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Die Medizinische Fakultät Freiburg 1945 bis 1969/1970

Entwicklungslinien und Protagonisten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

von Nadine Kopp (Autor:in)
©2015 Dissertation 452 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie beschäftigt sich mit der Entwicklung der Medizinischen Fakultät zwischen 1945 und 1970. Im Fokus der Untersuchung steht dabei das Spannungsverhältnis zwischen Medizinischer Fakultät und öffentlichem Raum, der wiederum die regionale Öffentlichkeit, repräsentiert durch die Stadt Freiburg, die universitäre Öffentlichkeit sowie die Öffentlichkeit der westdeutschen Universitäten insgesamt umfasst. Ausgehend von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er wird die Frage nach dem Selbstverständnis und nach der öffentlichen Selbstdarstellung der Freiburger Universitätsmediziner aufgeworfen und anhand eines breiten Quellenspektrums untersucht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass neben der medizinischen Wissenschaft auch die Öffentlichkeits- und Patientenorientierung zentrale Faktoren im Denken und Handeln der Medizinischen Fakultät Freiburg waren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Einführung
  • 1.2 Das Konzept der Öffentlichkeit(en)
  • 1.3 Forschungsstand
  • 1.3.1 Medizin und Öffentlichkeit als Forschungsgegenstand
  • 1.3.2 Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
  • 1.3.3 Die Universität Freiburg als Forschungsgegenstand
  • 1.4 Quellenlage und methodisches Vorgehen
  • 2. Freiburg und seine Mediziner
  • 3. Rückblick: Die Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus (1933-1945)
  • 3.1 Freiburger Universitätsmediziner im Nationalsozialismus
  • 3.2 Die medizinische Forschung im Nationalsozialismus
  • 3.3 Der Bombenangriff vom 27. November
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4. Erschütterungen: Die Medizinische Fakultät in der Nachkriegszeit (1945-1949)
  • 4.1 Die Ausgangslage: Die Medizinische Fakultät zwischen Nationalsozialismus und Neubeginn
  • 4.1.1 Zerstörung und Wiederaufbau der Institute und Kliniken
  • 4.1.2 Der Fächerausbau in der Medizinischen Fakultät und ihr Verhältnis zur scientific community
  • 4.2 Blick nach innen
  • 4.2.1 Die Bedeutung der Medizinischen Fakultät für die Wiedereröffnung der Albert-Ludwigs-Universität
  • 4.2.2 Die Auseinandersetzung von Universität und Medizinischer Fakultät mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus
  • 4.2.3 Der Umgang der Medizinischen Fakultät mit vertriebenen und belasteten Mediziner-Kollegen im Rahmen der (Selbst-)Reinigung
  • 4.3 Blick nach außen
  • 4.3.1 Vergangenheitsbewältigung in Westdeutschland. Der Austausch der Freiburger Medizinischen Fakultät mit ihren „Schwesternfakultäten“
  • 4.3.2 Neupositionierungsstrategien der Medizinischen Fakultät in der Region und in der breiten Öffentlichkeit. Ernährungsgutachten und Rundfunkbeiträge Freiburger Medizinordinarien
  • 4.4 Zusammenfassung
  • 5. Ringen um ein neues Selbstbild: Die Medizinische Fakultät in der jungen Demokratie der 1950er Jahre (1950-1957)
  • 5.1 Der Wiederaufbau der Medizinischen Fakultät in den 1950er Jahren
  • 5.1.1 Wie modern darf der Wiederaufbau sein? Die Hochbauweise im Widerstreit der Meinungen
  • 5.1.2 Strategien zur Neupositionierung: Patientenorientierung und Vergangenheitsbewältigung im Rahmen des Wiederaufbaus
  • 5.2 Medizinische Innovationen, Öffentlichkeit und Fachwissenschaft
  • 5.2.1 Der Fächerausbau der Medizinischen Fakultät
  • 5.2.2 Die Freiburger medizinische Forschung in den 1950er Jahren und ihr Verhältnis zur Fachöffentlichkeit: Kongresswesen und Krebs- und Poliomyelitis-Aufklärung
  • 5.2.2.1 Tagungen und Kongresse als wissenschaftliche Austauschforen
  • 5.2.2.2 „Krebs ist nicht unheilbar!“ Krebs und Krebsangst in der breiten Öffentlichkeit
  • 5.2.2.3 Vertrauenskrise Poliomyelitis: Die Einführung der Polio-Schutzimpfung in Freiburg und Südbaden
  • 5.3 Öffentlichkeitsorientierung als Selbstdarstellungsprinzip der Medizinischen Fakultät in den 1950er Jahren
  • 5.3.1 Mediziner als „Seismographen“ gesellschaftlicher Entwicklungen
  • 5.3.2 Ein Mediziner als Jubiläumsrektor? Die Verhandlungen zwischen Medizinischer Fakultät und Universität in den Jahren 1955 bis
  • 5.3.3 Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Medizinischen Fakultät im Rahmen des 500-jährigen Universitätsjubiläums
  • 5.3.3.1 Das Universitätsjubiläum als gesamtgesellschaftliches Ereignis
  • 5.3.3.2 Die Verleihung der medizinischen Ehrenpromotionen
  • 5.3.3.3 Büchners Festrede und die beiden medizinischen Symposien
  • 5.3.3.4 Die Jubiläumspublikationen der Medizinischen Fakultät
  • 5.3.3.5 Die Medizinische Fakultät in den Medien
  • 5.3.3.6 Das Jubiläum im Rückblick – Beurteilung und Kritik
  • 5.4 Zusammenfassung
  • 6. Die Medizinische Fakultät zwischen Konsolidierung und radikaler Kritik (1957/58-1969/70)
  • 6.1 Der Anschluss der Medizinischen Fakultät an die internationale Forschung
  • 6.1.1 Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates als „Schicksalsfrage der deutschen Wissenschaft“
  • 6.1.2 Der Ausbau der Medizinischen Fakultät
  • 6.1.3 „Die deutsche klinische Forschung ist noch nicht am Ende“ – medizinische Innovationen an der Universität Freiburg
  • 6.1.3.1 Die Freiburger kardiologische Forschung und die Herz-Lungen-Maschine
  • 6.1.3.2 Die „künstliche Niere“ und Nierentransplantationen
  • 6.1.3.3 Krebsverhütung und Krebstherapie in Freiburg
  • 6.1.3.4 Die Bekämpfung von Infektionskrankheiten: Polio, Masern, Tuberkulose
  • 6.1.3.5 Die Operation neurochirurgischer Erkrankungen
  • 6.2 „Amerika, du hast es besser!“ Kritik an der Freiburger Universitätsmedizin
  • 6.2.1 Die „monarchische Sonderstellung“ der Universitätsmediziner Ende der 1950er Jahre
  • 6.2.2 Zu viel Theorie, zu wenig Praxis – Kritik am Medizinstudium in den späten 1950er und den frühen 1960er Jahren
  • 6.2.3 Radikalisierungen – die Medizinische Fakultät und die Studentenunruhen in den späten 60er Jahren
  • 6.3 Verwissenschaftlichung und öffentliches Interesse an medizinischen Themen – Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Medizinischen Fakultät in den 1960er Jahren
  • 6.3.1 Medizinische Themen in der Öffentlichkeit als Beispiel für die zunehmende Medialisierung von Wissenschaft in den 60er Jahren
  • 6.3.2 Identitäten im Übergang: Das „Arztideal“ zu Beginn der 60er Jahre
  • 6.4 Zusammenfassung
  • 7. Fazit
  • 8. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 8.1 Quellen
  • 8.2 Darstellungen
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Sachregister
  • Personenregister
  • Ortsregister

