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Danton’s Tod von Georg Büchner

Revolutionsdrama als Tragödie

von Riitta Pohjola-Skarp (Autor:in)
©2014 Monographie 282 Seiten

Zusammenfassung

War Shakespeare das Genie des letzten Jahrtausends, so war Georg Büchner (1813–1837) das Jahrtausendtalent. In diesem Buch begegnen sie sich. Als Büchner mit 21 Jahren sein erstes Drama Danton’s Tod schrieb, drohte ihm wegen seiner politischen Tätigkeit die Gefangennahme. Die Autorin untersucht Büchners Drama aus mehreren Perspektiven, wobei sie den historischen und politischen Aspekt mit einem von Slavoj Žižek inspirierten psychoanalytischen Blickwinkel sowie mit einer feministischen Lesart und mit Shakespeares Dramaturgie verbindet. Die weiblichen Gestalten des Dramas treten in den Fokus. Danton’s Tod dekonstruiert den Helden der Tragödie, baut aber Heldinnen auf, indem die Frauen am Ende des Stückes aus der marginalen Stellung in den Mittelpunkt rücken. Aus dem Revolutionsdrama wird eine moderne Tragödie als Alternative zur Ibsen-Tradition.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort zur deutschen Ausgabe
  • I Einleitung
  • 1. Die Möglichkeit der modernen Tragödie
  • 2. Historisches Revolutionsdrama oder Tragödie
  • 3. Ausgangspunkte der Untersuchung
  • II Georg Büchner 1813–1817 – Vom Politiker zum Dramatiker
  • 4. Restauration contra Revolution: Eine umstrittene Epoche
  • 5. Umstrittene Biografie: Vom radikalen Studenten zum radikalen Dramatiker
  • 5.1 Kindheit und Schuljahre in Darmstadt
  • 5.2 Studienzeit in Straßburg: Politisches Gewitter in der Julimonarchie
  • 5.3 Die Rückkehr nach Deutschland und die „Operation Landbote“
  • 5.4 Vom Vergötterer zum Schwarzmaler der Revolution – Die Entstehungsgeschichte von Danton’s Tod
  • 5.5 Gezählt die Tage des Forschers, die Nächte des Dichters
  • 6. Ausgangspunkte der Dramatik Büchners
  • 6.1 Büchner als Naturforscher, Büchner als Dichter – von der Naturphilosophie zur Psychoanalyse
  • 6.2 Für Shakespeare gegen Schiller
  • III Danton’s Tod – Die Tragödie der Revolution?
  • 7. Danton’s Tod als Gegenstand von Auseinandersetzungen
  • 8. Von der Geschichte zum Drama – die historischen Quellen und die Dramaturgie
  • Exkursion in die Quellenforschung: René Levasseurs Memoiren und Danton’s Tod
  • 9. Das edle Drama der Revolution?
  • 9.1 Dramaturgie und Konfliktstruktur
  • 9.2 Danton und die Gemäßigten contra Robespierre und die Jakobiner
  • 9.2.1 Die Ideologie der Gemäßigten
  • 9.2.2 Jakobiner contra Gemäßigte
  • 9.2.2.1 Tugend contra Laster / Genuss
  • 9.2.2.2 Die Begegnung zwischen Robespierre und Danton
  • 9.2.2.3 St. Justs Rede und die Legitimation des Terrors
  • 9.2.3 Die ideologischen Oppositionen als semiotisches Viereck
  • 9.3 Das Volk – das dritte Kraftfeld?
  • 9.3.1 Die Volksszenen und Shakespeare
  • 9.3.2 Das Volk und der Polyperspektivismus
  • 9.4 Die Revolution als Theater
  • 9.4.1 Revolutionstheater und Ideologiekritik
  • 9.4.2 Parodie des erhabenen Dramas
  • 9.4.3 Karneval des Volkes?
  • 10. Tragödie?
  • 10.1 Tragödienheld und Ambivalenz – Hamlet und Danton
  • 10.1.1 Hamlet, Danton und die Melancholie
  • 10.1.2 „Die Freiheit ist eine Hure“
  • 10.2 Die Dramaturgie der Tragödie
  • 10.2.1 Die Dramaturgie der Tragödien Shakespeares
  • 10.2.2 Der dramaturgische Prozess und die Schuld
  • 10.2.2.1 Der erste Akt – Der „Blutmessias“ Robespierre und die Schuld
  • 10.2.2.2 Der zweite Akt: Danton – „September!“
  • 10.2.2.3 Der dritte Akt: „das Leiden – der Fels des Atheismus“
  • 10.2.2.4 Der vierte Akt: „Die Welt ist das Chaos“
  • 11. Die Frauengestalten und die Tragödie
  • 11.1 Shakespeares Tragödie und die Frauengestalten
  • 11.2 Marion
  • 11.2.1 Marion und Marion de Lorme
  • 11.2.2 Marion und Manon (die junge Madame Roland)
  • 11.2.3 Marion und die Herausforderung der feministischen Forschung
  • 11.3 Lacan und die feminine Sexualität
  • 11.4 Die Heldinnen der Tragödie: Julie und Lucile
  • 11.4.1 Julie und Danton
  • 11.4.2 Lucile und Camille Desmoulins
  • 11.4.3 Lucile, Antigone und der Akt
  • 12. Revolutionsdrama als Tragödie?
  • 12.1 Die Schlussperspektiven von Danton’s Tod
  • 12.2 Ralf Långbackas Inszenierung von Danton’s Tod 1977 und das Ende des Stücks
  • 12.3 Die Revolution als Tragödie
  • 12.4 Revolution, Entfremdung und Tragödie: Danton’s Tod und Woyzeck
  • 12.5 Die Dramaturgie des Zweifels und die Ambivalenz der Tragödie
  • IV Büchners Revolutionsdrama – Eine alternative moderne Tragödie
  • Anhang
  • Anmerkungen
  • Bibliographie
  • Index

