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Strategie Zukunft und Welt

Zur Bedeutung eines ontologischen Begründungskonzeptes nachhaltigen Handelns und Verantwortens

von Johanna Henrich (Autor:in)
©2015 Dissertation 280 Seiten

Zusammenfassung

Der Weg in ein nachhaltiges Ressourcenmanagement ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Diesen trotz gesellschaftlicher Unterschiede, wirtschaftlichen Anspruchs und persönlicher Interessen gangbar zu machen, erfordert eine Begründungsstrategie, die hinter Wirtschaft und Gesellschaft zurückgeht bis an die Wurzel des Menschen. Die «Strategie Zukunft und Welt» findet eine Grundlage dazu in Hans Jonas’ ontologischem Konzept, das im Zentrum seiner Verantwortungsethik steht. Das vorliegende Buch weist seine Leistungsfähigkeit zur Grundlegung einer Ethik für die moderne globalisierte Welt auf, die eine unabweisbare Begründung des Wertes des Lebendigen erbringt und nachhaltiges Handeln zur unbedingten menschlichen Aufgabe erhebt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung und Übersicht über den Untersuchungsgang
  • Zum Anlass dieses Buches
  • Die These des Buches
  • Zum Gang der Argumentation
  • II. Hans Jonas’ Ethikkonzeption und die Theorie der Verantwortung: Zum Verhältnis von Theorie und Praxis
  • Über den Status einer Ethik der Verantwortung
  • Die Krise der Gegenwart
  • Philosophie als Antwort auf die Krise
  • Der Aufruf an die Philosophie – Jonas’ Hintergrund
  • Die Theorie der Verantwortung
  • Die Praxis der Theorie
  • Was heißt Verantwortung?
  • Verantwortung haben oder übernehmen? – Positionen und Probleme in der Verantwortungsfrage
  • Der Verantwortungsbegriff bei Jonas
  • Der Anspruch der Verantwortung vs. Jonas’ Versuch
  • Das Bewusstsein der Verantwortung und seine Folgen
  • Die Methode des Erkennens: Die Heuristik der Furcht
  • Die Folgen: Der Anspruch der Philosophie im Verhältnis zur Naturwissenschaft und ihre daraus resultierenden Chancen
  • Zum Verhältnis von Theorie und Praxis
  • Die Bedeutung der Theorie
  • Chance und Problematik des Primats der Praxis für die Verfassung der Theorie
  • III. Unverzichtbarkeit der ontologischen Fundierung für die Theorie mit Jonas’ Zeugnissen hinsichtlich dessen
  • Der Status der ontologiebedürftigen Ethik
  • Eigenschaften und Problematik einer solchen Ethik
  • Jonas’ Beschreibung des Status einer solchen Ontologie
  • Jonas’ Gang zum Aufbau einer Ethik von der Ontologie her
  • IV. Jonas’ Versuch einer ontologischen Fundierung zwischen der Philosophie des Lebens und der Verantwortung in ihrer Erweiterung um die Wertlehre
  • Der Übergang von der Biophilosophie zur Ethik
  • Die innere Teleologie des Lebendigen: Zum Verständnis des Prinzips Organismus
  • Anthropomorphismus-Vorbehalt: Jonas und die naturwissenschaftliche Methode
  • Die teleonomische Rückzugsposition
  • Jonas, der Reduktionismus und die holistische Theorie
  • Jonas und Kant: Die Unerklärbarkeit des Lebens
  • Die Teleologie von Sein und Welt bei Jonas
  • Die Selbsterfahrung als Schlüsselmoment des Lebensverständnisses
  • Das Sollen im Sein – Die Prämissen der Biophilosophie
  • Jonas’ Bewusstwerdung seiner ontologischen Problematik
  • Jonas’ Ausführung seines ontologischen Konzeptes im vierten Kapitel von Das Prinzip Verantwortung: Nachvollzug, Hinweise auf Schwächen und Interpretationsmöglichkeiten
  • Übersicht über die Struktur von Jonas’ Begründungstext und die Probleme, die sich mit ihr stellen
  • Der Aufbau einer Ontologie, ihre Folgeordnung und ihre Schwächen
  • Jonas’ Absicht – Sein und Sollen
  • Fokussierung: Der Begriff des Seins bei Jonas
  • Das an-sich-Gute im Sein
  • Die Zwecktätigkeit im Sein als grundlegende Dynamik
  • Die Zwecktätigkeit im Sein als maßgebliches Moment der Herleitung eines an-sich-Guten im Sein
  • Fokussierung: Die Schwierigkeit des ontologischen Axioms
  • Für die Erarbeitung der Ontologie essenzieller Problemkreis: Die Selbstbejahung des Seins
