitel 6 Vergleich der Handschriften
  • 6.1 Vergleich zur Handschrift 10
  • 6.1.1 Der Mehrbestand der Hs. 10
  • 6.1.2 Varianz im Verbenbereich
  • 6.1.3 Varianz in der Raumterminologie
  • 6.1.4 Varianz in der rike-Terminologie
  • 6.1.5 Varianz in der Herrschaftsterminologie
  • 6.1.6 Zusammenfassung
  • 6.2 Vergleich zur Handschrift 16
  • 6.2.1 Der Mehrbestand der Hs. 16
  • 6.2.2 Varianz in der Herrschaftsterminologie
  • 6.2.3 Varianz Raumterminologie
  • 6.2.4 Die Bebilderung der Hs. 16 (beginnend ab Konstantin dem Gr.)
  • 6.2.5 Zusammenfassung
  • 6.3 Vergleich zur Hs. 021
  • 6.3.1 Der Mehrbestand der Hs. 021
  • 6.3.2 Varianz-Stellen
  • König Etzel
  • Karolinger
  • Veränderte Herrscherhandlung:
  • 6.3.3 Zusammenfassung
  • 6.4 Ergebnis
  • Kapitel 7 Ergebnis Analyseteil
  • III. Synthese
  • Kapitel 8 Synthese
  • 8.1 rike im Kontext der staufischen Herrschaftskonzeption - ein Vergleich zu regnum und imperium
  • 8.2 metaphorischer Sprachgebrauch - Sprechen über Abstrakta
  • 8.3 Personifizierung und Organismus-Vergleich als Herrschaftserfassung
  • IV. Fazit rike - Reden über Herrschaft
  • Quellenverzeichnis
  • Handschriften der Sächsischen Weltchronik
  • Editionen der Sächsischen Weltchronik
  • Literaturverzeichnis
  • Liste aller Handschriften der Sächsischen Weltchronik
  • rike-Kookkurrenzen
  • rike-Passagen in der Leithandschrift (BSB Cgm 55)

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Das Verb verschwindet – eine Einleitung

a) Das Verb verschwindet – Reden über Herrschaft in der deutschen Chronistik

„[...] vn waren sin wartent also daz er solt wider rîchesen mit solchem gewalt und hêrschaft als er wol drev vn drizzich iar getan het1

Hier ist von Kaiser Friedrich II. die Rede, von dem es in dieser Erzählung heißt, dass er durch vergiftete Weintrauben zu Tode kam. Die Zeit seiner Regierung – jene dreiunddreißig Jahre – wird mit gewalt und hêrschaft attribuiert, er solle mit eben jenen wieder rîchesen. Eine mögliche Übersetzung wäre: «und warteten auf ihn, dass er erneut mit solcher Macht und Würde herrschte, wie er es in den dreiunddreißig Jahren zuvor getan hatte». In diesem Zitat aus der Sächsischen Weltchronik (kurz: SW) stehen als Verhaltenswünsche an Kaiser Friedrich II. gewalt und hêrschaft sowie das Verb rîchesen, also drei Vokabeln, die sich mit Herrschaft in Verbindung bringen lassen. Werden hier die zentralen Vokabeln für das Konzept Herrschaft in der deutschsprachigen Chronistik des Mittelalters eingeführt?

Herrschaft impliziert einen Prozess – das Herrschen, in dem sich die Befugnis oder die Fähigkeit einer Person oder Gruppe zur Machtausübung äußert. Das oben genannte Zitat bietet hierfür folgerichtig die Vokabel rîchesen an. Aus dem Lateinischen ist uns die morphologische Trias rex – regnum – regere für den Herrschaftsbereich vertraut. Eine entsprechende, auf demselben Lexem basierende Gruppe für das Mittelhochdeutsche stellt herscherhêrschafthêrschen dar. Ein Blick in die Texte zeigt jedoch bald, dass hieraus nur hêrschaft sichtbar genutzt wird. Die anderen beiden Vokabeln finden kaum Verwendung, es gibt auch kein Ersatzverb. Kurz gesagt: Das Verb verschwindet. Soziolinguistisch ist besonders interessant, dass – wie das Eingangszitat zeigt – grundsätzlich ein Verb aus dem Wortfeld ‚Herrschaft‘ zur Verfügung stünde, nämlich rîchesen. Allerdings wird dieses Verb nicht benutzt. Hier zeigt sich das Phänomen, dass eine Vokabel lexikalisch greifbar ist, aber nicht zum Einsatz kommt, sondern sprachlich anders verfahren wird. Wie also lässt sich Herrschaft sprachlich fassen? Der Textausschnitt bietet die Vokabel hêrschaft an. Doch das mittelhochdeutsche hêrschaft ist für das gesamte Mittelalter hindurch als «Herrenwürde» oder «Hoheit» zu lesen2. Mehr noch, „jede Abstraktion und Systematik von ‚Herrschaft‘“ ist eine Konstruktion der Forschung3, um mit Peter Moraw zu sprechen. ‚Herrschaft‘ und hêrschaft benennen augenscheinlich nicht dasselbe Konzept. Das, was wir mit ‚Herrschaft‘ bezeichnen, ist für die mittelalterliche Gesellschaft wesentlich stärker an konkrete Befugnisse und aktive Machtausübung gebunden und wird in diesem Prozess sichtbar4. Das Fragen nach Herrschaft, bzw. deren Ausdrucksformen in einem mittelalterlichen Text, erfordert also eine Untersuchung von Wörtern, die mit etwas Konkretem wie Handlungen und pragmatischen Vorgängen verbunden sind. So ist eine Suche nach Herrschaftstermini im Umfeld von Königen ← 13 | 14 → und Kaisern der naheliegende Schritt. Denn für die Vormoderne sind personale Beziehungen Grundlage des Gemeinwesens, und in der Person des Herrschers kulminiert dieses Gemeinwesen mit seinen Funktionen5.