← 12 | 13 → Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die vorliegende Untersuchung basiert auf meiner finnischsprachigen Dissertation Georg Büchner ja Dantonin kuolema – vallankumousdraama vai tragedia? 1900-luvun vaihtoehtoja: Brecht ja Müller (Georg Büchner und Danton’s Tod – Revolutionsdrama oder Tragödie? Alternativen des 20. Jahrhunderts: Brecht und Müller) aus dem Jahr 2004, deren Grundlage in jahrzehntelanger Beschäftigung mit diesem frühen „Meteoriten“ (Elfriede Jelinek) des modernen Dramas entstand. Georg Büchner wird im Allgemeinen eher als Zeitgenosse empfunden denn als ferner Klassiker.

Meine erste Untersuchung schrieb ich über Büchners letztes, unvollendetes Drama Woyzeck (Die Problematik der Entfremdung in Georg Büchners Woyzeck, 1977 auf Finnisch). 1984 gab ich Büchners Werke und Briefe in finnischer Übersetzung heraus.

In den 1980er Jahren lockte die deutsche Quellenforschung mich zu den historischen Quellen von Büchners Erstlingswerk, Danton’s Tod. Diese nutze ich im ersten Teil der Untersuchung, wo ich das Stück als historisches Revolutionsdrama betrachte. Doch diese Perspektive reicht nicht aus, um den vieldimensionalen Text zu erhellen. Das Werk Modern Tragedy von Raymond Williams, insbesondere das Kapitel Tragedy and Revolution, regte mich dazu an, Büchners Drama als Tragödie zu untersuchen – obwohl oder vielleicht gerade weil Williams in seinem Werk Büchner gar nicht behandelt.

Bei der Abfassung meiner Dissertation wurde die Arbeit von den Nachwehen der Auseinandersetzungen innerhalb der Büchner-Forschung beeinflusst. Ausgelöst wurden diese Auseinandersetzungen durch die These vom „Frühkommunisten Büchner“, die Thomas Michael Mayer 1979 aufstellte. Viele Interpreten des Dramas Danton’s Tod ordneten sich in pro/contra Danton-Robespierre-Lager ein. Noch im Jahr 2000 wurde die Büchner-Forschung als „Schlachtfeld“ bezeichnet, auf dem „jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagener Kopf ist“ (vgl. Barrères Replik in Danton’s Tod III/6). Inzwischen hat sich die Lage geändert, doch der Streit um Büchner ist längst nicht entschieden. Heutzutage geht es mehr um Büchners letztes als um sein Erstlingsdrama – ob es überhaupt das Drama Woyzeck als solches gibt.

Im Jahr 2013 war die 200. Geburtstagsfeier Büchners. Zu diesem Anlass erschienen zwei neue, völlig konträre Biografien, Jan-Christoph Hauschilds Biografie Georg Büchner, Verschwörung für die Gleichheit (Hoffmann und Campe 2013) und Hermann Kurzkes Georg Büchner. Geschichte eines Genies (C.H. Beck 2013). Hauschild betont Büchners politische Tätigkeit und Subversivität. Gegen ← 13 | 14 → diese seit den 1980er Jahren stärker gewordene Deutung stellt sich Kurzke und führt die alte Linie der christlichen Büchner-Interpretation fort, die in den 1980er Jahren ins Abseits geraten war. Für ihn ist Büchner immer ein typischer Protestant, ein evangelischer Christ, der um die Gnade ringt.