Zitierfähigkeit des eBooks

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← 8 | 9 → 1. Einleitung

1.1Einführung

„Die Identität, Unverwechselbarkeit einer Universität, wird vor allem geprägt durch die an ihr Lehrenden und Forschenden: welche Probleme sie bei der Forschung beschäftigen, was sie entdecken, wie sie Wissen und Erfahrung weitergaben und – bei einem klinischen Universitätslehrer – wie er seine Aufgabe als Arzt wahrgenommen hat.“1

Mit diesen Worten leitet der Internist Wolfgang Gerok (*1926) seine Erinnerungen über seinen medizinischen Werdegang ein, der 1944 mit dem Medizin-Studium in Freiburg begann und 1968 zur Berufung auf den Freiburger Lehrstuhl für Innere Medizin führte. Während seiner fast dreißig Jahre umfassenden Beschäftigung mit Medizin war Gerok Zeuge der wechselvollen Geschichte der deutschen Medizin: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war sie – ebenso wie andere gesellschaftliche Bereiche – von Improvisation und Optimismus getragen, die auf eine schnelle Überwindung der Kriegsfolgen abzielte. Mit der Fortsetzung des Studiums bei dem Biochemiker Adolf Butenandt (1903-1995) in Tübingen 1945 lernte Gerok die Bedeutung herausragender Lehrer kennen. Sein anschließender Aufenthalt am Universitätsspital Zürich 1953 führte ihm die Rückständigkeit der deutschen Medizin vor Augen. Aufgeholt wurde dieser Rückstand seit den 1950er Jahren durch den wiederaufgenommenen Austausch zwischen der deutschen Medizin und der des Auslandes, was in Deutschland zu einer positiven Aufbruchstimmung und einer Reihe medizinischer Innovationen führte. Dass die Zeit einzelner herausragender Ordinarien in den späten 1960er Jahren zu Ende ging und sich auch die Universität unter dem Druck zunehmend kritischerer Studierender zu verändern begann, erlebte Gerok während seiner Zeit als Ordinarius für Innere Medizin in Freiburg zwischen 1968 und 1994. Für Studierende und Lehrende waren die späten 1960er Jahre ein Umbruch, der unterschiedlich empfunden wurde: Während viele Ordinarien in den politisierten Studierenden vor allem aufmüpfige und destruktive Kräfte sahen, empfanden die Studierenden die Ordinarien überwiegend als starre, konservative und ← 9 | 10 → veränderungsunwillige Vertreter eines nicht mehr zeitgemäßen Universitätsbetriebs. Vor diesem Hintergrund steht das Jahr 1968 in der deutschen Universitätsgeschichte für das Ende der klassischen Ordinarienuniversität und den Beginn der Gruppen- bzw. Massenuniversität.