  • Jonas’ Prämisse für die Herleitung der Selbstbejahung des Seins
  • Aus welcher Voraussetzung hält er die Selbstbejahung des Seins für begründet?
  • Wie kann man Jonas in Bezug auf die Selbstbejahung des Seins weiterhelfen?
  • Kritikpunkte in Bezug auf den Kontext der Selbstbejahung des Seins
  • Zum Abschluss der Behandlung von Abschnitt IV.3 über die Selbstbejahung des Seins
  • Mannigfaltigkeit und Vervielfältigung der Zweckhaftigkeit im organischen Leben
  • Abschluss der Ontologie und Übergang zum Bereich der Ethik
  • Die Grundlegung aus dem Problem der Ethik, ihre Gründe und Hintergründe in Jonas’ Gedankengang
  • Einstieg in den Bereich der Ethik – Der Aufruf des Seins an den Menschen
  • Der Ort des Sollens
  • Das Wohl des Täters und die Form der Affizierung des Handelnden
  • Essenzieller Gesichtspunkt der Ethik: Die Rolle des Gefühls
  • Die Besonderheit der Verantwortung im Kontext der Ethikgeschichte
  • Fragmentarische Ontologie und Gefühlsevidenz in ihrem Zusammenhang und als Grundlagen einer auf Verantwortung zielenden Ethikbegründung
  • Die Problematik des Primats des Gefühls
  • Ontologie und Ethik – Beurteilung
  • Verantwortung als Grundlage aller Ethik
  • Sein, Wert und Mensch: Theorieverbesserungen und Verwandlung des Seinsbegriffs, unter Berücksichtigung von Motiven, die in Jonas’ Theorie hineinspielen
  • Die ontologische Wertbegründung, Jonas’ Wertverständnis und mögliche Alternativen am Beispiel von Max Schelers Werttheorie
  • Hintergründe und Alternativen der Seinslehre: Heidegger, Platon, Whitehead
  • V. Sein-Leben-Mensch: Ontologie und Anthropologie
  • Anthropologische Ausgangspunkte für die Verfahrensart der Ontologie des Lebens
  • Die Beziehung des Menschen zum Sein
  • Die Rolle des Hüters: Erinnerungen an Heidegger
  • Die Begründung des anthropozentrischen Standpunktes in der Philosophie des Lebens
  • Die Stufen der Freiheit
  • Jenseits des Lebens – die Verwirklichung der Tendenz des Seins im Menschen
  • Worum es geht: Menschenlos und Menschenbild
  • Die Schlüsselbedeutung des Menschenbildes im Kontext der Verantwortungsethik
  • Der Hintergrund des Menschenbildes bei Jonas – Individualethik und Verantwortungsethik
  • Die Bedeutung des Menschenbildes für die Sphäre des Lebendigen
  • Die Rolle des Menschen für Sein, Leben und Verantwortung
  • Der Mensch als „Krone der Schöpfung“
  • Der Mensch als Zwischenstation in der Evolution
  • Die Bedeutung der ontologischen Sichtweise für das menschliche Selbstverständnis
  • VI. Materie, Leben und Geist
  • Zum Verhältnis von Leben und Geist
  • Das Primat des Lebens
  • Sein, Geist und Wertbezug
  • Verantwortung vor etwas – Ontologie oder Theologie als Grundlehre, der Ort Gottes und Jonas’ theologisches Verständnis
  • Die Rolle der Theologie für Jonas’ Ethik
  • (K)Ein Platz für die Theologie in der Ethik für die technologische Gesellschaft
  • Jonas’ jüdischer Hintergrund und sein Verständnis einer „Mission“
  • Wer ist Gott?
  • Erinnerungen an die Gnosis
  • Der Gottesbegriff nach Auschwitz
  • Die Bedeutung des Gottesbegriffes für die Ethik
  • Die Rolle des Menschen für Gott
  • Ontologie als Ethikbegründung und Jonas’ Verzicht auf die Theologie in „Das Prinzip Verantwortung“
  • VII. Abschließendes zur Ontologie, ihrem Status als Wissen und ihrer Verfahrensart
  • VIII. Praktische Anwendungsfelder der Verantwortungsethik: Die Gentechnologie
  • Ethische Fragen in der Gentechnologie
  • Jonas’ Beitrag zur Bewertung der Gentechnologie
  • Positionen, die Jonas entgegenstehen
  • Positionen, die Jonas stützen
  • Eine Beurteilung der Methode der genetischen Rekombinatorik auf der Basis von Jonas’ Ethiktheorie unter besonderer Berücksichtigung seines ontologischen Konzeptes und ein Versuch zum realen Umgang mit den biotechnologischen Möglichkeiten
  • IX. Abschließende Beurteilung von Jonas’ Leistung, den Grenzen seines Werkes, der Aufgaben, die sich an es anschließen
  • Literaturverzeichnis