Im vergangenen Jahr erschienen die letzten Bände der umstrittenen und gepriesenen Marburger Büchner Ausgabe. Ich habe nun noch alle Teile der MBA durchgesehen und alle Hinweise und Anmerkungen zu Büchners Texten auf die MBA geändert. Aufgrund der neuesten Forschung habe ich einige Ergänzungen und Präzisierungen vorgenommen. Doch nach der Fertigstellung meiner Dissertation ist meines Erachtens keine Untersuchung erschienen, die mich zu Neueinschätzungen zwingen würde. Sowohl in Kurzkes Biografie als auch in Hauschilds zweitem im vorigen Jahr erschienenen Werk Georg Büchners Frauen (dtv 2013) nehmen die Frauen einen zentralen Platz ein. Doch der Schwerpunkt ist vor allem biografisch. Ich selbst untersuche die Frauengestalten der Revolutionstragödie als Teil der inneren Dynamik des Dramas. Dagegen hätte der recht knappe letzte Teil meiner Dissertation, „Alternativen des 20. Jahrhunderts, Brecht und Müller“, so erheblich ergänzt werden müssen, dass dafür neue grundlegende Forschungen notwendig gewesen wären. Deshalb wurde er in die vorliegende deutschsprachige Fassung, die sich auf Büchner konzentriert, nicht aufgenommen.

Ich betrachte Büchner aus einer größeren Zahl von Perspektiven als es in der Büchner-Forschung üblich ist. Als Dramaturgin interessierte ich mich für den dramaturgischen Prozess von Büchners Revolutionsdrama und für sein Verhältnis zu Shakespeares Tragödien. Die historische und politische Betrachtung verbinde ich mit der von Slavoj Žižek inspirierten psychoanalytischen Perspektive sowie mit einer feministischen Lesart. Die Frauenfiguren sind zentral in meiner Deutung des Revolutionsdramas als Tragödie. Ich nutze auch sehr viel nichtdeutsche theoretische Literatur und Forschung.

Die lange Bearbeitung der deutschen Fassung hat Geduld von der Übersetzerin erfordert. Ich danke Gabriele Schrey-Vasara für die gute Zusammenarbeit.

Ich danke der Finnischen Kulturstiftung, die die Übersetzung dieses Buches gefördert hat.

Helsinki, im August 2014

Riitta Pohjola-Skarp

← 14 | 15 → I Einleitung

1. Die Möglichkeit der modernen Tragödie

„Büchner war ein stürmischer Demokrat, und dennoch hätte selbst der schlimmste Reaktionär die Verhältnisse der Revolutionszeit nicht in schwärzeren Farben malen können“, schrieb Kaarlo Bergbom 18681 über Georg Büchners Schauspiel Danton’s Tod (1835). Es handelt sich bei diesem Stück um das unglaublichste Debüt der Weltliteratur und um das bedeutsamste Drama über die Französische Revolution. Zudem ist es das umstrittenste und zu den widersprüchlichsten Deutungen anregende Werk der deutschen Literatur.2

In der vorliegenden Untersuchung betrachte ich Danton’s Tod zunächst als Revolutionsdrama in Relation zu Büchners erklärtem Ziel, „so nahe wie möglich an die Geschichte heranzukommen“3, d. h. ich untersuche das Stück im Verhältnis zum historischen Quellenmaterial und zu den politischen Auffassungen des Autors. Im Anschluss daran lege ich den Schwerpunkt auf die Frage, wie sich aus diesem Schauspiel die alternative moderne Tragödie entwickelt.

