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Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs

von Anna Hanus (Band-Herausgeber:in) Ruth Maloszek (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband 460 Seiten

Zusammenfassung

Galizien ist eine historische Landschaft zwischen Polen und der Ukraine, die stark von der österreichischen Teilungszeit geprägt ist. Obwohl sie als administratives Gebiet nur bis 1918 Bestand hatte, wirkt Galizien in vielfältiger Weise bis heute nach. Dieses Buch setzt sich mit unterschiedlichen Aspekten der Nachwirkung Galiziens in Sprache, Literatur und Gesellschaft auseinander. Die Beiträge untersuchen, wie der Begriff Galizien und was damit verbunden ist heute erinnert und instrumentalisiert werden und was das Galizische historisch ausgemacht hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einführung
  • Galizien als Ort ethnischer Nachbarschaften und kollektiver Identitätskonstruktionen – die kulturhistorische Sicht
  • Polen und Ruthenen im habsburgischen Galizien während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • Polnische Sozialisten im Abgeordnetenhaus des Reichsrats in Österreich-Ungarn 1897–1918
  • National and Transnational Implications of a Local Conflict: The Struggle for a Ukrainian University of L’viv (1900–1914)
  • Im galizisch-schlesischen und schlesisch-galizischen Dialog: die vereinigende Funktion der Textilindustrie in Schwesterstädten Bielitz und Biala
  • Von Galizien nach Südamerika: Wissensaustausch und Netzwerke entlang einer historischen Auswanderungsroute
  • Verflechtungsgeschichte von Dörfern in Osteuropa – das global vernetzte Dorf 1890–2010
  • Gedächtnisarchäologie und Tourismusförderung in den polnischen Karpaten
  • Grenzen und Perspektiven der Bildungs- und Informationspolitik zu der jüdischen Vergangenheit Galiziens
  • Ukraine: eine Reise ins memoriale Wunderland
  • Literarische Konstruktionen Galiziens – der literaturwissenschaftliche Blick
  • „Phänomen Stanislau“ als eine besondere kulturelle Erscheinung
  • Auf Spurensuche – Anna Strońskas „Tyle szczęścia dla szewców“
  • Die Galizische Geschichte: zur Reproduktion literarischer und historischer Narrative am Beispiel von Andrzej Stasiuks Prosa
  • Galizien: Trauma und Tabu in S. Janeschs „Katzenberge“
  • Geteilte Erinnerung. Galizien in Sabrina Janeschs „Katzenberge“ und Jenny Erpenbecks „Aller Tage Abend“
  • Galizien im Prisma der Sprache – sprachwissenschaftliche Aspekte
  • Zwischen Verachtung und Glorifizierung – die polnische Sprache in Galizien in der Zeitspanne 1772–1918
  • Galizien in polnischen Geschichtslehrbüchern – eine linguistische Analyse eines kollektivspezifischen Denkstils
  • Zur Relation von Diskurs, Stil, Gattung und Text
  • Pollacks Art zu schreiben? Zu Schwierigkeiten der Gattungsbestimmung in modernen Prosatexten am Beispiel Galizien von Martin Pollack
  • Die sprachliche Gestaltung von Widmungen in den Werken galizischer Schriftsteller
  • Galizische Kochkunsttraditionen gestern und heute – linguistisch-diachronische Untersuchung von Kochrezepten
  • Zu deutschsprachigen Texten in der polnischen Presse von Krakau (Kraków) um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts
  • Graphematische Analyse der ältesten Eintragungen im Schöffenbuch der galizischen deutschen Sprachinsel Markowa
  • Autorinnen und Autoren des Bandes

Galizien als Ort ethnischer Nachbarschaften und kollektiver Identitätskonstruktionen – die kulturhistorische Sicht

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Gerhard Besier / Katarzyna Stokłosa

Polen und Ruthenen im habsburgischen Galizien während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Abstract
Im habsburgischen Galizien der Revolutionszeit suchte die polnische Mehrheit den Selbständigkeitsbestrebungen der Ruthenen enge Grenzen zu setzen und ihre Vorherrschaft – auch gegenüber Wien – weiter auszubauen. Aufgrund der Uneinigkeit der Ethnien blieb es – von marginalen Veränderungen abgesehen – bei den vorrevolutionären Verhältnissen und der klaren Unterordnung unter die Wiener Zentralregierung.

Polacy i Rusini w Galicji habsburskiej w pierwszej połowie XIX w.
W rządzonej przez Habsburgów Galicji czasu rewolucji polska większość starała się ograniczyć dążenia niepodległościowe Rusinów i wzmocnić, a nawet poszerzyć swoją hegemonię także względem Wiednia. Jednakże z uwagi na konflikty pomiędzy poszczególnymi grupami etnicznymi układ sił z czasu przed rewolucją i silne podporządkowanie się zwierzchnictwu Wiednia – poza marginalnymi wyjątkami – nie uległy zmianie.

1.  Galizien – seine geographische Lage, Bevölkerung und Wirtschaft. Zum Stand der Forschung

Das habsburgische Kronland Galizien bestand von 1772 bis 1918 und bildete eine multiethnische und multikulturelle Landschaft (Trillenberg 2010: 26–30). Die offizielle österreichische Bezeichnung lautete „Königreich Galizien und Lodomerien“ (Magocsi 2002: 6). Bisher gibt es über Galizien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem hinsichtlich der Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten, kaum Untersuchungen. Während für polnische Galizien-Forscher das Sprachenproblem im Wege stand (man muss deutsche Quellen lesen), haben deutsche und österreichische Forscher bislang kaum Interesse an Galizien gezeigt. Darum wäre es eigentlich an der Zeit, die Geschichte Galiziens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – gerade hinsichtlich des multiethnischen Charakters dieser Region – neu zu bedenken. Ungeachtet dieser Einschränkung sind dennoch einige wichtige Arbeiten zu erwähnen. Zu den ← 19 | 20 → Pionieren der modernen Galizien-Forschung gehört der polnische Historiker Stanisław Grodziski mit seiner Studie „Historia ustroju społeczno politycznego Galicji 1772–1848“1 [Geschichte der gesellschaftlich-politischen Ordnung Galiziens 1772–1848]. Von den in den letzten Jahren erschienenen Publikationen ist vor allem eine weitere Arbeit desselben Autors erwähnenswert. Dabei handelt es sich um „Studia galicyjskie. Rozprawy i przyczynki do historii ustroju Galicji“2 [Galizische Studien. Abhandlungen und Beiträge zur Geschichte der Staatsform Galiziens] – ein Buch, in dem überwiegend das rechtliche und politische System Galiziens für die Zeit zwischen 1772 und 1873 untersucht wird. Besonders empfehlenswert für Galizien-Forscher ist die Studie von Larry Wolff „The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture“3, die die Idee Galiziens von der Entstehung im 18. Jahrhundert bis zur Wahrnehmung der Region im 21. Jahrhundert behandelt (Wolff 2010: 11).

