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Comenius: Seiner Zeit weit voraus…!

Die Entdeckung der Kindheit als grundlegende Entwicklungsphase- Bindung – Identität – Liebe

von Eva Rass (Band-Herausgeber:in)
©2014 Monographie 141 Seiten

Zusammenfassung

Comenius gehört im Feld der humanistischen Wissenschaften zu den gedanklichen Riesen, deren Erkenntnisse erst sehr viel später durch nachweisbare Befunde mittels weiterentwickelter Forschungsmethoden und -instrumente belegt werden konnten. Er beschrieb Vorstellungen zur Lebenswelt des Kindes und Anforderungen an die Fürsorgepersonen, die derzeit von der Bindungsforschung und den Neurowissenschaften bestätigt werden können. Comenius arbeitete differenziert die Verantwortung der Erwachsenen heraus, um der nächsten Generation einen sinnvollen Lebensweg zu öffnen, der zum einen individuell die persönliche Entfaltung ermöglicht und zum anderen den Menschen dazu befähigt, sich solidarisch in die Gemeinschaft einzufinden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Die Entdeckung der Kindheit als grundlegende psychische Entwicklungsphase am Beispiel von Jan Amos Comenius’ Mutterschul
  • Vorwort
  • Teil I. Comenius und seine Zeit
  • 1. Charakteristika der Barockepoche und Aufkommen des Volksschulgedankens
  • 2. Comenius’ Leben
  • 3. Sein pädagogisches Wirken
  • 4. Die Erziehungslehre für das Kleinkind: „Informatorium. Der Mutter-Schul“
  • Kapitelschwerpunkte der Mutterschule
  • 1. Kapitel
  • 2. Kapitel
  • 3. Kapitel
  • 4. Kapitel
  • 5. Kapitel
  • 6. Kapitel
  • 7. Kapitel
  • 8. Kapitel
  • 9. Kapitel
  • 10. Kapitel
  • 11. Kapitel
  • 12. Kapitel
  • 5. Kindheit zu Beginn der Neuzeit
  • Der kleine Erwachsene
  • Kindersterblichkeit und Stillsitten
  • Kindestötung
  • Findelhäuser
  • Säuglingspflege
  • Die Rolle der Familie
  • 6. Die Einstellung zur Kindheit
  • 7. Zusammenfassung
  • Teil II. „Das Informatorium. Der Mutterschul“ im Vergleich mit heutigen Erkenntnissen
  • 1. Entwicklungsstufen nach Comenius und das heutige Wissen um deren Bedeutung
  • 2. Erkenntnisse aus der Säuglings- und Bindungsforschung
  • 3. Schwerpunkte des Informatorium im Vergleich mit der analytischen Selbstpsychologie
  • 4. Elternschaft als verantwortungsvolle und freudvolle Funktion des Erwachsenenselbst
  • 5. Pädagogische Grenzziehung und realistische Konsequenz als Schutzfunktion
  • 6. Die Versorgung des Säuglings
  • 7. Schulung der Sinne und des Handlungsvermögens
  • 8. Schwellensituation Einschulung
  • 9. Die Hinführung zu und das Aufgehobensein in Gott
  • 10. Ein Nicht-Erwähnen: Das Kind als „Spielzeug“
  • 11. Zusammenfassung
  • Schlußbemerkung
  • 2. Die frühe Kindheit – die grundlegende Weichenstellung der Entwicklung
  • Schlussfolgerung
  • 3. Identitätsentwicklung bei Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation: Aufwachsen unter erschwerten Bedingungen mit besonderer Berücksichtigung der Affektregulations- und Bindungstheorie
  • 4. Erziehung zur Liebe.
  • Der solidarische Umgang mit dem Anderen und sich selbst
  • Die Natur des Menschen und die Bedeutung der Liebe
  • Sexualisierung von Liebesbeziehungen
  • Symbiose statt Liebe
  • Résumée
  • Reife Liebe
  • Mütterlichkeit und Liebe
  • Erotische Liebe
  • Liebe und Erziehung
  • Liebe und Therapie
  • Liebe und Religion
  • Die Liebe zum Leben: ‚Sein statt Haben‘
  • Epilog
  • 5. Jan Amos Comenius – Lehrer der Menschlichkeit – Mensch der Sehnsucht
  • Literatur

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Vorwort

Immer wieder gibt es selbst unter den großen Denkern herausragende schöpferische Individuen, die mit brillanter Geistesschärfe, ungeheurer Beobachtungsfähigkeit, Intuition und eigenen Erfahrungen allgemeine Lebensphänomene gedanklich komplex, differenziert und mutig durchdringen und dabei zu zukunftsweisenden Vorstellungen gelangen. Jan Amos Comenius gehört zweifelsohne im Feld der humanistischen Wissenschaften zu diesen gedanklichen Riesen, deren Erkenntnisse erst sehr viel später durch nachweisbare Befunde mittels weiterentwickelter Forschungsmethoden und -instrumente belegt werden konnten.