„Mit Büchner fängt eigentlich die moderne Dramatik an“, behauptet Heiner Müller.4 Und die moderne Tragödie? Für Hegel ist bereits Shakespeare die zentrale Gestalt der modernen Tragödie, als Gegenpol zur antiken Tragödie.5 Heute vertritt man die Ansicht, die moderne Tragödie habe sich bei Henrik Ibsen herausgebildet. Doch Georg Büchner, der Jahrzehnte vor Ibsen schrieb, ist ein Dramatiker, der vor der eigentlichen Epoche der modernen Tragödie tragische Form und politische Thematik miteinander verband. In seiner Untersuchung Tragic Drama and Modern Society stellt John Orr fest, dass sich ab 1880 im deutschen Theater zwei alternative Wege der modernen Tragödie entwickelten. Der eine Weg führte über Hebbel und Ibsen, der andere über Georg Büchner.6

Auffällig ist dabei der Anachronismus, die Schwierigkeit, Büchner im Verhältnis zu seiner eigenen Zeit, zum Deutschland der 1830er Jahre zu sehen. Er entwarf eine Alternative zu zwei Dramaturgien sehr unterschiedlicher Art. In Deutschland ging ihm das idealistische Drama des Weimarer Klassizismus voran, und 50 Jahre nach ihm folgten Ibsens und Tschechows realistische Dramatik und die Bindung an naturalistische Formen.7

In dieser Studie untersuche ich Georg Büchners „vorzeitige“ dramaturgische Alternative zur modernen Tragödie. Danton’s Tod8 und Woyzeck blieben auf Jahrzehnte hinaus – um Heiner Müller abzuwandeln – „einsame Texte, die auf die Geschichte warteten“.9

← 15 | 16 → Die Debatte darüber, ob die moderne Tragödie überhaupt möglich sei, ist mehr als eine gattungstheoretische Analyse der Literatur. „Das Nachdenken über die Möglichkeiten der Tragödie ist Kulturdiagnose“, stellt Susan Sontag fest.10 Nach Ansicht der meisten ist die moderne Tragödie eine Unmöglichkeit, nur über die Gründe bestehen unterschiedliche Auffassungen: der Tod Gottes, die Rationalität der westlichen Kultur, ihr Skeptizismus und ihr Verlust des Glaubens an Metaphysisches, bürgerliche Demokratie und Gleichberechtigung, das Selbstbewusstsein des westlichen Menschen und die wachsende Subjektivität usw.11 Ein wichtiges Werk hinsichtlich der Untersuchung dieser Todesursachen war Georg Steiners The Death of Tragedy (1961). In diesem einflussreichen Buch erläutert Steiner seine Auffassung zu der Frage, weshalb nach Shakespeare und Racine die „tragische Stimme“ im Drama undeutlich geworden oder verstummt ist.12

Raymond Williams schrieb sein Buch Modern Tragedy (1966) als Kritik am Tod der Tragödie. Als er 1977 auf sein frühes Werk zurückkam, stellte er fest, der Begriff Tragödie sei weiterhin – trotz aller Schwierigkeiten – ein brauchbarer Terminus für Werke, die sich auf die Problematik des Todes, des extremen Leids und des Zerfalls konzentrieren.13 Die wesentliche tragische Erfahrung ist der endgültige Verlust von etwas Wertvollem und Unersetzlichem. Die Darstellung tiefen, unermesslichen Leids auf der Bühne wird als wichtigster Bestimmungsfaktor der Tragödie angesehen.14

Das wichtigste Land und zentrale Schlachtfeld der modernen Tragödie war Deutschland, konstatiert Franco Moretti in seinem Essay The Moment of Truth.15 Er beschreibt die Geographie der modernen Tragödie, indem er Europa in drei Teile gliedert: in das Gebiet des Romans, des Modernismus und der Tragödie. Das Europa des Romans ist das Europa der entwickelten Nationalstaaten, Englands und Frankreichs, das Europa des Modernismus das der Metropolen – Paris, St. Petersburg, Berlin, London, Zürich, Mailand, Wien, Prag und sogar Dublin. Das Europa der Tragödie ist das Europa des Krieges. Deutschland ist nicht sein Kerngebiet, sondern eher ein „Niemandsland“, ein europäisches Schlachtfeld, auf dem auch der Kampf um die moderne Tragödie und die tragische Vision ausgefochten wurde.

In den ersten Jahrzehnten der Moderne wurde der große Kampf gegen die tragische Kultur in Deutschland geführt – und Moretti zufolge verloren: Immanuel Kant versuchte den im Bereich der Kunst potentiell tragischen Riss zwischen Wissen und Moral zu heilen. Das gleiche Ziel verfolgte Friedrich Schiller mit der ästhetischen Erziehung. Er wies der Kunst die Aufgabe zu, die verlorene Harmonie wiederherzustellen, der Aufsplitterung und Entfremdung, die die moderne Entwicklung mit sich brachte, entgegenzuwirken.

