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Einflüsse und Auswirkungen der Evidenzbasierten Medizin auf das Medizinrecht

von Max Mommertz (Autor:in)
©2015 Dissertation 209 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch beschäftigt sich mit der so genannten Evidenzbasierten Medizin (EbM), einer Disziplin, die es ermöglicht, unter Berücksichtigung der Patienteninteressen zu einer optimalen Behandlungsentscheidung zu gelangen. Max Mommertz untersucht, welche Einflüsse und Auswirkungen die EbM bereits auf die einzelnen Bereiche des Medizinrechts genommen hat und inwiefern diese Disziplin auch in Zukunft für die Entwicklung des Rechts nutzbar gemacht werden kann. Einen Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die EbM für das Arzthaftungs- und ärztliche Berufsrecht Bedeutung hat bzw. wo hier die Grenzen ihrer Aussagekraft erreicht sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Erstes Kapitel: Einführung
  • A. Die Behandlungssituation aus Sicht des Arztes
  • B. Die Ursprünge der EbM und ihre Verbreitung
  • I. Entwicklung aus der Epidemiologie
  • II. Das Basismodell nach Sackett et al.
  • 1. Erkenntnisse aus der ursprünglichen Definition des Basismodells
  • a) Die externe Evidenz
  • aa) Studien als externe Erkenntnisquelle in der Methodik der EbM
  • bb) Randomisiert kontrollierte Studien
  • b) Die interne Evidenz
  • c) Zusammenspiel interner und externer Evidenz in einer Entscheidungssituation
  • d) Konflikt zwischen interner und externer Evidenz
  • 2. Die Einbeziehung der Behandlungswünsche des Patienten
  • 3. Unabhängigkeit der EbM von Kostenerwägungen
  • III. Weitere Entwicklung der EbM
  • IV. Verbreitung der EbM in Deutschland
  • 1. Die Cochrane Collaboration (CC)
  • 2. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)
  • 3. Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierter Medizin (DNEbM)
  • C. Gegenstand und Gang der Untersuchung
  • Zweites Kapitel: Einzug der EbM in das Medizinrecht
  • A. Allgemeines
  • I. Die EbM im gesetzlichen Krankenversicherungsrecht
  • 1. Aufgabe und Zweck des SGB V
  • 2. Der sozialrechtliche Standard nach dem SGB V
  • a) Konkretisierung des sozialrechtlichen Standards durch die EbM
  • b) Beachtung der EbM durch den Gemeinsamen Bundesausschuss
  • aa) Aufgaben und Ziele des Gemeinsamen Bundesausschusses
  • bb) Der Bewertungsprozess des GBA
  • cc) Bindung des GBA an die Aussagen der EbM bei der Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
  • (1) Allgemeine Regelungen
  • (2) Der sogenannte „Nikolausbeschluss“ des BVerfG vom 06.12.2005
  • dd) Die Verfahrensordnung des GBA
  • 3. Zusammenfassung
  • II. Die EbM im privaten Krankenversicherungsrecht
  • 1. Allgemeines
  • 2. Erstattung medizinisch notwendiger Heilbehandlungen
  • 3. Der Einfluss der EbM auf die Bestimmung der medizinischen Notwendigkeit
  • 4. Zusammenfassung
  • III. Die EbM im Arzneimittelrecht
  • 1. Allgemeines
  • 2. Die EbM im Verfahren der Arzneimittelzulassung
  • IV. Die EbM im Recht der sozialen Pflegeversicherung
  • 1. Der allgemein anerkannte Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse
  • 2. Das Konzept der evidenzbasierten Krankenpflege (Evidence-based-nursing)
  • 3. Die Qualitätssicherung und Weiterentwicklung im SGB XI
  • a) Expertenstandards nach dem SGB XI
  • b) Das Entwicklungsverfahren der Expertenstandards
  • c) Verbindlichkeit der Expertenstandards
  • 4. Zusammenfassung
  • V. Stellungnahme
  • B. Die EbM als Rechtsbegriff
  • I. Allgemeines
  • II. Auslegung des Begriffs der EbM
  • 1. Die Einbeziehung externer Evidenz in den Rechtsbegriff der EbM
  • a) Einbeziehung durch das SGB V
  • aa) Der Wortlaut des SGB V
  • bb) Systematische Auslegung