Wenngleich die Erfahrungen Wolfgang Geroks skizzenhaft und persönlich gefärbt erscheinen, so stehen sie doch pars pro toto für die Entwicklung der deutschen Medizin seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die – exemplarisch am Beispiel der Freiburger Medizinischen Fakultät – Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Es soll allerdings keine umfassende Darstellung der Fakultätsentwicklung zwischen 1945 und 1969/70 erfolgen – diese liegt von Eduard Seidler und Karl-Heinz Leven bereits vor. Vielmehr liegt der Fokus auf dem Zusammenhang von Fakultätsentwicklung, Wissenschaft und Öffentlichkeit(en). So geht es im Kern um die Frage, wie sich die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Bundesrepublik in der Freiburger Medizinischen Fakultät widerspiegelten, wie sich die Mediziner zu ihnen verhielten und welche Interaktionsformen aus dieser wechselseitigen Beeinflussung entstanden. Es ist beispielsweise zu fragen, welche gesellschaftlichen und politischen Diskurse in der Medizinischen Fakultät von Belang waren und welche Mediziner sie in die Fakultät trugen. Welche Faktoren beförderten, verhinderten oder erzwangen eine Kommunikation mit der Öffentlichkeit? Welche Folgen ergaben sich daraus, insbesondere vor dem Hintergrund der Zukunftsfähigkeit der Fakultät? Kann man von einer Fakultät und einem Fakultätshandeln sprechen oder gab es innerhalb der Fakultät rivalisierende Gruppen? Wie war das Zusammenspiel der Medizinischen Fakultät mit den übrigen vier Fakultäten, insbesondere in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder den Studentenunruhen der 1968er Jahre? Gerade vor dem Hintergrund eines fehlenden städtischen Krankenhauses muss auch gefragt werden, wie die Zusammenarbeit mit der Stadt und den städtischen Gremien war und welchen Ruf die Medizin in der Bevölkerung hatte? Wurde versucht, das Ansehen der Medizin seitens der Medizinischen Fakultät zu beeinflussen? Falls ja, mit welchen Mitteln? Um diese Detailfragen beantworten zu können, muss auch nach dem Selbstverständnis der Mediziner gefragt werden. Welchen Einflüssen und Veränderungen unterlag die Selbstwahrnehmung der Freiburger Medizinordinarien? Wie viel davon wurde nach außen getragen? Insgesamt soll die Klärung dieser Fragen dazu beitragen, die Besonderheiten der Freiburger Medizinischen Fakultät und Veränderungen sowie Kontinuitäten herauszuarbeiten, um einen Vergleich mit anderen Medizinischen Fakultäten Westdeutschlands zu erleichtern.

Dazu reicht es nicht, erst 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einzusetzen. Aus diesem Grund ist dem genuinen Untersuchungszeitraum von 1945 ← 10 | 11 → bis 1969/70 ein Rückblick in den Nationalsozialismus vorgeschaltet (Kapitel 3). Daran schließt sich als weitere Zäsur die unmittelbare Nachkriegszeit von 1945 bis 1949 an. In dieser Phase stand der von Aufbruchwillen und einem mythisch übersteigerten Gemeinschaftsgefühl geprägte Wiederaufbau im Vordergrund. Da das Instituts- und Klinikgebiet durch einen britischen Bombenangriff stark beschädigt worden war, verfolgten die Angehörigen der Stadtverwaltung und der Medizinischen Fakultät die Instandsetzungsarbeiten mit großem Engagement, da andernfalls die Krankenversorgung der Freiburger Bevölkerung nicht gesichert werden konnte (Kapitel 4). Auf die (oftmals provisorische) Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Medizinischen Fakultät folgte eine Orientierungsphase, in der eine inhaltliche Neuausrichtung der Freiburger Medizin erfolgte: Zunehmend nahmen die Freiburger Mediziner Kontakt mit Medizinern des Auslandes, insbesondere früheren Kollegen, auf, um ihren wissenschaftlichen Rückstand aufzuholen. Aufgrund der massiven Zerstörungen vollzog sich dieser Austausch noch nicht auf Augenhöhe, weshalb Freiburger Mediziner häufiger an ausländischen Tagungen und Kongressen teilnahmen als selbst welche zu veranstalten. Vor diesem Hintergrund kommt dem Jahr 1957 eine besondere Bedeutung zu, da die Universität Freiburg in diesem Jahr ihren 500. Geburtstag feierte und diese Gelegenheit für eine umfängliche Selbstdarstellung in der scientific community nutzte, indem sie ausländische Kollegen zu den Feierlichkeiten und den damit verbundenen wissenschaftlichen Symposien einlud. Das Jahr 1957 stellt jedoch noch aus einem weiteren Grund eine entscheidende Zäsur dar, die sowohl die Universität als Ganzes als auch die Medizinische Fakultät betraf: Mit der Gründung des Wissenschaftsrates am 5. September 1957 wurde auf politischer Ebene ein Gremium geschaffen, das eine Lösung für das Problem der Überfüllung der Universitäten finden sollte. Die vom Wissenschaftsrat ausgesprochenen Empfehlungen betrafen aus Sicht der Medizinordinarien ihr ureigenstes Gebiet, da sie sowohl die weitere Entwicklung der einzelnen medizinischen Disziplinen als auch die Struktur des Medizinstudiums betrafen (Kapitel 5). Mit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren begann für die Fakultät im wissenschaftlichen Bereich eine Phase zunehmender Konsolidierung, die mit medizinischen Innovationen wie der Herz-Lungen-Maschine oder der „künstlichen Niere“ einherging. Aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen wie einem gesteigerten Interesse an medizinischen Themen und einer zunehmenden Medialisierung geriet die Fakultät aber gleichzeitig durch öffentliche Kritik von überwiegend jungen Medizinstudierenden, Medizinalassistenten oder Jungärzten unter Druck, der in den Studentenunruhen der späten 1960er Jahre weiterlebte. Hierbei stellte sich die Frage, ob diese Phase der Fakultätsgeschichte in das vorherige Kapitel integriert oder als eigenständiges ← 11 | 12 → Kapitel behandelt werden sollte: Die Studentenproteste sorgten zwar auch in der Medizinischen Fakultät für eine zeitweilige Radikalisierung, diese führten jedoch nicht zu dauerhaft tumultartigen Zuständen, wie dies beispielsweise in manchen Universitäten in den Geisteswissenschaften der Fall war. Gegen das Setzen einer Zäsur in den späten 1960er Jahren in der Medizin sprach auch die Tatsache, dass die hier vorgebrachte Medizinkritik ihre Wurzeln bereits Ende der 1950er Jahre hatte und in diesem Sinne als Kontinuität wahrgenommen werden sollte. Den Abschluss der Untersuchung bildet die 1969 beschlossene und 1970 durchgeführte Zweiteilung der Medizinischen Fakultät (Kapitel 6).