Für die Habsburger Monarchie kann das „Königreich Galizien und Lodomerien“ in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Als die Region auf Grund der ersten Teilung Polens 1772 an Habsburg fiel, erhöhte sich die Einwohnerzahl der Monarchie um 2,65 Millionen auf 19 Millionen und die Fläche um 81.900 Quadratkilometer auf 595.700 Quadratkilometer. 199 Städte, 111 Kleinstädte und 5.568 Dörfer gelangten unter die habsburgische Herrschaft. Der größte Teil der Bevölkerung lebte in den ehemaligen ruthenischen Wojewodschaften der Adelsrepublik, die im Osten Galiziens gelegen waren (Ślusarek 2007: 69; Grodziski 1971: 27). Nach der dritten Teilung Polens 1795 kam es erneut zu einem Gebietszuwachs von 47.000 Quadratkilometern; schließlich wurde 1846 – nach der Niederschlagung des Krakauer Aufstandes – auch die Freie Stadt Krakau Galizien zugeschlagen. Die Bevölkerung Galiziens wuchs schneller als die in der übrigen Monarchie: 1807 betrug sie 3,6 Millionen, 1869 5,4 Millionen, 1880 knapp 6 Millionen und 1890 6,6 Millionen (Marschall von Bieberstein: 1993: 25). Nach den amtlichen Zahlen von 1910 siedelten in Galizien über acht Millionen Einwohner (Statistische Zentralkommission 1917: 7). Es war damit das bevölkerungsreichste und mit fast 80.000 Quadratkilometern auch das größte Kronland der westlichen Reichshälfte. Bewohnt war es zu annähernd gleichen Teilen von Polen und Ruthenen (Magocsi 1983: 92–115; Najdus 1958–1960). Trotz seiner großen Ausdehnung fasste Wien das Gebiet zu einer einzigen administrativen Provinz zusammen und stellte es in der ersten Oktoberwoche 1772 ← 20 | 21 → unter die Verwaltung eines Zivilgouverneurs (Brawer 1990: 10). Den wichtigsten Zweig der galizischen Wirtschaft bildete die Landwirtschaft. Allerdings stellte die Realerbteilung – also die Aufteilung der Höfe unter alle Nachkommen – ein erhebliches Problem dar. Diese Erbregelung führte zu einer Zersplitterung des Grundbesitzes und damit zu einer Vielzahl ineffektiver, unwirtschaftlicher Zwergwirtschaften. Damit war das ländliche Galizien ein Land der Gegensätze: Neben reichen Höfen lagen arme, manchmal stark übervölkerte Dörfer. Der daraus resultierende soziale Kontrast zwischen Arm und Reich gehörte zu den Charakteristika der gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Kronland. Es gab zwar nominell viele „Städte“, aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, handelte es sich dabei meist um kleine, arme Siedlungen, deren Einwohner überwiegend von der Landwirtschaft und vom Handwerk lebten. Eine Ausnahme bildete Lemberg, das zur Provinzhauptstadt erhoben wurde und aus diesem Grund eine wichtige politische und wirtschaftliche Stellung einnahm (Ther 2001).

2.  Soziale Konflikte und wirtschaftliche Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfte sich auf dem Lande zusehends der Klassenkonflikt zwischen Dorf und Hof (Grodziski 1971: 30, 50–51). Erst recht nach der „Bauernbefreiung“, die seit 1848 allmählich umgesetzt wurde, eskalierte die Konkurrenz zwischen dem „freien“, aber wenig leistungsfähigen Klein- und Kleinstbauerntum4 einerseits und den potenten Großgrundbesitzern andererseits; als ein Ergebnis dieses Konflikts ließ die Produktivität der galizischen Landwirtschaft ständig nach (Jobst 1996: 24). Insgesamt lässt sich konstatieren, dass während der Habsburger Ära das wirtschaftliche Potenzial Galiziens und dessen Bedeutung als Transitzone für den internationalen Handel ständig zurückgingen. Diese Entwicklung hing damit zusammen, dass Galizien durch den Anschluss an Österreich und die neuen Grenzziehungen aufhörte, Transitraum zu sein und stattdessen an die Peripherie des Reiches rückte. Damit wurde die Provinz, quasi „automatisch“, zu einer Problemregion. Der Handelsverkehr verlief nun in Richtung Reichshauptstadt Wien, über Krakau oder in Richtung Budapest (Magocsi 2002: 6–7). Galizien lag nun weitab von den Haupthandelswegen und Märkten, was zur Stagnation des ökonomischen Lebens dieser Region führte. Anders als in anderen Provinzen unternahm die Wiener Regierung ← 21 | 22 → aber nichts, um etwa das Manufakturwesen bzw. später die Industrie in Galizien zu fördern (Kozik 1986: 16; Magocsi 1983: 99).

3.  Herrschaftsausübung durch die Habsburger Monarchie und Anfänge der ruthenisch-ukrainischen Nationalbewegung

Ganz anders verlief die Integration auf administrativem Gebiet. Unmittelbar nach der Besetzung der Provinz begann Wien mit dem Aufbau einer eigenen Verwaltung, um das neugewonnene Kronland in das System des absolutistisch und zentralistisch regierten Habsburger Imperiums einzupassen. Durch das Patent vom 16. Oktober 1772 wurden die „antiqua officia“, die über Jahrhunderte hinweg entstandenen Ämter und Verwaltungseinrichtungen der polnischen Rzeczpospolita, aufgehoben. Dadurch schränkte man die Privilegien der Szlachta, der Adeligen, politisch und rechtlich stark ein. Der polnische Adel musste sich nun mit einer ständischen Verfassung begnügen, die fast keine Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse mehr zuließ und der polnischen Adelsmentalität widersprach (Grodziski 1971: 40–41). Die ruthenische Bevölkerung bestand mehrheitlich aus Bauern und bildete im östlichen Teil des Kronlandes die Mehrheit. Sie blieb – wie schon unter der polnischen Oberhoheit – für lange Zeit politisch unterrepräsentiert. An die Stelle des polnischen Adels trat nun der „Landeshauptmann“ genannte Gouverneur von Galizien, der die gesamte politische Macht vor Ort in seiner Person repräsentierte (Mark 1994: 4–6; Bömelburg 2000: 22–28).