← 16 | 17 → In Hegels Philosophie definiert sich auch die Tragödie als Teil der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes. Hegels Tragödienbegriff beinhaltet auch die Versöhnung, die tragische Kollision wird überschritten, wenn „das ewig Substanzielle in versöhnender Weise siegend hervorgeht“.16 Hegel bezog die Tragödie als eine Art Kristallisation in den höheren Stufen zustrebenden fortschrittlichen Geschichtsprozess ein.

Friedrich Nietzsches zivilisationskritischer Tragödienbegriff ist Hegels Philosophie vollkommen entgegengesetzt. Als er in seinem Jugendwerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) über die Entstehung der Tragödie im antiken Griechenland schrieb, schrieb er zugleich über ihren Tod. Seiner Ansicht nach starb die Tragödie unter dem Einfluss der sokratischen Vernunft und des Optimismus, insbesondere durch Euripides. Dieser gestaltete die Tragödie psychologischer als zuvor, vernünftiger – und harmloser.17 Für Nietzsche aktualisiert die Tragödie in ästhetischer Gestalt die anthropologische Basis, auf der der Mensch den tierischen Instinkt in sich selbst und in seiner Existenz eingesteht und ihn nicht gegen sich selbst wendet. Die Tragödie schließt Entwicklung aus und stellt den atavistischen Urzustand und seine Grausamkeit wieder her.18

Ein frühes Beispiel für die Kollision dieser beiden Auffassungen im 19. Jahrhundert ist Goethes Einstellung zu Heinrich von Kleists Penthesilea. In dieser Tragödie werden die von der Zivilisation gesetzten Grenzen überschritten, als Penthesilea Achilles in ihrer in Hass umgeschlagenen Leidenschaft zerfleischt. Kleist sandte 1808 Teile seiner Tragödie Goethe zur Lektüre nach Weimar, doch dieser reagierte ablehnend.19 In anderem Zusammenhang hat Goethe konstatiert, er selbst sei nicht zum tragischen Dichter geboren, da er von Natur aus versöhnlich sei. Die völlige Unmöglichkeit einer Versöhnung, die einen durch und durch tragischen Fall charakterisiere, erscheine ihm absurd. Wenn Versöhnung möglich werde, schwinde die Tragik.20 Dennoch bezeichnete er sein Hauptwerk Faust, das mit einer großen Versöhnung endet, als Tragödie, was mit Hegels Auffassung von der Tragödie übereinstimmt.

Die frühe Moderne steht in Verbindung mit Aufklärung und Rationalismus. Peter V. Zima zeigt in seinem Werk Moderne / Postmoderne auf, dass in der Philosophie und Literatur des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ambiguität, die Vieldeutigkeit, und ihre Lösung eine zentrale Rolle spielten. Die Wirklichkeit schien trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten kontrollierbar und die Vieldeutigkeit lösbar. Die Realisten glaubten, die Wirklichkeit schildern und durch die äußerlichen Erscheinungen hindurch zum Wesentlichen vordringen zu können, sie glaubten an die Möglichkeit, Wahr und Falsch, Gut und Böse unterscheiden zu können. In Hegels Philosophie kam noch die Ideologie ← 17 | 18 → der Überlegenheit der Vernunft zum Ausdruck, das Vertrauen der Moderne auf die Fähigkeit der Vernunft, Irrationalität und Unordnung zu beherrschen. Die Einheit der Gegensätze bedeutete ihre Überschreitung auf einer höheren Ebene des Bewusstseins, in der Synthese.21

Details

Seiten
282
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653048261
ISBN (ePUB)
9783653978407
ISBN (MOBI)
9783653978391
ISBN (Hardcover)
9783631656006
DOI
10.3726/978-3-653-04826-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Dramaturgie Tragödie Shakespeare Frauengestalten
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 282 S., 8 s/w Abb.

Biographische Angaben

Riitta Pohjola-Skarp (Autor:in)

Riitta Pohjola-Skarp studierte Allgemeine Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Turku und promovierte über Büchner an der Universität Helsinki. Sie war lange Zeit als Dramaturgin tätig und lehrte an den Universitäten in Turku, Oulu, Tampere und an der Theaterhochschule in Helsinki. Zuletzt war sie Professorin für Theater- und Dramaforschung an der Universität Tampere. Zurzeit ist sie Mitglied der Redaktion der kritischen Ausgabe von Aleksis Kivis Werken bei der Finnischen Literaturgesellschaft. Zu ihren Publikationen zählen Schriften über Büchner, Heiner Müller sowie zur Dramentheorie.

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