1.2Das Konzept der Öffentlichkeit(en)

Im Zuge der Veränderungen des 20. Jahrhunderts, die von Wissenschaftlern wie Richard van Dülmen als Entstehung der Wissensgesellschaft beschrieben wurden, nahmen die Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit immer weiter zu.2 Dabei spielte nicht nur die Tatsache eine Rolle, dass Wissen als „zentrale Ressource“3 moderner Gesellschaften angesehen wurde und aus Sicht der Zeitgenossen Erklärungen für eine sich rasch verändernde Welt lieferte, sondern auch die Entstehung und Verbreitung von Massenmedien, die ihr Publikum mit sowohl informierenden als auch unterhaltenden Nachrichten versorgten.4 Die Möglichkeit der technischen Vervielfältigung sorgte dabei zwar für eine massenhafte Verbreitung der Nachrichten, verhinderte aufgrund der fehlenden „individuengerechten Vereinheitlichung“ aber eine Interaktion zwischen Sender und Empfänger, was die massenmediale Kommunikation stärker in Richtung eines reinen „Mitteilungshandelns“5 verschob. Für die Funktion der Massenmedien bedeutete dies, dass die von ihr vorgenommenen „Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen“6, gerade weil sie nicht auf einen Konsens ausgelegt ← 12 | 13 → waren, von den Rezipienten eklektisch wahrgenommen wurden, da diese den Massenmedien nur das entnahmen, was sie für sinnvoll erachteten. Luhmann zufolge erzeugen Massenmedien durch die Verbreitung von Minderheiten-Meinungen einerseits „Widerstand gegen sich selbst“7, gewährleisten andererseits aber den Fortbestand der Gesellschaft durch ihre Funktion als „allgemeines gesellschaftliches Reflexionsmedium“.8

Gerade vor dem Hintergrund der sich im 19. und 20. Jahrhundert immer stärker politisierenden Gesellschaften kam den Massenmedien eine besondere Bedeutung zu, da sie das Bedürfnis der Öffentlichkeit(en) nach publizistischer Teilhabe bedienten, das auch wissenschaftliche Themen mit einschloss und zur Aufnahme wissenschaftlicher Berichte in allgemein ausgerichtete Zeitungen und Illustrierte führte.9 Im Zuge dieser Medialisierung10 wurden wissenschaftliche Themen jedoch häufig auf ihren Nachrichtenwert reduziert, der sich wiederum an den jeweiligen Renditeaussichten der betreffenden Publikationen orientierte.11 Gerade Wissenschaftler standen der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse daher eher skeptisch gegenüber, da sie in der starken Verkürzung ← 13 | 14 → wissenschaftlicher Erkenntnisse eine Verflachung bzw. Verfälschung sahen.12 Während diese Haltung der Wissenschaftler eher zur Vergrößerung der Distanz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit führte, sorgten die neuen Möglichkeiten der Massenmedien gleichzeitig für eine Annäherung: Aufgrund des großen Interesses an wissenschaftlichen Themen hofften zahlreiche Wissenschaftler, durch Berichte in den Massenmedien eigene Themen in die Öffentlichkeit tragen und dadurch die öffentliche Meinung positiv beeinflussen zu können.13 Dass dieser Befund auch für die Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts gilt, zeigen sowohl die Popularität medizinischer Themen in der „Gartenlaube“14 als auch der Popularisierungsdiskurs in den Ärztlichen Mitteilungen der späten 1950er Jahre. So wurden die Gründe des gestiegenen öffentlichen Interesses an medizinischen Themen in den 1950er Jahren auf die vielfältigen medizinischen ← 14 | 15 → Innovationen, das natürliche Interesse an menschlichen Lebensvorgängen, eine größere Wertschätzung der eigenen Gesundheit, aber auch auf gesellschaftliche Degenerationsvorstellungen und den Verlust von Tabus zurückgeführt.15