Die Etablierung der habsburgischen Herrschaft in Galizien brachte der ruthenischen Bevölkerung zahlreiche Vorteile. Um die internen Strukturen des Habsburger Reiches zu stärken, bauten Maria Theresa und Joseph II. ein Netzwerk von Schulen auf und hoben den Status der griechisch-katholischen Kirche an. Diese wurde rechtlich und sozial auf eine Ebene mit der römisch-katholischen Kirche gestellt. Die mit der Aufwertung ihrer Kirche verbundenen Vorteile für die Ukrainer im Bereich der Bildung waren allerdings an eine Fortentwicklung der griechisch-katholischen Kirche und ihres Klerus gekoppelt. Um sicherzugehen, dass die griechisch-katholische Kirche ihre neue Funktion im Sinne des Staates ausüben werde, organisierte dieser Weiterbildungsmaßnahmen für die Priester und richtete theologische Seminare ein (Magocsi 1983: 101). Zunächst bediente sich die klerikale Intelligenz ruthenischer Herkunft mündlich und schriftlich der polnischen Sprache. In den 1820-er und 1830-er Jahren erwachte dann das Interesse für die eigene Sprache – so, wie sie in Volksmärchen, Liedern und in der bäuerlichen Sprache erhalten geblieben war. In den 1830-er und frühen 1840-er Jahren befand sich die ruthenische Nationalbewegung in Galizien ← 22 | 23 → noch in der so genannten „Gelehrtenphase“, um die Typologie von Miroslav Hroch zu gebrauchen. Das Interesse der recht kleinen Gruppe beschränkte sich auf Sprache, Literatur und Geschichte. Die klerikale Intelligenz mied konsequent politische und sozioökonomische Fragen – mit Ausnahme eines kleinen ruthenischen Kreises, der sich den polnischen politischen Zirkeln anschloss (Kozik 1986: XIV–XV). Anstelle der Selbstbezeichnung „Ruthenen“ (Russinen, Kleinrussen) setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts das Wort „Ukrainer“ als Ethnonym durch; ursprünglich bezeichnete der Begriff die „Grenzler“ zur kaum bewohnten südlichen Steppe. Im Zuge des romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts entwickelten ukrainische Intellektuelle auf der Grundlage westukrainischer Dialekte eine standardisierte Literatursprache, die sich deutlich vom Russischen unterscheidet.

4.  Galizien – ein ethnischer Flickenteppich mit Hierarchien

Mit den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts entstand für die Habsburger Monarchie das so genannte „österreichische Staatsproblem“, womit der Kampf der einzelnen Ethnien gegeneinander sowie der einzelner Nationalitäten gegen den Staat gemeint war (Maner 2007: 10–11; Redlich 1920–1926; Stourzh 1989; Hotowetz 1915). Polen und Ruthenen bildeten mit Abstand die größten in Galizien ansässigen Bevölkerungsgruppen – vor Juden, Deutschen, Armeniern, Sinti und Roma, Russen, Magyaren, Philipponen (Lippowanern), Rumänen, Tschechen, Slowaken und Karaimen (Szuisti 2011: 5–31). Obwohl die Ruthenen eine höhere Geburtenrate und keine höhere Sterberate als die Polen aufwiesen und überwiegend Polen, aber nur wenige Ruthenen emigrierten, stellten seit 1880 die polnischsprachigen Einwohner, nach dem Kriterium der Umgangssprache, die Mehrheit der galizischen Bevölkerung – eine Ungereimtheit, die sich womöglich durch den Polonisierungsprozess aufstiegswilliger Teile der ruthenischen und/oder der jüdischen Bevölkerung erklären lässt (Marschall von Bieberstein 1993: 26–28).5 Vor diesem Hintergrund konnte sich schon seit den 1860er Jahren die polnische Sprache als Landessprache durchsetzen. In der nach wie vor starke ständische Züge tragenden Sozialordnung des Habsburger Reiches waren die ← 23 | 24 → Polen – genauer ihr Adel und das zahlenmäßig kleine Großbürgertum – in der gesellschaftlichen Hierarchie höher gestellt als die Ukrainer, was zur Folge hatte, dass Wien den Polen mehr Rechte einräumte als den Ukrainern. Dass man das Polnische in Galizien zur Landessprache erhob und damit das Deutsche in den Hintergrund treten ließ, galt auch als Zeichen der Föderalisierungs-Bemühungen des Habsburger Reiches in den 1860er Jahren (Grodziski 1996: 121). Die demographischen Daten im Blick auf die Religionszugehörigkeit machen jedoch deutlich, dass seit Beginn der 1840er Jahre die Unierten, also die Ruthenen, die relative Mehrheit der galizischen Bevölkerung ausmachten (Mark 1994: 65). Die deutsche Sprache wurde zwar aus den Schulen, Gerichten und Ämtern entfernt, sie verlor jedoch nicht ihren Charakter als „Staatssprache“ (Grodziski 1996: 122). Überdies wurde Galizien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in hohem Maße von Deutschen verwaltet. Polen waren auf den höheren administrativen Ebenen kaum zu finden – auch, weil sie über keinerlei Verwaltungserfahrungen, bezogen auf das administrative Recht im Habsburger Reich, verfügten. Erst weiter unten in der Hierarchie, dort, wo man auf autochthone Sprach- und Landeskenntnisse angewiesen war, bezog man auch polnischstämmige Galizier mit ein (Marschall von Bieberstein 1996: 152).

Eine genauere Analyse der Bevölkerungsentwicklung ist aufgrund der eingeschränkten Datenüberlieferung allerdings nur begrenzt möglich. Außerdem war das unübersichtliche Spektrum der im Kronland Galizien beheimateten Völker und Nationalitäten statistisch nur schwer zu erfassen. Die offiziellen Statistiken führten keine Rubrik „Nationalität“, sondern unterschieden lediglich zwischen der Religionszugehörigkeit – Katholiken, Unierte, Griechen (=Orthodoxe), Evangelisch/Reformierte und Juden (Häusler 1979).