I.   Einleitung und Übersicht über den Untersuchungsgang

Zum Anlass dieses Buches

Am Anfang dieses Buches stand die Überzeugung, dass die Philosophie dieselbe Pflicht habe, die letztlich auch jeder anderen Wissenschaft zugerechnet wird: Sie soll etwas dazu beitragen, die Verhältnisse außerhalb ihrer selbst zum Besseren zu bringen und damit also dem nachkommen, was von jedem Element einer Gesellschaft verlangt wird: Seinen Teil nicht nur zum eigenen Bestehen, sondern zum Gelingen des Ganzen zu leisten. Dieses Ganze stellt sich nun als die Gesamtheit der Wissenschaften dar und darüber hinaus als das Ganze dessen, was von ihnen beschrieben wird. Philosophie müsse also, pauschal gesagt, etwas zum Gang der Welt als solchem beitragen. Ihre Aufgabe sei, wie bei so vielen anderen Wissenschaften auch, der Fortschritt in einem universalen Sinn des Wortes. Jede Wissenschaft hat die Möglichkeit nicht etwa in einer Dienstleistung, sondern aus ihren eigenen Verfahren und Ergebnissen heraus Fortschritt zu erwirken, muss sich aber auch auf ihre Potentiale besinnen. Für die Philosophie gilt dies kraft ihrer Themen und der ihr aufgegebenen Frage nach dem Ganzen und dem guten Leben auf besondere Weise.

Nun ist Fortschritt im Sinne der Überwindung von Grenzen und der Entfaltung von Fähigkeiten ein Prinzip, wenn nicht gar das Prinzip, welches die heutige Weltgesellschaft prägt und erst möglich gemacht hat. Technologisch, politisch und gesellschaftstheoretisch hat sich die Spezies Mensch in den letzten Jahrhunderten selbst in vieler Hinsicht neu erfunden und beständig als Dagewesenes hin zu Neuem übertreffen wollen und wirklich übertroffen. Der immense Erfolg dieses Fortschrittsgedankens, der sich im Erwerb neuer Fähigkeiten und der Erleichterung des Lebensvollzuges besonders in den westlichen Gesellschaften der Nordhalbkugel zum Ausdruck brachte, führte zu einer Selbstlegitimation solchen Fortschritts an sich. Es liegt in der Natur des Menschen, neue Methoden zu erproben und sie bei Erfolg immer wieder anzuwenden, dabei zu verfeinern und zu erweitern. Dies ist seine Chance, sich trotz körperlicher Nachteile gegenüber Vertretern anderer Spezies zu behaupten. Fortschritt selbst ist aber für den modernen Menschen zur Ausrichtung seiner Handlungsenergie geworden. Das Ausmaß seines Erfolges gibt ihm dabei Recht. Aus eigener Kraft hat er sich die Erde untertan gemacht und man könnte wohl sagen, damit dürfe er zu Recht stolz auf sich sein. ← 11 | 12 →