Das Lateinische weist, ausgehend vom Herrscher, sich nahestehende Wortgruppen auf: rexregnumregere/regnare und dazu imperatorimperiumimperare. Auf einem identischen Morphem fußend, bilden sich je drei Worte, die wir aus heutiger Sicht dem Konzept ‚Herrschaft‘ zuordnen. In der Volkssprache ist allerdings etwas gänzlich anderes zu beobachten: Zu keiser findet sich weder ein sachliches Subjekt noch ein Verb. Dem kunich lässt sich kunichrike zuordnen und mit kunnen ein zumindest lexikalisch nahestehendes Verb, doch sind diese Befunde nicht allzu befriedigend. Dreht man die Suche um und nimmt das Einstiegsbeispiel zu Hilfe, findet sich zum Verb rîchesen ausschließlich das Substantiv rike, welches offenbar ähnlich häufig in den Texten erscheint wie kunich oder keiser. Und hier lässt sich eine These zur Frage zum fehlenden Verb anschließen: Wird anstelle eines Verbs ein Substantiv verwendet, um Herrschaft zu versprachlichen? Ist es möglich, dass rike ein Terminus ist, mit dem eindeutiger als mit einem Verb für ‚herrschen‘ das Handeln des Herrschers zum Ausdruck gebracht werden kann? Um diese Frage zu klären, soll der Wortgebrauch von rike innerhalb der ersten deutschsprachigen Prosaweltchronik untersucht werden – der Sächsischen Weltchronik, entstanden zu Beginn des 13. Jahrhunderts und die erste deutschsprachige Prosaweltchronik überhaupt. Ein solcher Text bewegt sich in einem starken Spannungsfeld: Gebrauch und Semantik des politischen Vokabulars müssen in dieser frühen deutschsprachigen Chronik einerseits besonders instabil gewesen sein, andererseits aber stark von der lateinischen Schriftsprache abhängig, da die politische Sprache bis dahin eine Domäne des Lateinischen war. Ob sich also mit rike ein bis jetzt vernachlässigter zentraler Herrschaftsterminus zeigt, muss am Ende dieser Arbeit diskutiert werden.

b) Text

Warum ist es lohnenswert, sich bei der Frage nach Herrschaft mit der frühen deutschen Chronistik zu befassen? Welcher Erkenntnisgewinn ist zu erhoffen?

Die frühe deutsche Chronistik dringt in ein Feld ein, das stark lateinisch dominiert ist, man denke an Otto von Freising6, Ekkehard von Aura7 oder Martin von Troppau8, die alle nicht nur auf der sprachlichen Ebene ausgefeilte Werke verfasst haben. Mit deutscher Chronistik verbindet man vor allem die höfischen Reimchroniken9 wie ← 14 | 15 → die Kaiserchronik10 oder die Chronik Rudolfs von Ems11. Ein Text, der in der Volkssprache geschrieben ist, sich ansonsten der klassischen Prosaform der lateinischen Chronistik bedient und dessen Rezipienten sich sowohl im klerikalen als auch laikalen – städtischen und höfischen – Umfeld verorten lassen, hat hingegen Seltenheitswert12.