  • cc) Historische Auslegung
  • dd) Teleologische Auslegung
  • ee) Zusammenfassung
  • b) Einbeziehung durch das VVG
  • c) Einbeziehung durch das AMG
  • d) Einbeziehung durch das SGB XI
  • 2. Einbeziehung interner Evidenz in den Rechtsbegriff der EbM
  • a) Einbeziehung durch das SGB V
  • aa) Der Wortlaut des SGB V
  • bb) Systematische Auslegung
  • cc) Historische Auslegung
  • dd) Teleologische Auslegung
  • ee) Zusammenfassung
  • b) Einbeziehung durch das VVG
  • c) Einbeziehung durch das AMG
  • d) Einbeziehung durch das SGB XI
  • 3. Einbeziehung der Behandlungswünsche der Patienten
  • a) Einbeziehung durch das SGB V
  • b) Einbeziehung durch das VVG
  • c) Einbeziehung durch das AMG
  • d) Einbeziehung durch das SGB XI
  • III. Zusammenfassung
  • Drittes Kapitel: Das Arzthaftungs- und ärztliche Berufsrecht
  • A. Allgemeines
  • B. Ausgewählte Grundzüge des Arzthaftungsrechts
  • I. Pflichten des Arztes
  • 1. Der ärztliche Sorgfaltsmaßstab
  • 2. Der Behandlungsfehler
  • a) Allgemeines
  • b) Der medizinische Standardbegriff
  • c) Der Befunderhebungs- und Befundsicherungsfehler
  • 3. Der Aufklärungsfehler
  • a) Allgemeines
  • b) Selbstbestimmungsaufklärung
  • aa) Diagnoseaufklärung
  • bb) Verlaufsaufklärung
  • cc) Risikoaufklärung
  • II. Die Beweislast im Arzthaftungsprozess
  • 1. Allgemeine Beweislastverteilung
  • a) Die Beweislast für einen Behandlungsfehler
  • b) Die Beweislast für einen Aufklärungsfehler
  • 2. Beweiserleichterungen im Arzthaftungsprozess
  • 3. Der grobe Behandlungsfehler
  • III. Zusammenfassung
  • C. Grundzüge des ärztlichen Berufsrechts
  • I. Allgemeines
  • II. Die Berufspflichten des Arztes
  • III. Das berufsgerichtliche Verfahren
  • IV. Zusammenfassung
  • D. Die EbM im Arzthaftungs- und ärztlichen Berufsrecht
  • I. Allgemeines
  • II. Die normative Ebene der EbM
  • 1. Allgemeines
  • 2. Zuordnungskriterien für Maßnahmenempfehlungen zu einer Erkenntnisquelle
  • a) Zuordnung nach dem Wortlaut
  • aa) Die Bezeichnung einer Behandlungsempfehlung durch die Institutionen
  • bb) Die Bezeichnungen der Erkenntnisquellen als Abgrenzungskriterium
  • cc) Zusammenfassung
  • b) Zuordnung nach dem Maß der Verbindlichkeit
  • aa) Allgemeines
  • bb) Die Verbindlichkeit von Richtlinien
  • (1) Die Richtlinien des GBA
  • (a) Die normative Wirkung der Richtlinien des GBA
  • (b) Verfassungsrechtliche Bedenken
  • (aa) Verstoß gegen den numerus clausus
  • (bb) Verstoß gegen das Demokratieprinzip
  • (cc) Verstoß gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz
  • (dd) Stellungnahme
  • (c) Die Verbindlichkeit von Richtlinien des GBA im Arzthaftungsrecht
  • (d) Die Verbindlichkeit von Richtlinien des GBA im ärztlichen Berufsrecht
  • (2) Die Richtlinien der BÄK
  • cc) Die Verbindlichkeit von Leitlinien
  • (1) Allgemeines
  • (2) Das Evidenzstufensystem der Leitlinien
  • (a) S1-Leitlinien nach der AWMF
  • (b) S2-Leitlinien nach der AWMF
  • (c) S3-Leitlinien nach der AWMF
  • (3) Die Verbindlichkeit von Leitlinien der AWMF im Arzthaftungsrecht
  • (4) Die Verbindlichkeit von Leitlinien der AWMF im ärztlichen Berufsrecht
  • dd) Die Verbindlichkeit von Empfehlungen
  • (1) Die Verbindlichkeit von Empfehlungen im Arzthaftungsrecht
  • (2) Die Verbindlichkeit von Empfehlungen im ärztlichen Berufsrecht
  • c) Zusammenfassung
  • III. Die methodische Ebene der EbM
  • 1. Allgemeines
  • 2. Richtlinien im methodischen Verfahren der EbM
  • a) Die Richtlinien des GBA
  • b) Die Richtlinien der BÄK
  • 3. Leitlinien im methodischen Verfahren der EbM
  • a) Allgemeines
  • b) Die unterschiedlichen Leitlinientypen
  • aa) Versorgungsleitlinien
  • bb) Behandlungsleitlinien
  • (1) Diagnostische Leitlinien
  • (2) Therapeutische Leitlinien