5.  Eine Vielfalt hierarchisierter Religionsgemeinschaften

Die Vielfalt der Kirchen und Konfessionsgemeinschaften stellte ein wichtiges Charakteristikum Galiziens dar. Die Folge war sowohl Toleranz, weil man voneinander lernte und miteinander auskommen musste, als auch Intoleranz – wegen des herrschenden Konkurrenzverhältnisses. Die Mitglieder der verschiedenen Kirchen sprachen unterschiedliche Sprachen. Während in der evangelischen Kirche die Pfarrer auf Deutsch predigten, wurden die deutschsprachigen Gläubigen der katholischen Kirche durch polnische Seelsorger betreut. Daher wurden die katholischen Deutschen von einem Teil der deutschen evangelischen Landbevölkerung für Polen gehalten. Aufgrund dieser Konstellation standen sich deutsche Katholiken und deutsche Protestanten jahrzehntelang als Menschen gegenüber, die zwar dieselbe Sprache sprachen, wegen ihrer ← 24 | 25 → unterschiedlichen Religionszugehörigkeit aber in zwei verschiedenen Welten lebten. Der griechisch-katholische Glaube wurde als ukrainisch angesehen (Trillenberg 2010: 29–30). Römische Katholiken lebten in enger Nachbarschaft mit griechisch-unierten und orthodoxen Christen, mit Juden und Protestanten unterschiedlichen Bekenntnisses sowie mit Angehörigen der unierten armenischen Kirche. Es gab beträchtliche Spannungen zwischen den griechisch-katholischen und den römisch-katholischen Gläubigen (Magocsi 1983: 22, 28). In den meisten Fällen stand das Glaubensbekenntnis auch für die nationale Zugehörigkeit und die gesellschaftliche Position des Bekennenden. Meist hingen die Polen dem römisch-katholischen, die Ukrainer dem griechisch-katholischen und die Deutschen dem protestantischen Glauben an (Kozik 1986: 17). Im Alltag wurde die Hierarchie der Religionen, an deren Spitze die römisch-katholische Kirche stand, weitgehend akzeptiert. Seit Anfang der 1780er Jahre hatten sich in Galizien auch evangelische Christen deutscher Herkunft in größerer Zahl niedergelassen. Während die Mittel- und Oberschicht meist der römisch-katholischen Kirche angehörte, stammten die Gläubigen der griechisch-katholischen Kirche fast ausschließlich aus der bäuerlich-ruthenischen Bevölkerung. Die griechisch-katholische Kirche war die typische „Kleine-Leute-Religion“; obwohl die ihr angehörende Bevölkerungsgruppe die Mehrheit stellte, leistete sie nur einen geringen Teil des Steueraufkommens der Region (Klieber 2010: 77–80). Aber die Zugehörigkeit zur griechisch-katholischen Kirche ermöglichte es den griechisch-katholischen Ruthenen, deren nationales Bewusstsein noch kaum entwickelt war, sich auch über die religiös-rituellen Differenzen deutlich von den römisch-katholischen Polen abzugrenzen. Die Zugehörigkeit zur Orthodoxie hatte im Alltagsleben des durchschnittlichen Galiziers eine viel größere Bedeutung als die dogmatischen Postulate polnischer politischer und kirchlicher Führungskräfte, wonach der griechisch-katholische wie der römisch-katholische Bevölkerungsteil zu einer gemeinsamen Konfessionsfamilie gehörte (Turij 2007: 199–200; Himka 1984; Korczok 1921). Zwischen der bäuerlich-ruthenischen Bevölkerung und den polnischen Gutsbesitzern gab es beträchtliche sprachlich-kulturelle und soziale Gegensätze (Grodziski 1971: 29). Die ständigen Versuche polnischer Kreise, ihren römisch-katholischen Einfluss in der unierten Kirche auszuüben, motivierten den griechisch-katholischen Klerus zusätzlich, nach 1848 eine Trägerrolle in der ruthenischen Nationalbewegung zu übernehmen. Bischöfe und Priester unterstützten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Volksbildung über die ruthenische Sprache. Geistliche schrieben für Bauern, richteten Lesehallen und Kooperative ein, unterrichteten Agronomie und gründeten Druckereien (Vulpius 2001: 242). Die Religionszugehörigkeit ← 25 | 26 → wurde allseits instrumentalisiert. Je nach politischer Situation hoben die führenden galizischen Ruthenen das Gemeinsame von Konfession und Nation hervor oder sie markierten den Unterschied von Glaubenszugehörigkeit und Ethnie. Die Geistlichen wie die Gläubigen der griechisch-katholischen Kirche betonten, je nach Lage, ihre „orthodoxe Herkunft“ oder, mit nicht geringerer Überzeugung, ihre „katholische Zugehörigkeit“ (Turij 2007: 210). Antisemitische Ausschreitungen begannen in Galizien erst 1879 – nach dem Erscheinen des judenfeindlichen Buches „Die Juden“, verfasst von dem Lemberger Journalisten Landtags- und Reichsratsabgeordneten polnischer Abstammung, Teofil Merunowicz (Buchen 2012: 100).

6.  Gegen-, Mit- oder Nebeneinander? Die politisch-kulturellen Vorstellungen von Polen und Ruthenen im Galizien der Revolutionszeit

Wie gestaltete sich das Zusammenleben der beiden größten Bevölkerungsgruppen in Galizien – das der Polen und Ruthenen? Lebten sie nur neben- oder auch miteinander? Im Folgenden werden Beispiele aus dem Kulturleben der Ruthenen und Polen dargestellt, um aufzuzeigen, in welcher Weise es zu einem Austausch zwischen beiden Kulturen kam. Das Bestreben der polnischen nationalen und kulturellen Eliten bestand in vielen Fällen darin, die ruthenische Bevölkerung Galiziens dahin zu beeinflussen, dass sie sich an einem polnisch-ruthenischen Aufstand gegen Österreich beteiligen sollte. Die Polen suchten also nach der Unterstützung durch die Ruthenen – auch weil sie das Gefühl hatten, von den österreichischen Staatsbehörden wie Unterworfene behandelt zu werden (Grodziski 1996: 114).