Als besondere Herausforderung erwies sich in diesem Zusammenhang die Frage, welcher Öffentlichkeits-Begriff sich am besten eignete, um das vielschichtige und komplexe Verhältnis zwischen Medizinischer Fakultät und den Öffentlichkeit(en) zu fassen. Der Rückgriff auf bisherige Definitionsversuche, wie sie beispielsweise von Jürgen Habermas, Axel Schildt, Jörg Requate, Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt sowie Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher unternommen wurden, war hilfreich, aber letztlich unbefriedigend, da sich die hier entwickelten Konzepte nur bedingt auf die Medizinische Fakultät und die sie betreffenden Öffentlichkeiten übertragen ließen. Während Habermas seinen Forschungsschwerpunkt auf das 19. und nicht auf das 20. Jahrhundert legte, ging Schildt weniger auf den Öffentlichkeitsbegriff als auf die durch die Massenmedien hervorgerufenen Veränderungen ein.16 So versteht er unter Öffentlichkeit „ein Ensemble und eine Interdependenz von medialer Produktion, Kommunikation und Rezeption, von systemischen und lebensweltlichen Mustern, von technologischen Dynamiken und kulturellen Bedeutungen, von biographischen und sozialstrukturellen Dimensionen, von Macht- und Diskursformen, existierend in der differenzierten und fragmentarisierten Form verschiedener Öffentlichkeiten“.17 Wodurch sich die einzelnen Öffentlichkeitsformen voneinander unterscheiden und wie sie jeweils zu definieren sind, wird ← 15 | 16 → von Schildt nicht beschrieben. Wie Schildt geht auch Requate von einer massenmedialen Öffentlichkeit aus, in die ebenfalls eine ganze Reihe sektoraler Teilöffentlichkeiten hineinreichen. So gelange man, Requate zufolge, „zu einem Bild einer sektoral vielfach unterteilten öffentlichen Sphäre, die […] am ehesten in die Nähe einer adäquaten Beschreibung der Wirklichkeit gelang[e].“18 Zweifelsfrei liegt der Vorteil dieses Öffentlichkeitsverständnisses in der Betonung der gesellschaftlichen Pluralität, doch bleibt die Abgrenzung der einzelnen Teilöffentlichkeiten weiterhin schwierig. Gerhards und Neidhardt beschreiben Öffentlichkeit, ausgehend von der Bedeutungsvielfalt des Begriffs, als Kommunikationssystem, dessen Grenzen durchlässig sind, „weil [sie] nicht an externe Zugangsbedingungen sozialer Teilhabe geknüpft“ sind.19 Wie zuvor Schildt und Requate setzen auch Gerhards und Neidhardt „eine Vielzahl kleiner und großer Foren [voraus], die nur teilweise miteinander vernetzt sind.“ Nikolow und Schirrmacher zufolge werden diese sektoralen Teilöffentlichkeiten „erst in der Praxis durch Prozesse der Kommunikation“20 greifbar. In ihrer Vorstellung bilden sie ein sechsstufiges Öffentlichkeitsmodell, das auf der Nähe bzw. Ferne zum Entstehungsort von Wissenschaft basiert. So bildet die breite, massenmedial geprägte Öffentlichkeit das Fundament ihres Modells, während an der Spitze die jeweiligen Fachwissenschaften mit ihren Vertretern stehen. Dazwischen stehen vier weitere Teilöffentlichkeiten, deren Nähe zur Wissenschaft immer mehr zunimmt. Der Reiz dieses Modells besteht neben seiner Anschaulichkeit in der Tatsache, dass es die Verschränkung zwischen Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en), die Gleichzeitigkeit und die unterschiedliche Art des Wissens und der Wissensvermittlung deutlich macht. Dennoch bleibt die Frage nach der Abgrenzung und Definition der jeweiligen Teilöffentlichkeiten schwierig. So gesehen lieferten die jeweiligen Überlegungen zu den Öffentlichkeiten insgesamt wichtige Impulse, die sich aber nur zum Teil auf die Freiburger Medizinische Fakultät und die mit ihr agierenden Öffentlichkeiten übertragen ließen: Neben einer massenmedial geprägten Laienöffentlichkeit in der Region lassen sich innerhalb von Universität und ← 16 | 17 → Fakultät verschiedene Teilöffentlichkeiten ausmachen: So bilden Gremien wie beispielsweise Senat, Fakultät, das Bauamt der Universität, die Vertretungen von Studierenden und Mittelbau eigene Teilöffentlichkeiten, die allerdings an ein Amt bzw. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe innerhalb der Universität gebunden sind. Weitere Teilöffentlichkeiten bilden die Vortragsveranstaltungen von Fakultät und Universität, deren Teilhabe zumindest anfänglich von der Zugehörigkeit zur Universität Freiburg, dann schließlich von der Einwohnerschaft Freiburgs und der Region abhing. (Mit dem Erscheinen gedruckter (Dies)-Vorträge erweiterte sich diese Teilöffentlichkeit entsprechend, da sie über den Buchhandel direkt bezogen werden konnten.) Im Zuge der entstehenden Massenmedien, zu denen für die Region Südbaden auch die Badische Zeitung, und überregional unter anderem die Wochenzeitung Die ZEIT und das Magazin Der Spiegel gehörten, verfügte die Bundesrepublik über ein prinzipiell allen Lesern offen stehendes Kommunikationssystem, das lokale Informationen einer überregionalen Öffentlichkeit bekannt machte. Für die Freiburger Medizinordinarien bedeutete dies eine Umstellung, da medizinische Themen nicht mehr nur lokal verhandelt wurden, sondern im Zuge der Medialisierung Allgemeingut geworden waren. Gerade vor dem Hintergrund eines vergrößerten Radius stellte diese Entwicklung für die Ordinarien eine Unwägbarkeit dar, da sich dadurch Gelegenheit für Vergleiche mit anderen Medizinischen Fakultäten und für Kritik aus der Ferne ergab.

Vor diesem Hintergrund erwies sich neben der Annahme einer massenmedialen Öffentlichkeit eine Vielzahl kleinerer Teilöffentlichkeiten als praktikabel, die sich hauptsächlich durch die Art ihrer Zugehörigkeit zur Universität Freiburg voneinander abgrenzten. In manchen Fällen stellte sich eine zu kleinteilige Unterscheidung allerdings nicht als zweckmäßig heraus, weshalb in diesen Fällen lediglich von inner- und außeruniversitären Teilöffentlichkeiten bzw. Kommunikationsräumen die Rede ist.

1.3Forschungsstand

Die Verbindung von Medizin-, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte stellt, auch was den Forschungsstand angeht, eine Herausforderung dar, da die Forschung in allen drei Bereichen unterschiedlich weit gediehen ist: Während der Forschungsstand zu Medizin und Öffentlichkeit(en) in einem engeren Sinne mit nur geringer Übertreibung als nicht existent bezeichnet werden kann, verfügt die universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung über eine durchaus beeindruckende Zahl allgemein wie speziell ausgerichteter Studien. Daher folgt die Darstellung des Forschungsstandes einem dreigeteilten Schema: ← 17 | 18 → Zunächst wird die vorhandene – vor allem aus dem anglo-amerikanischen Bereich stammende – Forschung zu Medizin und Öffentlichkeit allgemein nachgezeichnet, bevor es konkreter um den Stand der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte geht. In einem dritten Schritt werden die Forschungen zur Universität Freiburg vorgestellt. Von dieser Warte aus folgen anschließend die Darstellung der Quellenlage und die methodischen Überlegungen, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Dabei können hier nur grobe Linien entwickelt werden, eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand findet in den einzelnen Kapiteln statt.