  • cc) Zusammenfassung
  • c) Das Verhältnis zwischen dem medizinischen Standard und den Behandlungsleitlinien
  • aa) Allgemeines
  • bb) Die Rechtsprechung
  • cc) Bewertung der bisherigen Rechtsprechung
  • dd) Eigene Bewertung des Verhältnisses zwischen dem medizinischen Standard und den Leitlinien
  • (1) Allgemeines
  • (2) Differenzierung nach Leitlinientypen und erlassender Institution
  • (a) Versorgungsleitlinien und Behandlungsleitlinien
  • (b) Die AWMF als erlassende Institution
  • (3) Differenzierung nach dem Evidenzgrad der Behandlungsleitlinien
  • (4) Das Verhältnis von S3-Leitlinien zum medizinischen Standard
  • (a) Allgemeines
  • (b) Der Einfluss anderer Regelwerke auf das Haftungsrecht
  • (aa) Allgemeines
  • (bb) Das Verhältnis von technischen Regelwerken zum Haftungsrecht
  • (cc) Übertragung der Ergebnisse auf die Leitlinien der AWMF
  • (c) Die Beeinflussung der Aussagekraft von Behandlungsleitlinien durch die Fehleranfälligkeit medizinischer Studien
  • (aa) Die Fehleranfälligkeit medizinischer Studien
  • (bb) Die Auswirkungen der Fehleranfälligkeit medizinischer Studien auf das Entwicklungsverfahren der Behandlungsleitlinien
  • (d) Der Vorwurf der fehlenden Aktualität von Behandlungsleitlinien
  • (aa) Allgemeines
  • (bb) Das Verhältnis zwischen den S3-Leitlinien zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und dem medizinischen Standard
  • (cc) Das Verhältnis älterer S3-Leitlinien zum medizinischen Standard
  • (dd) Zusammenfassung
  • (e) Bewertung der Ergebnisse
  • (5) Das Verhältnis von S2-Leitlinien zum medizinischen Standard
  • (6) Das Verhältnis von S1-Leitlinien zum medizinischen Standard
  • (7) Zusammenfassung
  • 4. Medizinische Empfehlungen im methodischen Verfahren der EbM
  • 5. Studienergebnisse im methodischen Verfahren der EbM
  • 6. Stellungnahme
  • IV. Der Verstoß gegen eine S3-Leitlinie der AWMF als Behandlungsfehler und Berufspflichtverletzung
  • 1. Allgemeines
  • 2. Das Vorliegen eines Behandlungsfehlers beziehungsweise eines groben Behandlungsfehlers durch den Verstoß gegen eine S3-Leitlinie
  • a) S3-Leitlinien als gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen
  • b) Der Verstoß gegen eine S3-Leitlinie als grob fehlerhaftes Verhalten
  • c) Die erhöhte Substantiierungslast des Arztes bei Verstoß gegen eine S3-Leitlinie
  • 3. Das Vorliegen einer Berufspflichtverletzung durch den Verstoß gegen eine S3-Leitlinie
  • 4. Zusammenfassung
  • V. Der Einfluss der EbM auf die ärztliche Aufklärungspflicht
  • 1. Allgemeines
  • 2. Die EbM bei der Bestimmung des Umfangs der Aufklärungspflicht
  • a) Anwendbarkeit von Richtlinien und Leitlinien
  • b) Die Pflicht zur Berücksichtigung von Richtlinien und Leitlinien
  • c) Angaben zu anfallenden Kosten in Richtlinien und Leitlinien
  • 3. Die Evidenzbasierte Aufklärung
  • 4. Zusammenfassung
  • Viertes Kapitel: Der Einfluss der EbM auf die ärztliche Therapiefreiheit
  • A. Allgemeines
  • I. Die ärztliche Therapiefreiheit
  • II. Die Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit
  • B. Die Einschränkung der Therapiefreiheit durch Richtlinien und Leitlinien
  • I. Die Richtlinien des GBA
  • II. Die Richtlinien der BÄK
  • III. Die Leitlinien der AWMF
  • C. Zusammenfassung
  • Fünftes Kapitel: Schlussbetrachtung
  • A. Zusammenfassung der zentralen Untersuchungsergebnisse
  • I. Die EbM im Medizinrecht
  • II. Die EbM im Arzthaftungs- und ärztlichen Berufsrecht
  • III. Der Verstoß gegen eine aktuelle S3-Leitlinie indiziert keinen Behandlungsfehler
  • IV. Die EbM im Rahmen der Aufklärungspflicht des Arztes
  • V. Keine unzulässige Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit
  • B. Ausblick
  • Literaturverzeichnis