In den letzten Jahrzehnten jedoch lässt sich eine gegenläufige Entwicklung beobachten. Das Primat des Fortschritts findet sich durch die zunehmende Bewusstwerdung seiner unerwünschten Nebenwirkungen erstmals weithin in Frage gestellt. Es begann mit den Zeichen der Überforderung der Natur, die sich im Waldsterben, der Verschmutzung von Meer und Luft und dem Aussterben von Arten sowie in den Anzeichen der überproportionalen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen etwa durch Rodung, Bergbau und Überfischung bemerkbar machten. Das wachsende Problembewusstsein verband sich bald mit dem Bewusstsein sozialer Probleme im internationalen und globalen Vergleich, wie Lohndumping, Enteignung von Kleingrundbesitzern zu industriellen Produktionszwecken oder extensive Bodennutzung und steigerte sich über die weltweit spürbaren Veränderungen und Katastrophen, deren aktueller Höhepunkt wohl durch die Bedrohungen aufgrund des Klimawandels markiert ist. So werden die politischen Gesellschaften der Erde zunehmend mit Problemen konfrontiert, die ihrem eigenen Fortschrittshandeln entwachsen sind. Heute sieht sich der Mensch in einer Art von Zwickmühle. Tief inhärent ist ihm die Wertschätzung des Fortschritts, der ihm sein heutiges Leben mit all seinen Vorzügen erst möglich gemacht hat und auf den hin ihn wohl sogar seine genetische Disposition nach Jahrzehntausenden Darwin’schen Überlebenskampfes unwiderstehlich hintreibt. Gleichzeitig ist er mit den Folgen dieses Handelns konfrontiert, das ihn letztendlich in seiner Verfassung und seiner Existenz zu gefährden beginnt. Leugnet er diese selbstverschuldete Bedrohung nicht ab, sieht er sich in einem Zweifrontenkrieg um die Fortführung seines Lebens als das Wesen, zu dem er sich selbst gemacht hat und das er bleiben möchte, um seiner selbst willen und gleichzeitig trotz seiner selbst.

Ein Schlüsselbegriff für das Verhältnis, in dem der Mensch zu seinem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Tun in seiner Welt steht, muss „Verantwortung“ sein. Diese zu begreifen und sie in sein Handeln Eingang finden zu lassen ist die Aufgabe des Menschen im Zwielicht der gegenläufigen Tendenzen, welche nun die Moderne bedrängen. Er muss das Ganze seiner Lage und seiner Geschichte innerhalb der Natur, die sich gegen ihn zu wenden beginnt, verstehen und ihr handelnd entsprechen.

Damit wird deutlich was die besondere Möglichkeit der Philosophie in einer solchen Situation ausmacht und wozu sie sich deshalb auch aus ihrem eigenen Wesen heraus verpflichtet wissen muss. Sie kann im Blick auf das Ganze die Verantwortung des Menschen für sich selbst und die von ihm affizierte Welt aus letzten Gründen deutlich werden lassen und für ein Handeln, dem sie sich eingliedert, die Perspektiven und die Horizonte erschließen. Was sie leistet muss ← 12 | 13 → zwar von anderen Disziplinen aufgegriffen und nach ihren jeweiligen Methoden umgesetzt werden, dies aber ist ihre besondere Aufgabe, die nur ihr zufallen kann und muss, da sie von keiner anderen Wissenschaft getragen werden könnte. Gleichzeitig ist es eine Aufgabe, die an Gewicht und Bedeutung kaum zu übertreffen ist. Ihre Last zieht sie ganz in die Handlungswelt der Gegenwart hinein und ist ihr dabei doch eigentlich keineswegs fremd und neu.