Bei der Sächsischen Weltchronik handelt es sich um einen eben dieser seltenen Fälle. Sie ist die erste Prosaweltchronik, entstanden um 1225 und bis in die 1260er Jahre fortgesetzt und mehrfach umgearbeitet, so dass heute sechs Rezensionen zu benennen sind. Der Form und Struktur nach lässt sich die Sächsische Weltchronik eindeutig in die Tradition der lateinischen Universalchronistik einordnen13. Darüber hinaus verfügt dieser Text über eine zeitlich, räumlich und personell breite Rezeption mit unterschiedlichen, teilweise stark dem Publikum angepassten Fassungen. Über 250 Jahre wird die Sächsische Weltchronik immer wieder abgeschrieben und umgeformt. Es finden sich Handschriften sowohl in Norddeutschland als auch in Thüringen und Süddeutschland, sie sind im Besitz von Klöstern, Städtern, Kaufleuten und dem Adel zu finden14. Im Gegensatz zur zeitlich früheren Kaiserchronik ist die SW nicht ausschließlich mit dem Hof verbunden und bedient sich Sprach- und damit auch Denkmustern, die sie von den Reimchroniken, die in einem engen Zusammenhang mit der höfischen Romanliteratur zu sehen sind15, unterscheidet. Nicht eine unterhaltende Reimchronik, sondern ein nüchterner, beinahe analytischer Text, nach Form und Aufbau seinen lateinischen Vorbildern treu, entsteht. Mit der Verwendung ihrer Sprache betritt die Sächsische Weltchronik für dieses Genre neues Terrain. Damit dringt sie zu einem anderen, wahrscheinlich sogar breiteren Publikum vor, als es sowohl die lateinischen als auch die Reimchroniken getan haben16.

Als klassisch universalchronistisches Werk stehen bei der SW die erst römischen, später deutschen Herrscher im Mittelpunkt der Erzählung. Als Verfasser galt lange Zeit Eike von Repgow, doch ist ein geistlicher Schreiber aufgrund inhaltlicher Befunde naheliegender17. Doch verlangt das Schreiben einer volkssprachigen Weltchronik durch einen lateinisch geschulten Kleriker ein durchgehendes Wechseln zwischen der ungewohnten Schriftsprache und der sowohl für das Genre typischen als auch dem Schreiber stärker vertrauten lateinischen Sprache. Immer wieder müssen aus dem Lateinischen geläufige Sprach- und Denkmuster in die für diesen Bereich noch nicht erprobte Volkssprache transferiert werden18. Weltchronistik ist, trotz der in den ← 15 | 16 → 1140er Jahre entstandenen volkssprachlichen gereimten Kaiserchronik, noch lange Zeit ein lateinisch dominiertes Genre. Erst mit den Stadtchroniken des späten 13. Jahrhunderts bricht diese Festlegung allmählich auf. Allerdings bezeichnet ‚Weltchronistik‘ keine einheitliche Gattung. Chronik bedeutet zunächst die übersichtliche Wiedergabe der Ereignisse von Anbeginn der Zeit bis zum aktuellen Zeitpunkt des Schreibers. Hierbei wurde je nach Chronik ausgewählt, welchen Ereignissen man Raum gewährte19. Je nach Autor und Intention können verschiedene Aspekte im Vordergrund stehen, wie z.B. der Versuch, alle Epochen gleichmäßig zu behandeln oder auch, sozusagen als Gegenteil, dem Publikum eine knappe Abhandlung der Weltgeschichte und eine sehr ausführliche Zeitgeschichte zu bieten20. „Das mittelalterliche Universal-bewußtsein war [...] gegenwartsbestimmt und von der tiefen Überzeugung geprägt, daß alle Geschichte unmittelbar und in gerader Linie auf die eigene Zeit und die eigene Gesellschaft zulief (ohne jedes Bewußtsein, daß die Gottes Heilsplan folgende Geschichte sich eventuell auch ganz anders hätte entwickeln können)21.“ Daraus ergab sich die Beschränkung auf den Raum des römisch-deutschen Reiches, so dass der Begriff ‚universal‘ oder ‚Weltchronik‘ nicht in dem von uns heute gebrauchten Sinne zu verstehen ist. Eine Weltchronik schildert historisch-politische Ereignisse, eingebettet in und ausgerichtet auf die christliche Heilsgeschichte22. Grundlage hierfür ist das Geschichtsbild, das die Bibel vermittelt, welches in den Weltchroniken mit Profangeschichte verknüpft wird. Es findet keine Nacherzählung der Bibel statt, sondern ausgehend von dem dort entwickelten Geschichtsbild wird die Profangeschichte mit der Heilsgeschichte in Übereinstimmung gebracht23. Der Bezugspunkt des Chronisten war die Heilsgeschichte, denn „hervorgegangen ist die Universalchronik aus dem Bestreben, die heilsgeschichtlichen Ereignisse und Begebenheiten des Alten und Neuen Testaments mit den historischen Ereignissen und Fakten der geläufigen Historie zu synchronisieren und gleichsam in einer Art von heilsgeschichtlichem Rahmen Anfang und Ende der Menschheitsgeschichte im Jüngsten Gericht und der Wiederkehr Christi kommentierend zusammenzufassen24.“ Als Gliederungsprinzipien galten ihm die Weltreich- und die Weltalterlehre25. Beide Konzepte gingen davon aus, dass am Ende des letzten Reiches bzw. des letzten Weltalters die Ankunft des Antichristen steht26. Die Welt des Hochmittelalters befand sich ihrer eigenen Vorstellung gemäß in der letzten Phase der irdischen Existenz27. Daraus ergibt sich die Wahrnehmung der Geschichte als „gezielt auf ihr Ende ← 16 | 17 → zulaufende Heilsgeschichte nach Gottes Plan; sie war das opus restaurationis, das durch den Sündenfall notwendig gewordene Erlösungswerk zwischen der Vertreibung aus dem Paradies und dem Jüngsten Gericht, und sie besaß als solche einen Inhalt und eine Botschaft, die zu ergründen waren28.“