Erstes Kapitel: Einführung

A.  Die Behandlungssituation aus Sicht des Arztes

Jeder Arzt sieht sich in der jeweiligen Behandlungssituation mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Aufgaben konfrontiert, bis er zu einer entsprechenden Behandlungsentscheidung gelangt. Der Begriff der Behandlungssituation ist dabei weit zu verstehen. Er umfasst das Stadium der Diagnoseerstellung, den Prozess der Behandlungsentscheidung und die tatsächliche Durchführung der Behandlungsmaßnahme. Ausgangspunkt jeder erfolgreichen Behandlung ist eine Diagnose, die den aktuellen körperlichen Zustand des Patienten widerspiegelt. Nur durch die daraus resultierenden Befunde kann der Arzt diejenigen Maßnahmen einleiten, die dem gewünschten Behandlungsziel dienen.

Sowohl bei der Erstellung einer vorläufigen Diagnose als auch bei der sich daran anschließenden medizinischen Behandlung im engeren Sinne kann ein Arzt aufgrund der Individualität des menschlichen Organismus nur in einem sehr begrenzten Umfang schematisch vorgehen. Hingegen muss er dazu in der Lage sein, auf unvorhersehbare Ereignisse, etwa individuelle Wechselwirkungen des Körpers mit Diagnose- oder Behandlungsmaßnahmen, zu reagieren. Dazu steht ihm eine Vielzahl an unterschiedlichen Handlungsmethoden zu Verfügung, deren Umfang sich durch den stetigen Fortschritt in der Medizin und den damit einhergehenden Erkenntnisgewinn erweitert. Um auf die Individualität des menschlichen Organismus entsprechend reagieren zu können, verfügt der Arzt bei der Auswahl und Durchführung diagnostischer Maßnahmen und Behandlungsmethoden über einen gewissen Handlungsspielraum, die sogenannte Therapiefreiheit.1 Diese Therapiefreiheit erlaubt es dem Arzt grundsätzlich frei darüber entscheiden, ob er die Behandlung eines Patienten übernimmt und welche Maßnahme er anwendet, um zum gewünschten Behandlungsziel zu gelangen.