Um die Entwicklung im Galizien des 19. Jahrhunderts zu verstehen, muss man sich den gemeineuropäischen kulturellen Kontext vor Augen halten – den Vormärz, die Romantik und die Ereignisse von 1848. Von 1830 an begannen überall in Europa (zu erinnern ist an die revolutionären Ereignisse in Paris, den polnischen Novemberaufstand und die Große Emigration) radikale Demokraten gegen das System der Heiligen Allianz – das Bündnis der konservativen Monarchien und das reaktionäre System Metternichs – aufzubegehren. Die Romantik bot den Demokraten das intellektuelle Rüstzeug für ihren Widerstand. Die deutschen und polnischen (Karol Libelt, Ludwik Mierosławski) Demokraten unterschieden sich nicht allzu sehr von ihren französischen Gesinnungsgenossen (Becker 1999, 147–180; 253–293; Lambrecht 2006). Der von diesen Kreisen getragene „emanzipatorische Nationalismus“ betrachtete die Völker als gleichberechtigt und strebte nach einer Emanzipation der Bevölkerung von der konservativen Herrschaft der Monarchen (Alter 1997: 63–69). ← 26 | 27 →

Eine bedeutende Rolle für die Entwicklung des ukrainischen Nationalbewusstseins spielte die romantische ukrainische Dichtung, vor allem das Schaffen von Taras Schevtschenko (1814–1861), dessen Überzeugungen in vielen Punkten mit denen der west-, mittel- und ostmitteleuropäischen Demokraten übereinstimmten (Alwart 2012). Als radikaler Demokrat und Bauernsohn, der die Sorgen und Bedürfnisse seines Volkes kannte, propagierte Schevtschenko die Idee einer Völkergemeinschaft von Ukrainern, Russen und Polen im Kampf gegen die nationale und soziale Unfreiheit dieser Völker. Die zahlreichen Freundschaften und Bekanntschaften Schevtschenkos mit polnischen Gesinnungsgenossen kamen in vielen seiner Gedichte zur Sprache (Diakow 1946). In jenen, die sich mit Polen beschäftigen, springen zwei Attitüden ins Auge: Zum einen idealisiert Schevtschenko den ukrainischen Widerstand gegen die polnische Herrschaft in den Kresy (den östlichen Grenzgebieten der polnischen Adelsrepublik). Dabei trat er ganz im radikaldemokratischen Sinne gegen die Adelsherrschaft auf. Andererseits schrieb der Dichter sentimentale Verse über die polnischen Könige Stefan Batory, Jan Sobieski und Stanisław August, in denen er auch seine eigenen Herren sah. Im Unterschied dazu zeigte er eine deutliche Abneigung gegen Russland. So prangert er die Rücksichtslosigkeit und Verlogenheit der zaristischen Regierung an, die gegenüber den Geknechteten Gewalt anwandte. Vor diesem Hintergrund sprach der Dichter vom gemeinsamen Schicksal der Polen und Ukrainer als den beiden unterdrückten Ethnien – auch in dieser Kategorisierung finden wir einen Ausdruck des demokratischen Denkens seiner Zeit. In seinem Gedicht „Lachom“ („Den Polen“) schrieb Taras Schevtschenko nicht nur von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Existenz, sondern auch von einer polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit. Im Vorwort zum Gedicht „Hajdamaky“ heißt es:

Das Herz schmerzt, man muss es trotzdem erzählen: sie sollen sich mit ihren Feinden wieder versöhnen, das Land, bedeckt mit Roggen und Weizen wie mit Gold und nicht von Feldrain geschnitten, sollte von Meer zu Meer slawisch bleiben.

Schevtschenko stellte sich eine Gemeinschaft der slawischen Länder ohne die Dominanz Russlands vor.

Dieses Sentiment gegenüber den slawischen Nachbarvölkern beruhte auf Gegenseitigkeit und gehörte zur Bewegung des Panslawismus in dieser Zeit (Magocsi 1983: 112–115). Der Panslawismus verstand sich um die Jahrhundertmitte als Ausdruck einer radikaldemokratischen Völkerfreundschaft – eines Bündnisses der Unterdrückten gegen die imperialen Monarchien. Später – nach dem Scheitern der Revolution – wurde aus dieser Bewegung ein Werkzeug des russischen Imperialismus in Ostmitteleuropa – in der Hand des Zarenreiches (Anonymous 1847). ← 27 | 28 →

Auch in polnischen literarischen Zirkeln war das Interesse für die Geschichte und Kultur der Ukraine durchaus präsent. Eine ganze Reihe polnischer Schriftsteller sorgte für die Verbreitung der ukrainischen Kultur unter den Polen. Zu den bekanntesten gehören Seweryn Goszczyński, Bohdan Zaleski, Żegota Pauli, August Bielowski, Michał Grabowski, Antoni Malczewski und Michał Czajkowski. Dieser Personenkreis gehörte zur sogenannten ukrainischen Schule, die eine wichtige Rolle in der Geschichte der polnischen Romantik spielte. Der Kulturtransfer war in ihren Arbeiten allgegenwärtig. Die Faszination für die idyllischen ukrainischen Landschaften, die ukrainischen Menschen und die nach ihrer Imagination „wilden Kosaken“ war beträchtlich (Kozik 1986: 30). Juliusz Słowacki porträtierte in seinen Werken „Beniowski“ und „Sen Srebrny Salomei“ (Der silberne Traum Salomeas) sein Bild des ukrainischen „Wesens“. Eine spezifische Vision der Ukraine finden wir auch im Schaffen Adam Mickiewiczs, der einen erheblichen Einfluss auf ukrainische Schriftsteller der Romantik, vor allem auf Taras Schevtschenko, ausgeübt hat. Mickiewicz sammelte und verbreitete Informationen über das Leben des ukrainischen Volkes sowie über sein poetisches Erbe, seine Märchen und Legenden. Der Sohn des Poeten, Władysław, erinnert sich:

Als man ihm in Paris die Sammlungen mit Liedern und Märchen aus Krakau, Litauen, Russland und Galizien brachte, sagte er zu seinem Freund: Merkwürdig, all diese Lieder, von wenigen Ausnahmen abgesehen, hatte ich als Kind gehört und gelernt. (Łepki 1930: 29)