1.3.1Medizin und Öffentlichkeit als Forschungsgegenstand

Im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Forschung stellt die Erforschung des Verhältnisses zwischen Medizin und Öffentlichkeit(en) in der deutschen medizingeschichtlichen Forschung wie gesagt ein Forschungsdesiderat dar.21 Dies gilt in besonderem Maße für das Verhältnis von Medizin und Massenmedien, was angesichts des gesellschaftlichen Interesses an medizinischen Themen umso erstaunlicher ist. Wenngleich allgemein ausgerichtete Darstellungen fehlen, ist die Beziehung zwischen Medizin und Öffentlichkeit(en) in den vorhandenen Darstellungen in Teilaspekten immer wieder thematisiert worden, um die gesellschaftliche Bedeutung medizinischer Forschung und Lehre herauszustellen.

Angeregt durch die anglo-amerikanische Vorreiterrolle kam es in den letzten Jahren zwar auch in Deutschland zu einer stärkeren Berücksichtigung des Themenkomplexes Medizin und Öffentlichkeit, doch handelt es sich dabei um einzelne Fallstudien, die oftmals nicht den Zeitraum ab 1945 betreffen und nur bedingt auf das öffentliche Bild der Medizin und auf die Rolle, die die Medien bei der Herstellung dieses Bildes spielen, eingehen. So beschäftigen sich die vorliegenden Studien vorwiegend mit Einzelaspekten wie der Vergangenheitsbewältigung in der Medizin, der Arzneimittelwerbung und der Entstehung von ← 18 | 19 → Medizinjournalisten.22 Zu positiven Neuansätzen kam es allerdings im Rahmen der Erforschung der Studentenunruhen von 1968, da diese inzwischen auch den veränderten Rahmenbedingungen der Medizinischen Fakultäten und ihrer Studierenden Rechnung tragen, wie die Studien von Ralf Forsbach, Udo Benzenhöfer, Johannes Nikolaus Rückher und Frank Sparing zeigen.23 Jenseits von 1968 stellt die Erforschung des Komplexes Medizin und Öffentlichkeit weiterhin eine Lücke medizingeschichtlicher Forschung dar, die Interaktionen und Wechselwirkungen ebenso im Dunkeln lässt wie die Rückkoppelungseffekte zwischen ← 19 | 20 → beiden Bereichen. So verspricht die Untersuchung der Medizinischen Fakultät Freiburg und ihrer Beziehungen zur Öffentlichkeit einerseits Aufschluss über Motivationen, Katalysatoren und Orientierungsparameter von Handlungen zu geben. Andererseits leistet sie aber auch einen wichtigen Beitrag zur Vervollständigung der Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität, indem der Einfluss, die Rolle und die Bedeutung einer Fakultät im Universitätsganzen beleuchtet werden kann.24

1.3.2Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte

Im Mittelpunkt universitätsgeschichtlicher Forschung standen bisher vor allem einzelne Universitäten, ihre Repräsentanten und Fächer. Dabei traf die Zeit des Nationalsozialismus auf ein besonders großes Interesse, sodass dieser Bereich als besonders gut erforscht gelten kann.25 In einigen Fällen erstreckte sich der Forschungszeitraum darüber hinaus in die Nachkriegsjahre hinein.26 Insgesamt betrachtet stellen universitätsgeschichtliche Arbeiten, die in die 1950er oder ← 20 | 21 → 1960er Jahre reichen, aber eher eine Ausnahme als den Regelfall dar. Einen Anreiz zur Auseinandersetzung mit der jüngeren Universitätsgeschichte boten dabei vor allem die Universitätsjubiläen der letzten Jahre, die die Veröffentlichung von Einzelbeiträgen und Sammelbeiträgen gleichermaßen beförderte.27 Die darin enthaltenen Beiträge leisten zwar einen zentralen Beitrag zur Geschichte der jeweiligen Hochschule, beschränken sich dabei aber häufig auf eine Darstellung der inneren Vorgänge der Universität, ohne auf die außeruniversitäre Öffentlichkeit einzugehen.28 Dies erstaunt umso mehr, als die Öffentlichkeit infolge der voranschreitenden gesellschaftlichen Demokratisierung im 20. Jahrhundert mit dem Wunsch nach größerer Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen verbunden war – ein Ergebnis, das sich auch in der zunehmenden Bedeutung der Massenmedien spiegelte.29 Dass sich auch die Universitäten ← 21 | 22 → dieser Entwicklung stellen mussten, wird an der Hochschulreformdiskussion der 1950er Jahre ebenso deutlich wie an den Studentenunruhen der späten 1960er Jahre. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass sich die Universitäten ihrer öffentlichen Bedeutung bewusst wurden und sich seit den 1960er Jahren um eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen universitärer Pressestellen bemühten.30