Der Therapiefreiheit sind jedoch vor allem durch das Medizinrecht Grenzen gesetzt, welches dem Arzt Handlungsvorgaben auferlegt, um dadurch insbesondere die Interessen und Rechtsgüter des Patienten zu schützen. Dieses Schutzes bedarf es, da der Patient in der Regel nicht über die Fachkenntnisse des behandelnden Arztes verfügt und sich insoweit ihm gegenüber in einer unterlegenen ← 13 | 14 → Position befindet. Das Medizinrecht dient somit maßgeblich zur Herstellung eines ausgeglichenen Arzt-Patient-Verhältnisses.

Unterläuft dem Arzt innerhalb der Behandlungssituation ein Fehler, etwa indem er eine falsche Behandlungsentscheidung trifft, läuft er Gefahr, auf berufsrechtlicher und strafrechtlicher Ebene sanktioniert zu werden und sich dem Patienten gegenüber schadensersatzpflichtig zu machen, sofern dieser durch das Verhalten des Arztes eine körperliche oder gesundheitliche Beeinträchtigung erlitten hat. Andererseits kann von einem Arzt nicht verlangt werden, unter allen Umständen eine vollständige Gesundung jedes Patienten zu erreichen. Der Arzt ist somit dazu verpflichtet, den sogenannten medizinischen Standard zu erbringen. Dieser umfasst den Pflichtenkatalog, den der Arzt in der konkreten Behandlungssituation gegenüber dem Patienten erfüllen muss.2 Der medizinische Standard verpflichtet den Arzt, die bestmögliche, allgemein anerkannte Diagnose- oder Behandlungsmaßnahme durchzuführen, die einen optimalen Behandlungserfolg verspricht.

Um zu gewährleisten, dass ein Arzt trotz des stetigen Fortschritts in der Medizin dazu imstande ist, die entsprechende Methode aufzufinden und in der konkreten Behandlungssituation anzuwenden, muss er sich ständig fortbilden.3 Doch selbst bei Ärzten, die der Fortbildungspflicht regelmäßig nachkommen, bleibt wegen der Vielzahl an vorhandenen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten eine erhebliche Unsicherheit bestehen. Hinzu kommt, dass ein Arzt häufig aufgrund der Anzahl seiner Patienten und der Dringlichkeit einer Entscheidung nur über sehr begrenzte zeitliche Ressourcen verfügt, um sich umfassend über einen Krankheitsverlauf zu informieren. Aus diesem Grund hat sich seit den 1970er Jahren an der Medizinischen Fakultät im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der McMaster Universität in Hamilton/Ontario in Kanada eine Disziplin innerhalb der Medizin entwickelt, die dem Arzt ein Verfahren vermitteln soll, mit dessen Hilfe er innerhalb kürzester Zeit zur bestmöglichen Maßnahmenentscheidung gelangt. Diese Disziplin nennt sich Evidenzbasierte Medizin (EbM).4 ← 14 | 15 →

B.  Die Ursprünge der EbM und ihre Verbreitung

I.  Entwicklung aus der Epidemiologie

Die EbM wurzelt im medizinischen Fachbereich der Epidemiologie. Diese beschäftigt sich mit der „Verteilung von Krankheiten, deren Vorstufen und Folgen sowie mit Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen“5. Auf dieser Grundlage leitet die Epidemiologie Maßnahmen zur Krankheitsprävention ab und bewertet deren Wirksamkeit.6

Wichtigstes Werkzeug der Epidemiologie ist die Erfassung und Auswertung statistischer Daten, die im Wesentlichen durch klinische Studien gewonnen werden. Die Wertigkeit dieser Daten hängt von deren Evidenzgrad ab, der sich nach der Qualität des verwendeten Studiendesigns richtet.7 Den höchsten Evidenzgrad und damit die höchste Aussagekraft beinhalten die Daten der randomisiert kontrollierten klinischen Studien.8