Geschichte wird immer als Verortung der eigenen Gegenwart im Heilsplan betrieben. Die Auswahl und Präsentation bestimmter Ereignisse sowie ihre Einordnung im Text ist also immer auch eine exegetische Aussage. So werden z.B. Naturkatastrophen als Hinweis auf eine Störung der göttlichen Ordnung verstanden29 und auf diese Weise im Text verwendet. Genauso verhält es sich mit der Platzierung von Wunder- oder Mirakelberichten.

Parallel hat die Geschichtsschreibung ihre Wurzeln in der Antike, so dass die christliche Historiographie von Anfang an unter dem Zwang stand, „christliches Geschichtsverständnis mit antikem (profanem) Geschichtsverständnis in Einklang bringen zu müssen30.“ Schließlich ist mit Gabriele von Olberg-Haverkate festzuhalten, dass „die Textexemplare der Textklasse ‚Universalchronik‘ mit der biblischen Geschichte und den (ausgewählten) antiken Wissensbeständen das Erinnerungswissen eines sehr weiten und heterogenen Raumes [...]31“ repräsentieren. Sie sind Träger eines „kollektiven christlich-europäischen Gedächtnisses32.“

Die vorwiegend lateinische Historiographie kann bis weit ins 13. Jahrhundert hinein nicht losgelöst von ihrer Einbindung in die Bildungs- und Herrschaftselite betrachtet werden. So weist Dietmar Ponert darauf hin, dass „die lateinische Historiographie des Mittelalters ihren Höhepunkt zur Zeit des Stauferreiches [erlebte] [...]. Geschichtsschreibung bedeutete solange und in gleichem Maße, wie der Kaiser fähig war, Macht auszuüben und sich die Kräfte des Reiches dienstbar zu machen, Reichsgeschichtsschreibung; denn Geschichte wurde unter zentral-führender kaiserlicher Gewalt vor allem als Reichsgeschichte erlebt. Ihre fast ausschließlich dem Klerikerstande zugehörenden Autoren waren entweder dem Hof und seiner Kanzlei verbunden oder erfüllten in Bistum und Kloster reichs- und kulturpolitische Aufgaben: sie gehörten der obersten Bildungsschicht an33.“ Erst mit dem 13. Jahrhundert, vor allem aber dem 14. und 15. Jahrhundert drangen die Städte ebenfalls in diese Sphäre ein34. ← 17 | 18 →

Mittelalterliche Historiographie ist linear, sie zielt auf die Endzeit ab und ist dadurch ein geschlossenes System. Geschichte kann nur auf diese eine Art und Weise stattfinden, Alternativverläufe sind nicht denkbar. Der Stringenz und Abgeschlossenheit steht das offene Ende der Chronik gegenüber. Bis zum Beginn der Endzeit ist sie fortzuschreiben und immer wieder aufs Neue mit der Heilsgeschichte abzugleichen35. Auch aus der Notwendigkeit der fortwährenden Anpassung der Geschichte an die Gegenwart lässt sich die Offenheit der Universalchronistik für Veränderungen ableiten. Varianz ist daher ein logischer Bestandteil der Überlieferungssituation36. Mittelalterliche Chroniken zeigen in ihrer Überlieferung einen prozessualen Charakter, so dass jeder Textzeuge eines Werkes als eigenständig zu betrachten ist, selbst wenn der Grad an Variation minimal ist. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass Geschichtsschreibung im Regelfall, „da mit sehr viel Arbeitsaufwand verbunden, Auftragsarbeit [war], z.b. durch Herrscher oder Ordensobere gefördert [wurde]. Selten gab es dabei Mäzene, die zweckfrei förderten, viel üblicher waren politische Kräfte, die hier, bedacht auf die Rechtfertigung ihrer Interessen, anregend einwirkten […]37.“

Die Entwicklung einer volkssprachlichen Weltchronistik beginnt erst recht spät. Als erste umfassende Chronik ist die in der Mitte des 12. Jahrhunderts erstandene Kaiserchronik zu nennen, knapp 80 Jahre später folgt mit der Sächsischen Weltchronik die erste und für lange Zeit einzige Weltchronik in Prosaform.