Trotz dieser allgemein vorhandenen Defizite beschäftigten sich einzelne Arbeiten der neueren Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte mit der Frage der Wissenschaftspopularisierung, wodurch Universitätsentwicklung und außeruniversitäre Öffentlichkeit miteinander verbunden werden.31 Dabei sorgte insbesondere die Erforschung wissenschaftlicher Institutionen wie sie der Wissenschaftsrat, die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Alexander ← 22 | 23 → von Humboldt-Stiftung darstellen, für eine über das Jahr 1945 hinausgehende Betrachtung, wie die Arbeiten von Olaf Bartz, Anne Cottebune und Christian Jansen zeigen.32 Längere Entwicklungslinien wurden auch im Rahmen des 2010 an der Universität Münster stattfindenden Symposiums über die „Medizinischen Fakultäten in der deutschen Hochschullandschaft“ verfolgt, das den zeitlichen Bogen von 1925 bis 1965 spannte, in seinen Einzelbeiträgen aber dennoch stark vom Zeitraum bis 1945 geprägt war. Eine stärkere Berücksichtigung der Öffentlichkeit erfolgte sowohl im Rahmen der 2005 von der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte veranstalteten Tagung „Universität im öffentlichen Raum“33 als auch in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zur Erforschung der Rektoratsreden im deutsch-schweizerischen Raum durch Dieter Langewiesche.34

Positive Impulse für eine Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit kamen neben der historischen auch von der soziologischen Forschung, die sich allerdings häufig auf eine Untersuchung der Verbindungen zwischen den Naturwissenschaften und der Öffentlichkeit konzentrierte.35 In diesem Zusammenhang ← 23 | 24 → sind besonders diejeniegen Beiträge hervorzuheben, die sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit beschäftigen und dieses positiv im Sinne wechselseitiger Ressourcen definierten.36

1.3.3Die Universität Freiburg als Forschungsgegenstand

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte bilden die Forschungen zur Freiburger Universitätsgeschichte keine Ausnahme: Auch in Freiburg hatte sich die Forschung lange Zeit auf den Nationalsozialismus und die unmittelbare Nachkriegszeit konzentriert, wohingegen die Geschichte der Universität in den 1950er, 1960er oder 1970er Jahren eher vernachlässigt wurde.37 Für die Erforschung dieses Zeitraums sorgte nicht ← 24 | 25 → zuletzt das 550-jährige Universitätsjubiläum der Albert-Ludwigs-Universität im Jahr 2007, da es einen zentralen Anlass zur Beschäftigung mit der jüngeren Universitätsgeschichte lieferte. Aus diesem Grund wurden im Vorfeld des Jubiläums zahlreiche Abschlussarbeiten zu spezifischen Aspekten der Freiburger Universitätsgeschichte vergeben, die als Einzelstudien oder als Aufsätze in der Festschrift veröffentlicht wurden und zum Gesamtbild der Universität beitragen.38 Einen disziplinengeschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Geisteswissenschaften zwischen 1920 und 1960 liefert der von Eckhard Wirbelauer herausgegebene Sammelband „Die Freiburger Philosophische Fakultät“, für die Medizin übernehmen Eduard Seidler und Karl-Heinz Leven diese Aufgabe mit der Monographie „Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen“.39 Sie liefert einen ← 25 | 26 → Gesamtüberblick über die medizinische Versorgung Freiburgs von den mittelalterlichen Anfängen bis zur Entwicklung der Fakultät zu Beginn der 1970er Jahre. Ergänzt wird dieser Überblick durch zahlreiche Einzelstudien, die sich aber ebenfalls schwerpunktartig mit dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus beschäftigen.40 Insgesamt ermöglichen die Beiträge zur Geschichte der Freiburger Universität damit einen soliden Einblick in die Entstehung und Entwicklung der Hochschule bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, für die Universitäts- und Fakultätsentwicklung seit den 50er Jahren besteht dennoch weiterer Forschungsbedarf.

1.4Quellenlage und methodisches Vorgehen

Die Arbeit basiert auf einem umfangreichen Quellenbestand, der neben gedruckten Quellen auch unveröffentlichte Aktenbestände des Freiburger Universitätsarchivs umfasst. Neben den allgemein ausgerichteten Quellen zur Freiburger Universitätsgeschichte, wie sie zum Beispiel die Jahresberichte und Rektoratsreden darstellen, handelt es sich hierbei auch um Quellen, die speziell die Geschichte der Medizinischen Fakultät berücksichtigen. Dabei erwiesen sich insbesondere die Personalakten des Rektorats und die der Medizinischen Fakultät als hilfreich, da sie einen Überblick über den beruflichen Werdegang der einzelnen Medizinordinarien liefern und zugleich einen Einblick in das Denken und Handeln der jeweiligen Personen geben. Ferner eigneten sich die Personalakten dazu, fakultätsinterne Konflikte auszumachen und die Verbindungen der Universitätsmediziner im Rahmen einer Netzwerkanalyse offen zu legen.

Für das Selbstverständnis der Medizinordinarien erwiesen sich ferner die im Rahmen des dies universitatis vorgetragenen Reden der Mediziner sowie die vielfach vorhandenen autobiografischen Zeugnisse als hilfreich. Während die ← 26 | 27 → dies-Reden zeigen, mit welchen Themen und auf welche Weise sich die Mediziner im Universitätsganzen verorteten, stellen die Selbstzeugnisse die persönliche Sichtweise der jeweiligen Mediziner auf ihren eigenen Werdegang und die Entwicklung der Medizinischen Fakultät bzw. der Medizin insgesamt dar. Selbstzeugnisse dieser Art liegen beispielsweise von Franz Büchner (1895-1991), Ludwig Heilmeyer (1899-1969) und Wolfgang Spann (1921-2013) vor, wobei insbesondere Spanns Erinnerungen zu den Studentenunruhen der späten 1960er Jahre eine wertvolle Innensicht liefern. Persönliche Stellungnahmen zur Fakultätsentwicklung der 1960er Jahre lieferte darüber hinaus die in den Freiburger Universitätsblättern abgedruckte Reihe der Erinnerten Erfahrung, in der bereits emeritierte Hochschullehrer über ihre Berufserfahrungen berichteten. Für die Medizin erwies sich dabei der Beitrag des Internisten Wolfgang Gerok als besonders relevant, da Gerok aus der Erfahrung des frisch nach Freiburg berufenen Mediziners über die Stimmung an der Universität berichtet und bilanziert. Rückblicke dieser Art konnten überdies im Rahmen von Zeitzeugen-Interviews gewonnen werden, zu denen sich zwei ehemalige Hochschullehrer, Eduard Seidler (*1929) und Wolfgang Gerok sowie ein ehemaliger Freiburger Medizinstudent, Alfred Böcking (*1944), bereit erklärten.