Der Philosoph Hans Jonas legte mit seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“1 bereits 1979 einen Versuch zur Erklärung und zur Lösung dieser philosophischen Aufgabe vor. In der beginnenden ökologischen Bewegung ab dem Ende der siebziger Jahre, besonders aber in Deutschland, wurde er zu einer einflussreichen Stimme. Auch in der politischen Arena wurde er gern von ganz unterschiedlichen Parteien jeweils für sich in Anspruch genommen. Seine Position ist noch heute in der zukunftsethischen Diskussion der Industriestaaten von Wichtigkeit. Er wird auch in der Philosophie weiterhin diskutiert2. Das heißt aber nicht, dass in diesen Debatten die Position von Hans Jonas in ihrem ganzen Umfang und in der Notwendigkeit der Verbindung ihrer Begründungsteile miteinander deutlich genug in den Blick gebracht worden ist.

Jonas, als deutsch geborener und schon 1933 nach Palästina in die Emigration gezwungener Jude, hatte zunächst eine von seinen Lehrern Bultmann und Heidegger als bedeutend angesehene Untersuchung über die historische Gestalt der Gnosis begonnen. Er wollte zeigen, wie sich in dieser spätantiken Lebenslehre eine Form ursprünglicher Daseinserfahrung des Menschen ausbildet und der griechischen Welterfahrung entgegenstellt. Später gelangte er zu der Einsicht, dass er in dieser historischen Gestalt zugleich die Grundzüge der Geschichtsbefangenheit und des kosmischen Nihilismus der Existenzphilosophie mit ihrem Bewusstsein, in einer fremden und feindseligen Welt leben zu müssen, aufgedeckt habe.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab Jonas, möglicherweise auch motiviert durch die Position Heideggers im nationalsozialistischen Regime, die Beschäftigung mit der Gnosis zu Gunsten eines neuen Interessenbereiches auf, von dem er dachte, dass er von dem, was ihn zuvor beschäftigt hatte, verdrängt und ihm geradewegs entgegengesetzt sei: Eine Philosophie des organischen Lebens im Rahmen einer Theorie der Natur. Nachdem er sich zunächst durch die Lektüre verschiedener Schriften und durch einen Briefwechsel mit seiner Frau Lore in ← 13 | 14 → das Thema „Leben“ einarbeitete, entwarf Jonas einen philosophischen Ansatz zu diesem Thema, in dem er den Menschen als mit Freiheit und Geist begabt als Teil einer sich selbst bejahenden und dynamischen Natur beschrieb, in der er sich nicht fremd, sondern aufgehoben und beheimatet fühlen kann. Dass der Mensch in der Natur zu Hause ist und sich positiv zu ihr verhalten kann und muss, ist für Jonas bis zum Ende eine grundlegende Lebenshaltung gewesen. Erwägt man seinen Hintergrund im deutschen Nationalsozialismus, die Ermordung seiner Mutter in Auschwitz und die langjährige heftige Ablehnung, die er während der Jahre des Nazi-Regimes bis weit in die Nachkriegsjahre Deutschland entgegenbrachte, so ist dies umso beachtenswerter.