Während seines Aufenthalts in Odessa traf sich Mickiewicz oft mit Polen, die in der Ukraine lebten und ihn aus den verschiedensten Anlässen aufsuchten. Seit 1819 gab es an der Universität in Charkov einen Lehrstuhl für Polonistik, dessen Inhaber, Petro Hulak-Artemowski, seit 1825 mit Mickiewicz freundschaftliche Beziehungen unterhielt. In den an der Universität Charkov herausgegebenen Zeitschriften „Ukrainskij Wisnyk“, „Charkovskij Diemokrit“ und „Ukrainskij Žurnal“ erschienen Artikel über polnische Kultur und Literatur. Bohdan Zaleski und Maurycy Gosławski repräsentierten die polnisch-ukrainische Dichtung. Ihre Gedichte wurden von ukrainischen Studenten an den Universitäten in Wien, Krakau und Lemberg gelesen (Verves 1972: 33–34). Das Interesse an der Ethnographie und Folklore der Ukrainer kam in zahlreichen Büchern zum Ausdruck, so z. B. in „Rys Ukrainy Zachodniej“ (Das Bild der Westukraine), herausgegeben von Pfarrer Giżycki, Warszawa 1810; in „Podróże po krajach słowiańskich“ (Reisen durch die slawischen Länder) von Fürst Aleksander Sapieha aus dem Jahr 1811 oder in „Okolica zadniestrska między Stryjem a Łomnicą“ (Die Gegend jenseits des Dniestr zwischen Stryj und Łomnica) von Ignacy Czerwiński ← 28 | 29 → aus dem Jahr 1811 (Zdziarski 1901: 4–5). Der Dichter Juliusz Słowacki stellte in seinen Werken, vor allem im Gedicht „Beniowski“, den Freiheitsdrang der Ukrainer dar (Kleiner 1969: 231).

1833 veröffentlichte Wacław Zaleski, der Gouverneur von Galizien, eine Kollektion polnischer und ruthenischer Lieder über Menschen in Galizien (Wolff 2010: 117–118). „Beide, der Pole und der Ruthene, wie alle Slawen generell, singen, singen immer vom Herzen.“ (Wacław z Oleska 1833: XXXII) – schrieb Zaleski.

Von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung der ukrainischen Kultur wie für die Kontakte der Ukrainer mit den Polen waren die Anfang der sechziger Jahre entstandenen studentischen Organisationen der Hromady. Sie propagierten als zukünftige Staatsform eine Föderation unter Berücksichtigung einer breiten Autonomie der Ukraine. Die Belebung der ukrainischen nationalen Bewegung wurde in zahlreichen Schriften propagiert. Eine wichtige Rolle spielte hier Professor Mykola Kostomarov, der 1861 in der St. Petersburger Zeitschrift „Osnowa“ einen Artikel veröffentlichte, wonach es sich bei Ukrainern und Großrussen um zwei getrennte Völker handeln sollte (Kozak 1990).

Je nach Region war die gesellschaftliche Stellung der Polen und Ukrainer in Galizien unterschiedlich. In Westgalizien überwogen die Polen. Auch größere und kleinere Städte in Ostgalizien waren bis zu 2/3 von polnischen und jüdischen Bevölkerungsteilen bewohnt; die Adels- und Magnaten-Höfe befanden sich meist in polnischem Besitz. Die Polen nahmen in der Industrie und in der Verwaltung eine dominante Rolle ein, die Juden im Handelsnetz. Den größten Teil der Landbevölkerung, vor allem im östlichen Teil Galiziens, bildeten dagegen die Ruthenen (Grünberg/Sprengel 2005: 180). Ausgerechnet in diesen Kreisen begann der Prozess des Erwachens eines modernen Nationalbewusstseins. Für die Entstehung nationaler Schriften und der Literatursprache spielten junge Intellektuelle, vor allem die griechisch-katholischen Geistlichen, eine besondere Rolle. Sie fühlten sich oft von den Polen, überwiegend den polnischen Adligen diskriminiert, die gegenüber den einfachen Leuten ihre Verachtung offen zeigten. Zwar gab es auch unter den Adligen solche, die mit den Bauern Ukrainisch sprachen; aber sie hielten die Ruthenen nur für einen Teil innerhalb einer größeren polnischen Nation („gente Ruthenus – natione Polonus“). Man kann durchaus sagen, dass das Auftreten der Polen gegenüber den Ruthenen ausgesprochen paternalistische Züge trug (Kozik 1986: 29). Die Anerkennung der polnischen Sprache als Amtssprache sowohl in West- als auch in Ostgalizien, wo auf dem Lande Ruthenen überwogen, führte zu einer Vertiefung der nationalen Gegensätze. Außerdem bediente man sich bei der Post und der Bahn, ← 29 | 30 → in der Staatsanwaltschaft, der Gendarmerie, der Armee, in den Finanzämtern, staatlichen Fabriken und vor allem in der gesamten Korrespondenz mit der Zentralregierung der deutschen Sprache. Die ukrainische Sprache fand lediglich in der lokalen Selbstverwaltung Verwendung (Grünberg/Sprengel 2005: 175).

Nach 1848 schufen sich die galizischen Ruthenen, ähnlich wie andere slawische Völker, ihre eigene Literatursprache. Eine ruthenische Nationalbewegung hatte sich zu diesem Zeitpunkt politisch noch nicht herauskristallisiert. Die meisten Ruthenen hielten ihre Sprache und Nationalität für eine regionale Abspaltung von der großen russischen Nation, während sich eine kleinere Gruppe für einen Teil der polnischen Nation hielt und sich gente Rutheni, natione Poloni nannte. Ein weiterer Teil der Ruthenen verstand sich bereits als ein eigenes Volk mit eigener Nationalsprache und selbständigen historischen Traditionen.

1848/49 fanden in ganz Europa – sowohl im Osten als auch im Westen – Revolutionen statt, die zur Entstehung von „Nationen“ führten. Den Beginn bildete der „Völkerfrühling“ – eine Wendung, die in vielen Ländern zu einem Hoffnungswort wurde. Eine neue Brüderlichkeit der Völker sollte die egoistische Diplomatie der alten Mächte ablösen. Man glaubte, an der Schwelle eines neuen Zeitalters zu stehen, geprägt durch demokratische, selbständige Staaten, die gleichzeitig offen für die Nachbarn sein und miteinander kooperieren sollten. Viele Menschen hatten zu dieser Zeit das Bild eines friedlichen Europa gleichberechtigter Nationen vor Augen. Noch konnten sie nicht wissen, dass die Zukunft einem Europa der Nationalstaaten gehören sollte. Zunächst richteten sich die Revolutionen gegen die alten Eliten, vor allem gegen den Adel. 1848 bildete die Forderung nach einem Nationalstaat den Kern aller revolutionären Programme in Europa. Der revolutionäre Aufbruch verband den Kontinent zu einem großräumigen Kommunikationsraum (Langewiesche 1998 u. 2000). Diese Stimmung konnte man auch in Galizien erleben. Auch dort kam es – vor dem Hintergrund der europäischen Revolutionen – zur politischen Mobilisierung der Bevölkerung.