Auf dieser Grundlage hat sich unter dem Wegbereiter David Sackett9 und seiner Forschungsgruppe das Basismodell der EbM herausgebildet. Das Modell sollte die praktizierte Epidemiologie dahingehend erweitern, dass nicht nur Aussagen über Krankheitsursachen und daran anschließend Maßnahmen zur Krankheitsprävention getroffen werden können. Sackett et al. wollten dem Arzt in einer konkreten Behandlungssituation ein formalisiertes Verfahren an die Hand geben, mit dessen Hilfe es ihm möglich ist, die bestmögliche Therapiemaßnahme auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse auszuwählen. Nach Sacketts et al. Auffassung sollte dieses Verfahren zu dem Zeitpunkt Anwendung finden, zu dem der Arzt bei Vorliegen einer zunächst abgeschlossenen Diagnose mit der Frage konfrontiert wird, welche Maßnahmen er ergreifen muss, um das ← 15 | 16 → gewünschte Behandlungsziel in Abstimmung mit den Interessen des Patienten zu erreichen.10

II.  Das Basismodell nach Sackett et al.

1.  Erkenntnisse aus der ursprünglichen Definition des Basismodells

Die Grundzüge des Basismodells nach Sackett et al. lassen sich ihrer ursprünglichen Definition der EbM entnehmen: „Evidence based medicine is the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The practice of evidence based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research.”11 Die EbM ist damit der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Deren Anwendung erfolgt durch die Integration individueller klinischer Erfahrung mit der am besten verfügbaren externen klinischen Evidenz aus systematischer Forschung.

Die ursprüngliche Definition gibt Aufschluss sowohl über den eigentlich gedachten Anwendungsbereich der Methode der EbM als auch über die maßgeblichen Erkenntnisquellen, derer sich die EbM bedient, um die bestmögliche Behandlungsmethode zu ermitteln.12 Zum einen findet die EbM demnach zu dem Zeitpunkt Anwendung, zu dem der Arzt eine Entscheidung über die medizinische Versorgung des Patienten treffen muss. Dies ist typischerweise dann der Fall, wenn die zunächst abgeschlossene Diagnose ergibt, dass bei dem Patienten ein behandlungsbedürftiger Gesundheitszustand vorliegt. In dieser Situation muss der Arzt der Frage nachgehen, welche Maßnahmen er zu ergreifen hat, um das gewünschte Behandlungsziel in Absprache mit dem Patienten zu erreichen.13

Zum anderen ist der Definition zu entnehmen, welche Erkenntnisquellen der Arzt in der konkreten Behandlungssituation berücksichtigen sollte, um zu einer umfassenden, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierten Therapieentscheidung zu gelangen. Nach der Auffassung von Sackett et al. handelt es sich dabei im ← 16 | 17 → Wesentlichen um ein Zusammenspiel zwischen der sogenannten externen und der internen Evidenz.14

a) Die externe Evidenz

Der Begriff der externen Evidenz beinhaltet alle Erkenntnisquellen, die außerhalb der Person und damit losgelöst von jeglichem individuellen Einfluss des behandelnden Arztes liegen. Nach dem Basismodell der EbM gehören hierzu insbesondere alle auf wissenschaftlicher Grundlage gewonnenen Erkenntnisse aus klinisch relevanter Forschung, vor allem Grundlagenforschung, aber auch patientenorientierter Forschung.15 Angesprochen ist damit die Einbeziehung medizinischer Studienergebnisse. Allein aus diesen Ergebnissen ergibt sich jedoch noch keine Evidenz. Sie entsteht erst im Verlauf einer oft internationalen Diskussion, z.B. durch Kongresse, Editorials, Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Kommentare und Expertengruppen.16 Auch kann ein Arzt selbstständig Studienergebnisse auswerten, auf deren Grundlage er zu Maßnahmenentscheidungen gelangt. Die Studienergebnisse werden wiedergegeben in der medizinischen Fachliteratur und in den dafür angelegten elektronischen Datenbanken.17