Seine Arbeit zu dieser philosophischen Interpretation der von der biologischen Wissenschaft erforschten Prozesse des Lebens und der Rolle des Menschen in dem Ganzen der belebten Natur stellt (auch nach seiner eigenen Ansicht) Jonas’ Hauptwerk dar3. Sie führte ihn bereits zu einer Betrachtung der Stellung des Menschen zum Weltganzen, an die er im Kontext der politischen Bewegungen der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinem „Entwurf einer Ethik für die technologische Zivilisation“4 anschließen konnte. Mit ihm fand er schließlich weit mehr Beachtung, als seine Biophilosophie jemals auf sich zog. Jonas bemühte sich um eine Zukunftsethik, die sowohl universell überzeugen, als auch argumentativ schlüssig begründet sein sollte. Sie war zudem mit dem hohen Anspruch verbunden, eine Ehrfurcht vor dem Leben stützen zu können, die Jonas selbst empfand und die Verhaltensweisen begründen sollte, die sich durch Verzicht, Demut und Selbstbegrenzung des Menschen zu Gunsten der ihm anvertrauten lebendigen Welt auszeichnen. Dabei basieren alle Aussagen auch dazu auf seiner Philosophie des Organischen, die den Menschen immer als lebendiges, wachsendes und sterbliches Wesen begreift, das sich mit Hilfe seiner Anlagen zu seiner Umwelt verhalten muss, um sich am Leben zu erhalten. Wie diese Selbstbewahrung in einer Situation des Überbordens menschlicher Handlungsmacht und, daraus resultierend, in einer Situation der Krise und Selbstbedrohung noch gelingen kann, ist die Frage, die am Anfang von Jonas’ Ethik steht.

Diese Krise ist auch heute, fast vierzig Jahre später, die Lebenserfahrung des Menschen in der Moderne. Einen Umgang mit ihr und einen Weg aus ihr zu finden, ohne sein Selbstverständnis und seine Auffassung von einem lebenswerten Leben aufgeben zu müssen, bleibt Aufgabe des Menschen in dieser von ihm ← 14 | 15 → selbst ausgestalteten und doch nicht beherrschten und beherrschbaren Welt. Neben der Intensität seines Appells an die Menschen und an ihre politischen Repräsentanten brachten Jonas die praktischen Konsequenzen seiner Ethik, die er in „Das Prinzip Verantwortung“ skizzierte, die meiste öffentliche Aufmerksamkeit ein. Von ihnen gingen auch die meisten Anregungen für die nachfolgenden Diskussionen aus.

Dabei wird das, was seine Ethik stark macht und sie aus dem Kreis der zukunftsethischen Beiträge gerade durch ihren philosophischen Weitblick heraushebt, leicht ganz übersehen. Jonas hat es als notwendig angesehen, bei der Begründung seiner Ethik letztlich auf eine Ontologie zu rekurrieren und er sah darüber hinaus, dass er sich nicht der Aufgabe würde entziehen können, diese Ontologie selbst zu entwerfen. „Ontologie“ ist im modernen philosophischen Bewusstsein kein besonders vielversprechender Disziplinname, am allerwenigsten im Zusammenhang mit der Ethik. Jonas aber sah, dass die Bindung der Ethik an eine Ontologie doch für den Anspruch, den diese Ethik an sich selbst stellen muss, sinnvoll und unabweisbar ist. Noch bevor auf Jonas’ Begründung dafür eingegangen wird, lässt sich schon das Folgende absehen: Indem Jonas den Wert, den er nicht nur im menschlichen, sondern überhaupt allem Leben lokalisiert, zwar durch die Natur hindurch dem Menschen vermittelt sieht, ihn aber in einem letzten Grund von allem und insbesondere der Natur, den er „Sein“ nennt, verankern kann, gewinnt dieser Wert eine Festigkeit und Unumgänglichkeit, die im Angesicht der Schwierigkeiten, die auf die Ethik in ihrer praktischen Umsetzung eindringen, von großer Bedeutung sind. Indem Jonas eine solche Begründung gelingt, was im Folgenden zu zeigen sein wird, hebt er sein ethisches Begründungskonzept über andere hinaus und lässt es zuallererst für ein Handeln überzeugend werden, das keiner Frage ausweicht und das doch die in der Krise notwendige Entschlossenheit nicht verliert.