Im April 1848 richteten die Ukrainer eine Petition an den Monarchen der Habsburger Monarchie, in der sie ihn um den Schutz vor Diskriminierung seitens der Polen baten. Am 2. Mai 1848 wurde der Ruthenische Hauptrat (Holovna Rus’ka Rada) mit Bischof Hrihorij Jachymovyč an der Spitze gegründet, der ein Gegengewicht zum polnischen Nationalrat bilden sollte. Die in der Region entstandenen ruthenischen Räte sprachen sich für die Teilung Galiziens in einen ruthenischen und einen polnischen Teil aus. Die ruthenische Initiative trug einen durchaus pro-habsburgischen Charakter, was mit den unierten Geistlichen zu tun hatte. In Wien stand man sowohl den polnischen Bestrebungen als auch ← 30 | 31 → der Emanzipation des ruthenischen Volkes ablehnend gegenüber (Grünberg/Sprengel 2005: 163). Der Ruthenische Hauptrat bestand aus 66 Personen – 20 Staatsbeamten und einem privaten Verwalter, 19 Geistlichen, 10 Theologie- und 4 Jurastudenten, 5 Immobilienbesitzern aus Lemberg, einem Gutsbesitzer, 3 Lehrern und 2 Literaten (Kozik 1973: 36). Die Bauern respektierten den Hauptrat als einen Vermittler zwischen ihnen und der habsburgischen Regierung. Die Postulate des Ruthenischen Hauptrates bezogen sich auf die Einführung der ruthenischen Sprache in den Schulen, die Zulassung der Ruthenen zu staatlichen Ämtern und die Angleichung der Rechte der unierten an die der römisch-katholischen Geistlichen. Das Presseorgan des Ruthenischen Hauptrates war die seit dem 15. Mai 1848 erscheinende „Zorja Halycka“. Einen Monat später wurde die Bildungsgesellschaft Matica Halycko-Ruska gebildet, die gleichzeitig als Organisator des ersten Bildungskongresses fungierte. In der Ende Mai 1848 erschienenen Proklamation des Ruthenischen Hauptrates heißt es:

Wir, die galizischen Ruthenen, gehören zum großen ruthenischen Volk, das eine eigene Sprache spricht, 15 Millionen zählt, wovon die halbe drittel Million das galizische Land bewohnt. Dieses Volk war irgendwann selbständig, glich im Ruhm den reichsten Völkern Europas, hatte eine eigene Sprache, eigene Gesetze, eigene Fürsten. Mit einem Wort, es besaß eine gute Existenz, war wohlhabend und stark. Gehen wir mit anderen Völkern liebevoll und friedlich um! Seien wir das, was wir können und sollen! Seien wir ein Volk!

Der Appell rief zur Treue gegenüber Kaiser Ferdinand I. auf und sprach die Überzeugung aus, dass „unter dem Schutz Österreichs unsere Rechte und unsere Nationalität stark werden können“. Man appellierte an die Ruthenen, ihre Nationalität zu verteidigen und gleichzeitig keinen Hass auf die Polen aufkommen zu lassen, sondern mit ihnen „wie wahre Nachbarn in einem Land im Frieden und in Einheit zu leben“ (Kozik 1973: 37). Auch in diesem Appell kommt wieder der Gedanke des Vormärz von der Völkerfreundschaft zum Ausdruck.

Gegen den Ruthenischen Hauptrat opponierte das im Mai 1848 unter dem Einfluss des polnischen Nationalrates in Lemberg gegründete polonophile Ruthenische Konzil. Ihm gehörten Mitglieder der demokratisch eingestellten ruthenischen Intelligenz und Großgrundbesitzer an, die aus polonisierten ruthenischen Familien stammten – wie z. B. Leon Sapieha, Aleksander, Julian und Włodzimierz Dzieduszycki, Jabłonowscy und Anton Golejewski. Sie sprachen sich für eine nationale Solidarität Galiziens und gegen die Unabhängigkeit der Ruthenen aus (Grünberg/Sprengel 2005: 164).

Am 9. Mai 1848 legte Gouverneur Stadion, eine Schlüsselfigur bei den Ereignissen vom April/Mai 1848, die Haltung des Kaisers und der habsburgischen Regierung zu den ukrainischen Forderungen dar. Stadion versuchte, die Ukrainer ← 31 | 32 → gegen die Polen, die gerade eine Revolution angezettelt hatten, zu mobilisieren. Er verkündete die „Bauernbefreiung“ und kam damit den polnischen Revolutionären zuvor. So erhielten die Bauern ihre Freiheit von der Wiener Regierung und nicht von den polnischen Aufständischen. Man beschloss ferner, dass in jenen Bezirken, in denen die ukrainische Bevölkerung überwog, in den Schulen auf Ukrainisch unterrichtet werden sollte. Außerdem sollte an der Universität Lemberg ein Lehrstuhl für die ukrainische Sprache eingerichtet werden, um jungen Ukrainern die Chance zu geben, in ihrer Muttersprache zu studieren. In den Kirchen und Behörden sollte sich die ukrainische Bevölkerung ebenfalls ihrer Sprache bedienen können (Serczyk 2001: 54–55).

In der revolutionären Atmosphäre sah es für den Augenblick ganz so aus, als wolle die föderative Monarchie angesichts der eingetretenen Situation den slawischen Völkern optimale Bedingungen für die Aufrechterhaltung der eigenen Identität sichern. Im Juni 1848 tagte in Prag der Slawische Kongress, in dessen Verlauf man versuchte, die in der Habsburger Monarchie lebenden, untereinander zerstrittenen Eliten, wieder miteinander zu versöhnen. An diesem Kongress nahm auch eine große polnische Delegation teil – darunter Politiker aus dem Großfürstentum Posen, z. B. Karol Libelt, Jędrzej Moraczewski, Ryszard Berwiński, vor allem jedoch Polen und Ukrainer aus Galizien. Die Kongressteilnehmer tagten in drei Sektionen, eine von ihnen war die polnisch-ruthenische. Die ukrainischen Delegierten schlossen die Möglichkeit eines polnisch-ukrainischen Staates aus und forderten die Teilung Galiziens. Die Polen erklärten sich mit der Gleichberechtigung der ukrainischen Nationalität einverstanden, diese sollte jedoch innerhalb der polnischen Nation und eines polnischen Staates verbleiben (Kozik 1986: 215–236). Manche Polen vertraten eine radikalere Position und behaupteten gar, die Ukrainer seien gar keine Nation, weil es innerhalb einer Nation keine Nation geben könne. Der polnische Philosoph Karol Libelt, der die polnisch-russinische Sektion im Rahmen des Slawischen Kongresses leitete, versuchte einen Kompromiss zu finden, indem er die Auffassung vertrat, dass das zukünftige Polen eine Föderation bilden werde, die alle anderen Völker und Nationalitäten respektieren werde. Nach Libelt war die polnische Frage gleichzeitig eine ukrainische Angelegenheit. Aus diesem Grund müssten sich die Ukrainer entscheiden, ob sie auf der Seite der Polen oder der des russischen Zaren stehen wollten (Serczyk: 2001: 71–72). Auch hier ist der Einfluss des „emanzipatorischen Nationalismus“ der Romantik spürbar (Alter 1997: 64–65).