c) Versuchsaufbau

Was passiert, wenn ein solcher Text wie die Sächsische Weltchronik mit einer unerprobten Schriftsprache in die sprachlich ausdifferenzierte Welt des Lateinischen eindringt und Weltgeschichte zu schreiben beabsichtigt? Wie wird die Aufgabe gelöst, festen Ausdrücken, präzisen Formulierungen auch im Deutschen Ausdruck zu verleihen? Was passiert, wenn ein volkssprachiger Text in einem Umfeld entsteht, das durch und durch Lateinisch geprägt ist? Welche Worte werden verwendet, um über Herrschaft zu reden? Kurz gesagt: wie wird in der Sächsischen Weltchronik Herrschaft versprachlicht? Dies ist die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit. Um diese Frage zu klären, wird die Arbeit in drei Teile untergliedert. Zunächst wird die SW als Quelle in ihrer gesamten Komplexität dargestellt (Kap. 1). Es folgt ein Analyseteil (Kap. 2–6), in dem aus unterschiedlichen Perspektiven die Verwendungsmuster der Vokabel rike erfasst werden. Der hierin mehrfach vollzogene Perspektivwechsel ermöglicht die Erfassung unterschiedlicher Bedeutungsaspekte von rike. Im letzten Teil (Kap. 8) sollen die in der Analyse gemachten Beobachtungen synthesen- und überblicksartig mit bestehenden Beobachtungen zu Herrschaftsvorstellungen der SW-Entstehungszeit verknüpft werden. ← 18 | 19 →

In einem ersten Analyseschritt wird die Signifikanz von rike innerhalb des SW-Textes herausgearbeitet (Kap. 2). Um das Bedeutungsspektrum dieser Vokabel zu erfassen, wird sie im Anschluss von unterschiedlichen Seiten beleuchtet.

Die Ausgangsthese, dass sich im Zusammenhang mit dem Terminus rike Herrschaft erfassen lässt, ist anhand der beiden ältesten vollständigen Handschriften der frühesten Fassung (AI) der Chronik entwickelt worden. Die hieraus stammende, im Original untersuchte, Leithandschrift 2 (München Cgm 55) dient der Erarbeitung der Verwendungsmuster von rike. Hier gilt es zu erschließen, welche Personen mit rike interagieren können. So lassen sich Aussagen über die Kompetenzen und Handlungsbereiche der einzelnen Handlungsträger treffen (Kap. 5). Die Untersuchung der mit rike zusammen in einem Satz stehenden Verben schließlich dient der Klärung der rike zugeordneten Handlungsräume und damit auch der Klärung, wie ein vernakularer Text die Verben regnare und imperare im Deutschen ausfüllt (Kap. 3).

Dank der breiten, und teils sehr disparaten, Überlieferung der Sächsischen Weltchronik ist es möglich, in einem Querschnitt zu erschließen, wie stabil das Reden über Herrschaft in diesem Text ist. Und so soll der Vergleich mit drei späteren Handschriften, jeweils überarbeitete und voneinander unabhängige Textzeugen (Kap. 1.2 und 1.3), der Sächsischen Weltchronik zeigen, wie fest die Zuschreibung bestimmter Handlungen und Akteure im Kontext von rike ist (Kap. 6).

Ziel der Arbeit ist die Klärung, ob rike ein zentraler Terminus in der Versprachlichung des Abstraktums Herrschaft ist und wie sich sein Bedeutungsspektrum mit Blick auf die bekannten Deutungen dieser Vokabel verhält. Eine leitende Frage ist, ob rike selbst für Herrschaft steht und dabei sowohl Wort, Symbol als auch Ding zugleich ist. Innerhalb der Analyse wird rike als ‚Blackbox‘ im Sinne der Systemtheorie behandelt. Es soll nur das ‚äußere Verhalten‘ untersucht werden, die Kenntnis über die ‚innere Struktur‘ bleibt, trotz des Wissens darum, unberücksichtigt38. Daher soll rike so weit wie möglich unübersetzt bleiben, um den Blick auf das Bedeutungsspektrum des Wortes nicht durch die Wahl einer möglichen Übersetzungsvariante zu verstellen. Eine Schwierigkeit der Arbeit ist jedoch, dass aus arbeitsökonomischen Gründen an anderer Stelle – für andere Vokabeln – sehr wohl auf die gängigen lexikalischen Übersetzungen zurückgegriffen werden muss.

Das Umfeld von rike wird überprüft: Welche Attribute, Objekte, Personen, Verben stehen um rike herum und in welchen Verbindungen? Bezugsgröße ist dabei stets der ganze Satz. Dieser Ansatz ist im Einklang mit den bestehenden Untersuchungen von Steinmetz39 entwickelt worden. Auf diese Weise können die Verwendungszusammenhänge von rike erschlossen werden.

Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit ist dabei, dass es am Ende keine eindeutige Übersetzung von rike geben wird, sondern dass das Bedeutungsspektrum dieser Vokabel sichtbar gemacht worden ist. Denn eines der Grundphänomene von Sprache ist deren Unbestimmtheit. Das heißt, dass Sprache so flexibel sein muss, dass man mit einem sinnvollen Repertoire an Wörtern über alles sprechen kann. Dabei können durch Attribuierungen die jeweiligen Kernbedeutungen erweitert werden40. Hiervon ausgehend wird die ‚Blackbox‘ mit Möglichkeiten von Bedeutung angefüllt, die sich nicht aus Wörterbuch- oder Handbuchwissen, sondern aus den Gebrauchszusammenhängen ← 19 | 20 → des Texts selbst ergeben. Durch die Erfassung der Verwendungsmuster von rike wird ein klarerer Blick auf das in der SW verankerte Denken über Herrschaft erlangt. Denn Sprache transportiert durch bestimmte Ausdrucksweisen Grundinformationen, die das Individuum beim Spracherwerb unbewusst aufgenommen hat. Über die Analyse der Sprache werden implizite Vorstellungen und die hiermit verbundenen Geltungsansprüche, Ordnungsbehauptungen und Rollenstilisierungen sichtbar. Alles im Text Vorgefundene ist schlussendlich Ausdruck bestimmter Vorstellungen, die dahinter liegende Realität lässt sich darüber jedoch nicht fassen.

Voraussetzung für die vorliegende Untersuchung ist jedoch, dass rike überhaupt im Kontext von Herrschaft verwendet wird. Davon ausgehend, dass Herrschaft für die Zeit des Mittelalters vor allem personal und auf den Herrscher bezogen gedacht und wahrgenommen wurde41, ist zunächst zu klären, ob rike sich in diesem Kontext überhaupt findet. Es kann vorweg genommen werden, dass Passagen, in denen rike zusammen mit kunich als auch mit keiser steht, in der SW häufig vorkommen.

Die Erschließung der Gebrauchssituationen soll die möglichen Bereiche sichtbar machen, in denen, der Wahrnehmung der SW-Schreiber nach, Herrschaft vollzogen wird. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine politische Institution nur dann existiert, wenn sie stattfindet, sprich: wenn sie als Prozess, in Form von Ereignisreihen, sichtbar wird42. Dabei steht der Text im Vordergrund. Fragen nach einer vermeintlichen historischen oder rechtsgeschichtlichen Realität („wie es eigentlich gewesen“) sind dieser Arbeit fern. Nicht die Suche nach der historischen Wahrheit, sondern die Suche nach der Wahrnehmung der Zeitgenossen ist Ziel der vorliegenden Analyse. Das von Goetz formulierte Desiderat einer, wie er es nennt, „Begriffsuntersuchung zu regnum“ soll hier für rike nachvollzogen werden43.

d) Zum Forschungsstand

d I) Konzeptebene - Herrschaft, Staat, Reich

Es dürfte daher eine lohnende Aufgabe sein, die mittelalterlichen Schriftsteller nach ihren eigenen Anschauungen vom Staat zu befragen: Dabei geht es nicht um die (eher philosophisch ausgerichtete) Staatstheorie, die den Idealstaat zeichnet (wie in den Fürstenspiegeln), als vielmehr um die eher „alltägliche“ Auffassung der gebildeten Zeitgenossen von ihrer öffentlichen Gewalt, wie sie sich in der pragmatischen Geschichtsschreibung, in Annalen, Chroniken und Viten, niederschlägt44.“

Goetz benennt die Bereiche, die man mit ‚Staat‘ verbindet: Staatstheorie und Idealstaatsformulierungen. Bei der Frage nach der Vorstellung von Herrschaft, die vor allem auf die sprachliche Konzeptualisierung zielt, spielen diese Ansätze nur insofern eine Rolle, als sie den Rahmen des Möglichen abstecken. Oder anders ausgedrückt: ← 20 | 21 → Fragen nach Vorstellungen von Herrschaft in der deutschen Chronistik verweisen auf das weite Feld der Forschungen zu Herrschaft, Staat, König- und Kaisertum im Mittelalter. Bei der in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung geht es nicht um den institutionellen Rahmen von Herrschaft oder das Suchen nach Belegen von vorstaatlichen Strukturen45, sondern um die in der SW abgebildeten Vorstellungen von Herrschaft. Es wird untersucht, wie das Handeln des Herrschers beschrieben wird46 und welche sprachlichen Mittel dafür verwendet werden47.