aa) Studien als externe Erkenntnisquelle in der Methodik der EbM

Die externe Evidenz schafft keinen abschließenden Katalog zulässiger Studiendesigns, auf die sich ein Arzt in der konkreten Entscheidungssituation beziehen ← 17 | 18 → kann.18 Vielmehr steht es einem Arzt frei, alle Studien und deren Ergebnisse zu berücksichtigen, die einen Erkenntnisgewinn bezüglich einer konkreten Behandlungssituation liefern und damit das Auffinden einer geeigneten Behandlungsentscheidung fördern können.19 Neben Studien umfasst die externe Evidenz aber auch andere Methoden zur Erkenntnisgewinnung. Besonders das Instrument der Metaanalyse ist in der EbM von Bedeutung. Dabei handelt es sich um eine Methode, welche die Ergebnisse aus verschiedenen Studien systematisch zusammenträgt und anschließend in Verbindung bringt. Dadurch können auch aus kleineren Studien und Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen noch Erkenntnisse gewonnen werden.20

Bezieht sich ein Arzt bei seiner Behandlungsentscheidung auf Studien, muss er berücksichtigen, dass sich die verschiedenen Studiendesigns in ihren Validitätsgraden unterscheiden.21 Der Grund dafür liegt darin, dass sie über unterschiedliche Kontrolldichten bezüglich ungewollter äußerer Einflussfaktoren verfügen, welche die Ergebnisse einer Studie verfälschen können. Daraus ergibt sich ein Rangverhältnis der Studienergebnisse, geordnet nach deren Validitätsgrad.

Bereits die ursprüngliche Definition des Basismodells, nach der die gegenwärtig beste externe, wissenschaftliche Evidenz angewendet werden muss,22 weist darauf hin, dass ein Arzt grundsätzlich diejenigen Studienergebnisse berücksichtigen muss, die den höchsten Validitätsgrad aufweisen. Nur dadurch kann sichergestellt werden, dass die gewählte Behandlungsentscheidung dem aktuellsten Stand medizinischer Wissenschaft am ehesten entspricht. Die Studienergebnisse mit niedrigerem Validitätsgrad werden dadurch zwar nicht automatisch aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen, allerdings sollen diese neben höherrangigen Studienergebnissen nur ergänzend herangezogen werden. Vom höchsten Validitätsgrad sind die Ergebnisse sogenannter randomized-controlled-trials (RCTs).23 Da die Ergebnisse dieses Studiendesigns im Rahmen dieser Arbeit verwendet werden, um den Einfluss der EbM auf das Medizinrecht zu untersuchen, ← 18 | 19 → wird ihr Studienaufbau anschließend erläutert.24 Zu den übrigen Studiendesigns, die in der EbM Beachtung finden, gehören Fall-Kontroll-Studien, Kohortenstudien, nicht-randomisierte Studien, Populationsstudien und Prognosestudien. Die Liste ist nicht abschließend.25 Aufgrund der Entwicklung der EbM aus der Epidemiologie entsprechen sich die Studiendesigns beider Fachrichtungen.

bb) Randomisiert kontrollierte Studien

Die Ergebnisse aus RCTs gelten in allen Fachbereichen der Medizin als diejenigen mit höchster Nachweisdichte und werden darum vielfach auch als sogenannter „Goldstandard“26 bezeichnet. Grund dafür ist ihr Studienaufbau, durch den möglichst umfassend alle äußeren, ungewollten Einflussfaktoren, welche die Studienergebnisse beeinflussen und damit verfälschen können, ausgeschlossen werden.27 Ausgangspunkt jedes RCTs ist die Anlegung mindestens zweier Studiengruppen, einer Behandlungsgruppe und einer Kontrollgruppe.28 Im Gegensatz zur Kontrollgruppe sind die Teilnehmer der Behandlungsgruppe einer zu erforschenden Intervention ausgesetzt, z.B. eines Medikaments in der Erprobungsphase. Die Teilnehmer der Studie werden, nach kritischer Vorauswahl etwa nach Alter, Geschlecht oder Genität, einer der Gruppen zugeordnet. Die Zuteilung erfolgt durch Randomisation, d.h. nach dem Zufallsprinzip, idealerweise durch ein Computerprogramm. Dadurch soll sichergestellt werden, dass weder durch die Befangenheit des Versuchsleiters, noch durch andere unbekannte oder nicht messbare Einflussfaktoren das Studienergebnis verfälscht wird.29 Sofern weder der Versuchsleiter noch die Versuchsperson selbst weiß, welcher Versuchsgruppe sie angehört, spricht man von einer doppel-verblindeten Studie. Weiß hingegen entweder der Versuchsleiter oder die Versuchsperson, welcher Gruppe sie zugeordnet wurde, spricht man von einer einfach-verblindeten Studie.30 ← 19 | 20 →