Um die Selbstdarstellung der Medizinischen Fakultät in der inner- und außeruniversitären Öffentlichkeit nachvollziehen zu können, wurden neben der von 1951 bis 1972 erschienenen Freiburger Studentenzeitung die Freiburger Universitätsblätter herangezogen, die seit ihrer Gründung 1962 das offizielle Selbstdarstellungsorgan des Rektors waren und sowohl einen Überblick über Neuberufungen, Emeritierungen und Geburtstage lieferten als auch Gelegenheit zur Darstellung der inneren Entwicklung der Universität boten, wie sie sich durch den Ausbau des Instituts- und Klinikviertels und die Ausdifferenzierung der Medizin ergaben. Für die bauliche Entwicklung der Fakultät wurden darüber die im Universitätsarchiv lagernden Bauakten, die Schriften des Wissenschaftsrates sowie die Gutachten der Fakultät hinzugezogen. Ferner erwiesen sich Presseerzeugnisse wie die 1946 gegründete Badische Zeitung – die Tageszeitung Südbadens – sowie die ZEIT als überregionale Zeitung und der Spiegel als wöchentlich erscheinendes Journal als ergiebig. Ergänzend wurden die im Universitätsarchiv aufbewahrten Pressemappen hinzugezogen, die eine eklektische Auswahl an Zeitungsartikeln über einzelne Mediziner enthalten, die gerade deswegen interessant sind, weil sie über den regionalen Bereich hinausgehen. Aus diesem Grund wurde auch der Rundfunk in Form der Wissenschaftssendung Aula einbezogen, wenngleich diese für die Medizin nur eine untergeordnete Bedeutung hatte, da medizinische Themen nur in geringem Maße vertreten waren.

← 27 | 28 → Methodisch konzentrierte sich die Arbeit zunächst auf einer Erfassung der verschiedenen Quellenbestände und auf ihrer diskursiven Inhaltserfassung. Dabei stellte sich heraus, dass sich ein prosopografischer bzw. generationenspezifischer Zugang bei den Fragen nach dem Selbstverständnis und der Selbstdarstellung der Freiburger Universitätsmediziner anbot, da die Geschichte der Fakultät vom Wiederaufbau der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hinein in die 1960er Jahre von einer eher konservativ eingestellten Medizinern geprägt wurde, deren Ansichten insbesondere von den Medizinstudierenden der 68er infrage gestellt wurde.41 Seit dem Beginn der 1960er Jahre verschwanden diese „Leitsterne“ der Fakultät jedoch, da sie emeritiert wurden, starben oder inzwischen einen Ruf an eine andere Universität angenommen hatten. Sie wurden zunehmend von moderateren Medizinern, die vorwiegend während der 1920er ← 28 | 29 → Jahre geboren worden waren und rein rechnerisch der „skeptischen Generation“ angehörten, ersetzt.42 Gerade weil einzelne Ordinarien für die Fakultät eine so bedeutende Rolle spielten, erwies sich auf Grundlage des vorhandenen Quellenmaterials die Erstellung eines Sozialprofils der einzelnen Mediziner als ebenso bedeutsam wie die Netzwerkanalyse. Zu diesem Zweck wurden die vorhandenen Quellen zueinander in Beziehung gesetzt, kritisch hinterfragt und – im Falle der Presseberichte statistisch und – hermeneutisch ausgewertet.← 29 | 30 →

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1 Wolfgang Gerok (1998): Befragte Vergangenheit – Erlebtes, Gedachtes, Versäumtes im Leben eines Internisten, in: Freiburger Universitätsblätter 140, S. 9-24, hier S. 9.

2 Einen anschaulichen Überblick liefern Richard van Dülmen; Sina Rauschenbach (Hrsg.) (2004): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft sowie Jürgen Wilke (2000): Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln.

3 Friedhelm Neudhardt u.a. (2008): Wissensproduktion und Wissenstransfer. Zur Einleitung, in: Renate Mayntz u.a. (Hrsg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld, S. 19-40, hier S. 19.

4 Zur Geschichte der Massenmedien siehe: Ute Daniel; Axel Schildt (Hrsg.) (2010): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln u.a.

5 Niklas Luhmann (2004): Die Realität der Massenmedien, S. 12-14.

6 Ebd., S. 174.

7 Ebd., S. 160.

Details

Seiten
452
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050592
ISBN (ePUB)
9783653976847
ISBN (MOBI)
9783653976830
ISBN (Hardcover)
9783631656907
DOI
10.3726/978-3-653-05059-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Medizingeschichte Medizinkritik Vergangenheitsbewältigung Patientenorientierung Wissenschaftsrat
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 451 S.

Biographische Angaben

Nadine Kopp (Autor:in)

Nadine Kopp studierte Deutsch und Geschichte an den Universitäten Freiburg und Stuttgart. Nach dem ersten Studienabschluss arbeitete sie an der Universität Freiburg im DFG-Projekt Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit, wo sie für den Bereich Medizin zuständig war. Derzeit ist sie in Hamburg als Gymnasiallehrerin für die Fächer Deutsch, Geschichte sowie Politik/Gesellschaft/Wirtschaft (PGW) tätig.

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Titel: Die Medizinische Fakultät Freiburg 1945 bis 1969/1970
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