Besonders die Arbeiten, die danach fragen, wie die mittelalterliche Gesellschaft Königtum und hierarchische Strukturen begründet hat48 und welche Modelle von Herrschaft im Denken der Zeitgenossen zu finden waren (Sakralkönigtum49, vicarius christi50, Endzeitherrscher51), stellen den Rahmen bereit, in dem das vorliegende Forschungsvorhaben angesiedelt ist. In diesem Zusammenhang ist auch die vorwiegend keltologische Forschung zu der Verbindung zwischen König und Land52 zu nennen, bei denen u.a. das Phänomen des Hochzeitsrituals vom Herrscher mit dem Land untersucht wird53. Aber auch konkrete Ansätze, die sich mit dem Verhältnis König und Fürsten54 und Kaiser und Papst55, sowie dem Verhältnis des römisch-deutschen Herrschers zum byzantinischen Basileus56 befassen, sind relevant. Bernhard Jussen fragte zusammen mit Kollegen nach der „Macht des Königs“ und deren Funktions- und Darstellungsweisen im Verlauf der Jahrhunderte57. Zuletzt näherte man sich in den 2006 zur Ausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ erschienenen Textbänden aus verschiedenen Blickwinkeln dem Thema Herrschaft58. Die Arbeiten Althoffs setzen an einem anderen Punkt an, sie fragen nach den Funktionsweisen ← 21 | 22 → von Ritual und Inszenierung für Herrschaft, lassen aber die Ebene der Sprache unberücksichtigt.

Ein dringendes Desiderat bleibt eine übergreifende Untersuchung der volkssprachigen Historiographie und ihrer Vorstellungswelt. Für die lateinische Sprache hat Goetz einen ersten Ansatz geboten, er greift sich lateinische Termini wie potestas oder regnum heraus und versucht über sie einen Zugriff auf das dahinterliegende Herrschaftsverständnis59. Für das Deutsche ist eine solche Untersuchung bisher nicht unternommen worden. Hier gibt es lediglich als einschlägige Arbeiten die von Nellmann zum Reichsbegriff in der deutschen Chronistik60, der man jedoch immer wieder ihre Zeitgebundenheit anmerkt, sowie von linguistischer Seite die Arbeit von Ris, die recht wertvolle Hinweise zur Sprachgeschichte bietet61. Zur Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Chronistik sind immer noch die Arbeiten von Dagmar Neuendorff und Monika Pohl zu nennen62, Heinz Krieg befasst sich mit der Herrscherdarstellung in den vorwiegend lateinischen Urkunden und der Historiographie der Stauferzeit63. In keiner der vorliegenden Arbeiten wurde bisher ein Ansatz entwickelt, einen volkssprachlichen Text in seiner Sprachverwendung auf Vorstellungen über Herrschaft hin zu untersuchen und dabei Abstand von der Figur des Königs oder Kaisers zu nehmen.

Den theoretischen Rahmen für die vorliegende Arbeit liefert aus dem Bereich der Herrschafts- und Staatsforschung die umfassende Forschung von Tilman Struve64 sowie von Ernst H. Kantorowicz65, die über die konkrete Herrschergestalt hinaus nach Ordnungssystemen der mittelalterlichen Gesellschaft fragten. Sie haben aus den Texten heraus metaphorische Konzepte von Körperlichkeit entwickelt. Struve befasst sich in seiner Arbeit mit Korpusvorstellungen des mittelalterlichen Herrschaftssystems, während Kantorowicz vom Herrscher aus die Theorie von den zwei Körpern des Königs, dem konkreten und dem abstrakten, entwirft.

Vorstellungen von Herrschaft sind laut Struve immer an die Person des Herrschers gebunden, den man mit der „Sphäre des Staates“ gleichsetzen kann66. ‚Staat‘ wird von Struve als „Ordnungsbegriff zur Bezeichnung vormoderner Strukturen“ „zur Bezeichnung des politisch-organisatorischen Rahmens [...], innerhalb dessen von den Zeitgenossen staatliche Strukturen entwickelt und Reflexionen über das Gemeinwesen und die dasselbe konstituierenden menschlichen Verbände angestellt wurden“ gebraucht67. Auch in der mittelalterlichen Gesellschaft bedurfte es der Benennung dieser Verbände und „angesichts des Mangels an einer eigenständigen Terminologie zur Veranschaulichung der mannigfachen Erscheinungen des staatlich-gesellschaftlichen Bereichs wurde schon frühzeitig auf den lebendigen Organismus als Modell zurückgegriffen68.“ Der Organismusvergleich führt letztlich zur Ausbildung von transpersonalen ← 22 | 23 → Staatsvorstellungen69. Das somit sprachlich-metaphorisch geschaffene Gebilde an sich konnte schließlich losgelöst vom konkreten Herrscher beschrieben werden.