Nach der Durchführung der Studie werden die Ergebnisse beider Gruppen ausgewertet und miteinander verglichen. Ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen beiden Gruppen, kann auf eine Wirkung der Intervention geschlossen werden.

b)  Die interne Evidenz

Das zweite wichtige Element nach der Definition des Basismodells zur Durchführung der Methodik der EbM ist die Einbeziehung interner Evidenz. Die interne Evidenz meint die individuelle klinische Expertise, d.h. das Können und die Urteilsfähigkeit, die jeder Arzt durch klinische Erfahrung und Praxis erwirbt.31 Die interne Evidenz bezeichnet somit im Wesentlichen das Erfahrungswissen, das sich jeder Arzt in seinem Fachgebiet aneignet.32

c)  Zusammenspiel interner und externer Evidenz in einer Entscheidungssituation

Durch die Unterscheidung nach interner und externer Evidenz sieht sich der Arzt in der jeweiligen Entscheidungssituation mit der Herausforderung konfrontiert, wie er beide Evidenzquellen bei seiner Methodenentscheidung zu gewichten hat. Bereits das Basismodell nach Sackett et al. geht davon aus, dass nur durch das Zusammenspiel beider Evidenztypen valide Aussagen über den Nutzen einer Maßnahme getroffen werden können.33 Ohne die individuelle klinische Expertise sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der externen Evidenz nutzlos, da selbst exzellente Forschungsergebnisse noch der Bewertung und der Übertragung auf die konkrete Behandlungssituation bedürfen. Diese Bewertung und Übertragung ist nur möglich durch den Einsatz individueller medizinischer Erfahrung.

Umgekehrt läuft der Arzt ohne die Einbeziehung externer Erkenntnisse in seine Behandlungsentscheidung Gefahr, dass die ihm bekannten Methoden nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen und dadurch der Patient nicht mehr die bestmögliche medizinische Behandlung erfährt. Beide Evidenztypen bedingen sich somit gegenseitig und nur durch ihr Zusammenspiel ist gewährleistet, dass der Arzt die bestmögliche ← 20 | 21 → Behandlungsmethode im Interesse des Patienten auswählt.34 Ziel des Basismodells der EbM ist es somit nicht, den Arzt von der Berücksichtigung seiner individuellen Expertise zu befreien.35 Vielmehr eröffnet die EbM eine Methode, nach der die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Forschung und das individuelle Erfahrungswissen so miteinander in Verbindung gebracht werden, dass man zu einer Therapieentscheidung gelangt, die dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht.

d)  Konflikt zwischen interner und externer Evidenz

Durch das Zusammenspiel individueller klinischer Expertise und den Erkenntnissen aus der medizinischen Forschung kann der Arzt in die Situation gelangen, in der sein Erfahrungswissen zu einer Therapieentscheidung führt, die den Erkenntnissen und Behandlungsvorgaben der externen Evidenz widerspricht. In dieser Konfliktsituation stellt sich für den Arzt die Frage, welchem Evidenztypus er den Vorrang einräumen muss.

Details

Seiten
209
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653053104
ISBN (ePUB)
9783653969467
ISBN (MOBI)
9783653969450
ISBN (Paperback)
9783631659229
DOI
10.3726/978-3-653-05310-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Medizinrecht Arzthaftungsrecht ärztliches Berufsrecht Patienteninteressen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 209 S.

Biographische Angaben

Max Mommertz (Autor:in)

Max Mommertz, promovierter Jurist, studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zivil- und Zivilprozessrecht der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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