Der Essay „Entdeckung der Kindheit als grundlegende psychische Entwicklungsphase am Beispiel von Jan Amos Comenius’ „Mutterschul“ entstand im Jahre 1998 – just in jenem Zeitraum, der als die „Dekade des Gehirns“ bezeichnet wurde (d.h. der Zeitraum von 1990–2000) (vgl. Schore 2007, S. 19). Die darin diskutierten Vorstellungen und Anforderungen, die Comenius an die verantwortliche Fürsorgeumwelt eines Kindes stellte, sowie deren Vergleich mit Erkenntnisfortschritten, die durch neue Beobachtungsmethoden und dem Einsatz bildgebender Verfahren möglich wurden (und der daraus resultierenden modernen Bindungs- und Affektregulationsforschung, ebd.), müssen auch 16 Jahre nach dem ersten Erscheinen in keinster Weise revidiert werden, da das damals Formulierte im Wesentlichen auch heutigen Überprüfungen standhält. Diese Tatsache lässt die Genialität des alten Meisters nur noch deutlicher aufleuchten. Wenn Comenius in seiner „Mutterschul“ z.B. dem Gemütszustand der Schwangeren ganz besondere Bedeutung zumaß – er realisierte, dass diese „besonderen Umstände“ Auswirkungen auf das ungeborene Kind haben – so kann die derzeitige Neurobiologie mit „harten Daten“ beweisen, dass tatsächlich der Gemüts- und Stresszustand der Mutter unmittelbare Auswirkungen auf das ungeborene Kind hat. Wenn Comenius davon spricht, dass die ersten Eindrücke im Leben eines Menschen so sehr haften, dass es einem Wunder gleicht, wenn sie umgestaltet werden könnten, verweist dies auf das heutige Wissen, dass diese frühen Erfahrungen Prägequalität haben und nicht mehr ausgelöscht, sondern nur noch überformt werden können (Bauer, J. 2002). Die Neurobiologie spricht vom Gehirn als „eine soziale Konstruktion“ (Eisenberg 1995). Insofern stellt der zweite Aufsatz im vorliegenden Buch „Die frühe Kindheit – die grundlegende Weichenstellung der Entwicklung“ (2013) eine mit den seit 1998 hinzu gekommenen neuen Forschungsbefunden erweiterte Ausarbeitung dar. Umfangreiche internationale Forschungsvorhaben können immer differenzierter und umfassender die Bedeutung der frühen Entwicklungsjahre nachweisbar belegen, so ← 7 | 8 → dass die „harte Wissenschaft“ der Neurobiologie die „sanfte Wissenschaft“ der Psychologie auf eine neue Ebene gehoben hat (R. Bowlby in Rass 2012, S. 8).

Comenius erachtete die ersten 6 Jahre als einen Lebenszeitraum, in dem zunächst die Eltern und vor allem die Mutter das Kind in einen emotionalen und kognitiven Zustand bringen sollten, um sich darauf folgend mit dieser sicheren Basis (ein Grundbaustein der modernen Bindungsforschung) der Welt zuwenden zu können. Ab dem 3. Lebensjahr sollten die Sinne und die damit möglichen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestaltet werden – „denn es gelangt nichts in den Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war“. Comenius hatte somit erkannt, dass spätere kognitive Prozesse eines funktionierenden sensorischen Fundamentes bedürfen und dass die Integration des sensorischen Erlebens jene Bahnen im kindlichen Verarbeitungssystem installiert, die später bei „höheren“ kognitiven Prozessen benutzt werden müssen. Wenn die sensorische Grundausstattung eingeschränkt arbeitet, beeinflusst dies unmittelbar die weitere sensomotorisch-kognitive Entwicklung. Ein Mensch mit Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation steht demzufolge vor sehr großen Herausforderungen, wenn es gilt, das Leben in seiner Komplexität sensomotorisch zu erfassen und zu verarbeiten, um diesbezüglich kompetent bei vielen Lebensabläufen abgestimmt mitschwingen zu können. Das dazu heutige Wissen wird im 3. Kapitel zusammengefasst dargestellt (Rass 2002, 2008, 2013).