Das Körperkonzept als Herrschaftsmodell bietet einen guten Ausgangspunkt zu Fragen nach Herrschaft, wenn nicht die Person des Herrschers, sondern Vorgänge und Vorstellungen in den Blick genommen werden sollen.

d II) Semantische Ebene – von der lateinischen politischen Sprache zur vernakularen politischen Sprache

Im Bereich des Sprachwechsels ist kaum Literatur zu benennen. Das Verhältnis von Latein und Deutsch im Bereich der Chronistik ist vor allem von Sprandel70 und Ponert71 bearbeitet worden. Rüdiger Schnell betont in seinen Untersuchungen die Schwierigkeit, die unterschiedlichen Sprachwelten voneinander abzugrenzen, weist dabei aber eindringlich darauf hin, dass sich zwischen volkssprachlichen und lateinischen Bearbeitungen derselben Stoffe deutliche Unterschiede erkennen lassen72.

Erst allmählich wächst ein Interesse an der Auseinandersetzung mit der Verschriftlichung der Volkssprache und ihrem Eindringen in lateinisch besetzte Textgattungen. Dies bezeugen die Ausgabe der Scientia Poetica von 200673, in dem die Autoren sich von unterschiedlichen Seiten dem Umgang mit der deutschen Sprache aus der Perspektive der Historischen Semantik nähern, sowie der im selben Jahr erschienene Sammelband „Im Wortfeld des Textes“74.

Dem stehen die Arbeiten von Jan Rüdiger gegenüber, der sich mit dem Komplex des vernakularen Sprachgebrauchs in Okzitanien auseinandergesetzt hat75. Die von Rüdiger entwickelten Thesen sind in der Entstehung der vorliegenden Arbeit immer wieder diskutiert worden und bilden für den Komplex des Sprachwechsels den theoretischen Rahmen.

d III) Quellenebene – Geschichte der SW

Die Forschung zur Sächsischen Weltchronik befasste sich lange Zeit mit ihrer Überlieferung, Quellennutzung und Entstehung. Michael Menzel76 untersuchte die innere Struktur und die Quellennutzung der SW und wandte sich aufgrund seiner Forschungsergebnisse entschieden gegen die von Hubert Herkommer77 vertretene Überlieferungsthese, die eine Entstehung der verschiedenen Rezensionen von der längeren Fassung C zur kurzen Fassung A postuliert78. Menzel konnte durch seine ← 23 | 24 → genaue Quellenuntersuchung nicht nur Herkommers These fundiert widerlegen, er kam sogar zu einer feineren Einteilung der Rezensionen in AI, AII, B, CI, CII und CIII79. Vor allem Jürgen Wolf hat mit seiner Dissertation zur SW ein umfassendes Werk sowohl zur Handschriftenüberlieferung als auch zu Entstehung und Rezeption der einzelnen Textzeugen verfasst80. Die Untersuchungen von Wolf sind der Ausgangspunkt für die inhaltliche Erarbeitung der SW in der vorliegenden Arbeit.

Bis jetzt fehlt eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt dieser Chronik. Einzig die Untersuchungen von Schwarzbauer81 und Jostkleigrewe82 haben die SW als eine ihrer Quellen herangezogen, hierbei aber nicht systematisch aufgearbeitet. Im selben Jahr wie Jostkleigrewe hat Gabriele von Olberg-Haverkate ihre textkritische Arbeit zum, wie sie es nennt, „Buch der Welt“ veröffentlicht83. Von Olberg-Haverkate nimmt hier vor allem den kompletten Codex als Informationsträger in den Blick, lässt jedoch den Inhalt des Textes außen vor. Auch der 2000 erschienene Begleitband zum Faksimile der Gothaer SW-Handschrift (Ms. Memb. I 90) setzt sich vorwiegend mit der Struktur des Textzeugens auseinander.

e) Sprache

e I) rike vs. Reich – Quellensprache/Beschreibsprache

Beim Verfassen einer historisch-semantischen Arbeit sind einige terminologische Problembereiche zu beachten. Einer ist der Umgang mit der Quellensprache, ein anderer die Trennung von Quellen- und Beschreibsprache.

Details

Seiten
314
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653046458
ISBN (ePUB)
9783653979466
ISBN (MOBI)
9783653979459
ISBN (Paperback)
9783631655436
DOI
10.3726/978-3-653-04645-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Weltchronistik Reichsvorstellung historische Semantik Herrschaftsvorstellung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 314 S.

Biographische Angaben

Meike Pfefferkorn (Autor:in)

Meike Pfefferkorn studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Deutsche Sprache, Ältere deutsche Literatur und Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Sie forschte im Leibniz-Projekt Politische Sprache im Mittelalter an der Universität Frankfurt und war Stipendiatin der Herzog-August Bibliothek in Wolfenbüttel sowie der Adolf-Schmidtmann-Stiftung. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Politische Sprache im Mittelalter.

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Titel: Zur Semantik von «rike» in der Sächsischen Weltchronik
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