Am 7. Juni 1848 wurde zwischen Polen und Ukrainern ein Kompromiss geschlossen. Das Verlangen der galizischen Ruthenen, in den Ämtern und Schulen das Ukrainische als gleichberechtigte Sprache einzuführen, wurde akzeptiert. ← 32 | 33 → Nationale Minderheiten erhielten damit das Recht, eigene Schulen zu gründen. Die Kinder sollten ermutigt werden, die Sprache der jeweils anderen Nationalität zu erlernen. Als gemeinsame Einrichtungen sollten eine Nationale Garde, eine zentrale Regierung und ein Parlament gegründet werden. Außerdem wurden die Gleichberechtigung religiöser Handlungen und die der Befugnisse der Geistlichen beschlossen sowie eine Garantie nationaler und politischer Rechte in der zukünftigen Verfassung. Die Anerkennung der Notwendigkeit und des Zeitpunktes der Teilung Galiziens in zwei getrennte administrative Kreise sollte eine Angelegenheit des für die Gesetzgebung zuständigen Sejms sein (Serczyk 2001: 73). Doch dieses Abkommen wurde weder vom Ruthenischen Hauptrat noch vom Zentralen Nationalrat anerkannt (Kalembka 1991: 205). Die Kompromisslösungen erwiesen sich in der Praxis als schwer umsetzbar. Überdies führten die Interessensunterschiede zwischen Polen und Ruthenen hinsichtlich des nationalen Status Galiziens und der Befreiungspläne dazu, dass die verschiedenen Gruppen ihre Bemühungen um eine Einigung wechselseitig zunichtemachten. Eine erhebliche Barriere für die Aufrechterhaltung einvernehmlicher polnisch-ukrainischer Beziehungen bildeten darüber hinaus die komplizierten Eigentumsfragen. Die ukrainischen Bauern verlangten die Abschaffung des Frondienstes6 und der Naturalabgaben, die oft willkürlich festgelegt und durch Wien/Lemberg nur oberflächlich geregelt worden waren. Außerdem sprachen sich die Bauern gegen eine Entschädigung der Adligen als Kompensation für die Abschaffung der Leibeigenschaft aus. Zwischen der polnischen und der ukrainischen Kirche brachen auch regelmäßig Konflikte aus, wenn es um Fragen des gleichberechtigten Status‘ beider Religionsgemeinschaften ging. Darüber hinaus kam es im Parlament immer wieder zu Konfrontationen zwischen Polen und Ruthenen. In Galizien erhielten die Ruthenen ein Viertel der insgesamt hundert Mandate. Die Landbevölkerung zeigte sich überdies enttäuscht darüber, dass ihre Leute mit der Regierung und den griechisch-katholischen Geistlichen zusammengearbeitet hatten (Grünberg/Sprengel 2005: 166).

Ergebnis

Das Verhältnis zwischen Polen, Ruthenen und der Habsburger Monarchie war von gegenseitiger Konkurrenz und mannigfaltigen Spannungen geprägt. Die galizischen Polen strebten nach einem Kompromiss mit der Monarchie – auf Kosten der Solidarität mit den anderen slawischen Völkern. Doch nachdem ← 33 | 34 → sich die nationalen Bewegungen formiert hatten und einander widersprechende politische Forderungen stellten, sollte sich diese Strategie als Illusion erweisen. Ein Teil der galizischen Politiker sprach sich für die Umwandlung Galiziens in einen autonomen Teil des habsburgischen Imperiums aus. Die Verselbständigung Galiziens wollte man durch die Beschränkung der zentralistischen Herrschaft Wiens und die Erweiterung autonomer Freiheiten für die Polen erreichen – bei gleichzeitiger Einschränkung ukrainischer Forderungen hinsichtlich öffentlicher Rechte, der Sprache und der Bildung. Die Treue und Unterstützung der Habsburgischen Monarchie durch die Polen hatte in hohem Maße mit den Ängsten vor Russland zu tun. Die polnischen Einwohner waren der Überzeugung, die Habsburger Monarchie könne einen wirksamen Schutz gegen die Expansion Russlands bieten, während etwaige diplomatische oder gar militärische Niederlagen der Habsburger Monarchie die Position Russlands noch gestärkt hätten. Eine Föderation und damit die Gleichberechtigung anderer Völker hätten nach Überzeugung Wiens zur Stärkung slawischer Einflüsse geführt. Viele Slawen aber betrachteten Russland als ihre Schutzmacht und Patronin. Aus diesem Grund setzten die führenden Kreise der Habsburger Monarchie – statt der Idee einer Föderation, die zur Gleichberechtigung der Völker hätte führen sollen – den österreichisch-ungarischen Pseudoföderalismus durch, der in Wirklichkeit eine milde Herrschaftsform über andere Völker bedeutete (Grünberg/Sprengel 2005: 169).

Literatur

Alter, Peter (1997): Nationalismus. Frankfurt a. Main.

Alwart, Jenny (2012): Mit Taras Ševčenko Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991. Köln.

Details

Seiten
460
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049152
ISBN (ePUB)
9783653974201
ISBN (MOBI)
9783653974195
ISBN (Hardcover)
9783631656419
DOI
10.3726/978-3-653-04915-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Migration Habsburgerreich Ruthenien Kulturwissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 460 S., 13 s/w Abb.

Biographische Angaben

Anna Hanus (Band-Herausgeber:in) Ruth Maloszek (Band-Herausgeber:in)

Anna Hanus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rzeszów (Polen). Ihre Forschungsgebiete umfassen Text- und Diskurslinguistik, linguistische Analyse literarischer Dialoge und kontrastive Linguistik. Ruth Büttner ist Referentin für Internationalisierung an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in der Regionen- und Gedächtnisgeschichte.

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