Der Aufsatz von v. Carlsburg/Wehr beschäftigt sich mit der Entwicklung der Fähigkeit zu Einfühlung und zum Lieben und verweist ebenfalls auf frühe Erfahrungen des Menschen mit seiner Umgebung, um durch gemachte und verankerte Erfahrungen dieses inhärent angelegte Potenzial zu entfalten. Ein Mensch, der in seiner Entwicklungsgeschichte auf Einfühlung, Fürsorge, Achtung und Bindungssicherheit stößt, kann nicht anders, als diese Erfahrungen zu internalisieren, was notwendig ist, um es weitergeben zu können. Dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erkenntnis von Comenius, dass es in der Verantwortung der Eltern liegt, was aus dem Kind später wird. Die Eltern stehen somit vor der Entwicklungsaufgabe, sich der nächsten Generation mit Feinfühligkeit, mit Beziehungssicherheit und Lebenszuversicht als Entwicklungsobjekt anzubieten und Comenius steht somit in unmittelbarer Nähe zu dem zukunftsweisenden Aufsatz von A. und P. Ornstein „Elternschaft als Funktion des Erwachsenen-Selbst“ (1994).

Die moderne Bindungsforschung postuliert, dass die frühen Kindheitsjahre, insbesondere die ersten 3 Jahre, entscheidend für das weitere Leben sind, da die Kinder in dieser Zeitspanne mit ihren engsten Bezugspersonen Erfahrungen machen, die ihr späteres Erleben prägen. Wenn es sich um positive Erfahrungen handelt, gelingt es dem Menschen leichter, ein Urvertrauen zu ← 8 | 9 → entwickeln, was als stabiles Fundament für den langen Lebensweg zu dienen vermag. Wenn die frühen Erfahrungen von Unsicherheit und schmerzlichen Erfahrungen geprägt sind, verleiht dies dem weiteren Lebensweg eine Tönung von Unsicherheit (vgl. Rass 2011). Die Forschung kann zwar heute belegen, dass durch die Plastizität des Gehirns eine neuronale und eine psychobiologische Umgestaltung möglich ist, doch ist dieser reorganisierende Veränderungsprozess nicht einfach.

Der Zeitgeist drängt auf eine frühe Herausnahme des Kindes aus seiner primären Fürsorgeumgebung und auf eine frühe Selbständigkeit und Selbstorganisation des kleinen Menschen. Aber auch nach dem Überwechseln aus der Frühkind- und Vorschulzeit verbleibt das Kind während seines Lebens als Schüler in großer Stundenzahl unter der Obhut professioneller Erzieher, die stundenmäßig das Kind häufig mehr begleiten als die primäre familiäre Umgebung. Insofern wäre es von größter Bedeutung, dass die Erkenntnisse über die frühen Einflussfaktoren auf die kindliche Entwicklung an all jene herangetragen werden, die sowohl im privaten als auch im professionellen Bereich mit der Fürsorge des Heranwachsenden konfrontiert sind, was letztendlich einen seelischen Reifungsprozess des Erwachsenen als notwendig erscheinen lässt. 2000 sprachen Arnhardt, v. Carlsburg und Hoffmann vom Spannungsfeld zwischen berufsethischer Entscheidungsfreiheit und verpflichtenden Denk- und Handlungsstrukturen (s. S. 88 im vorliegenden Band), in welchem sich aus Comenius’ Perspektive der Lehrer/die Lehrerin bewegt. Dieser Herausforderung kann er/sie nur verantwortungsvoll begegnen, wenn die innere Struktur der Lehrperson einen Entwicklungsprozess hin zur umfassenden Menschlichkeit durchläuft.

Details

Seiten
141
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653048315
ISBN (ePUB)
9783653978308
ISBN (MOBI)
9783653978292
ISBN (Hardcover)
9783631656068
DOI
10.3726/978-3-653-04831-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Bindungsforschung Neurobiologie Psychoanalyse Frühkindliche Entwicklung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 141 S., 9 s/w Abb.

Biographische Angaben

Eva Rass (Band-Herausgeber:in)

Eva Rass, Prof. Dr. paed., arbeitet seit vielen Jahren als analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie lehrt an der Hochschule Mannheim, der Pädagogischen Hochschule Heidelberg sowie an der Ärztlichen Akademie für Kinder und Jugendliche in München. Sie ist Dozentin und Supervisorin an analytischen Ausbildungsinstituten.

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