Ich werde im Folgenden darlegen, dass es für Jonas’ Position charakteristisch ist, die Evidenz unbedingter Geltung von Werten als durch ein Verstehen der Natur vermittelt zu sehen. Aber Jonas sieht zugleich auch, dass es nicht ausreichen kann, zur Herleitung eines verpflichtenden und unbedingten sittlichen Wertes auf die Natur allein Bezug zu nehmen. Dazu wird ein Prinzip benötigt, von dem her sich Wert als solcher begreifen lässt. Daraus ergibt sich, dass der Naturlehre eine Seinslehre vorgeordnet werden muss. Man kann das Sollen, eben deshalb weil es Unbedingtheit einschließt, nicht allein von der Natur her begründen, auch wenn Jonas die Natur im Zentrum seiner Argumentation halten will. Darum muss er ein Sein zum Thema machen, durch das die Natur bedingt und von dem her sie allererst selbst verständlich ist. Die Herleitung der sittlichen ← 15 | 16 → Imperative aus dem Sein läuft über die Natur, nicht aus der Natur selbst und aus ihr allein heraus. Es soll gezeigt werden, dass Jonas die Idee der Natur in seiner Philosophie des Lebens reformierte, in der Natur aber der Mensch auch als sittliches Wesen in seiner Verpflichtung verstanden werden muss. Dies aber ist nur möglich ist, wenn der Grundgedanke in einer Ontologie fundiert und gestützt wird. Die Vollendung von Jonas’ Gesamtkonzept ist die durch diese Ontologie begründete Ethik. Er hat sie zwar verhältnismäßig spät und erst in „Das Prinzip Verantwortung“ ausformuliert, aber sie ist es, die seiner gesamten Konzeption Halt gibt. Sie umspannt seine Bio- und Verantwortungsethik und schweißt sie mit seiner Lebensphilosophie zu einem Gesamtgefüge zusammen. Erst aufgrund der es fundierenden Seinslehre gewinnt dies Gefüge eine wirklich universale und eine hinreichend tief angelegte Aussagekraft, sodass man zur Orientierung in der heutigen verantwortungsethischen Diskussion noch immer auf es rekurrieren kann und es zumindest als Muster für das gelten lassen sollte, was von einer solchen Orientierung zu verlangen ist. Eben das ist der Anlass für die folgende Untersuchung, die sich auf den Schlüsselgedanken von Jonas’ Werk in seiner Beziehung auf die Grundlage einer Ethik für die technologische Zivilisation konzentriert.

Man könnte nun gegen die Motivation einer Abhandlung zu einem umweltethischen Thema, wie es die Ethik von Jonas darstellt, argumentieren, dass ein Aufruf zum Schutz der Grundlagen des Lebens und zur Begründung eines Bedarfs nach nachhaltigen Produktionsmethoden heute nicht mehr notwendig ist. Man wisse all diese Dinge schon. Es gehe vielmehr darum, eben diese Methoden faktisch zu entwickeln, ohne darüber ein Mindestmaß eines angemessenen Lebensstandards der Menschen aufgeben zu müssen. Solche Aufgaben fielen eher den Disziplinen der Technologieentwicklung und Ingenieurskunst zu.

Dass diese Einstellung faktisch nicht begründet ist, zeigt nun aber schon ein Blick auf die aktuelle globale Klimapolitik. An ihr wird ersichtlich, dass die Begründungen der Argumente für Umweltschutz und Nachhaltigkeit heute noch immer nicht stark genug sind, um Fortschritts- und Profitgedanken entgegengehalten werden zu können. Die Ratifikation des Kyoto-Protokolls durch die Vereinigten Staaten steht bis heute aus. Noch immer und trotz schwerwiegender Beweislast ist der Mensch als Ursache des bereits im Gange befindlichen Klimawandels nicht einhellig anerkannt. Solange die Durchsetzung weitreichender und auch unbequemer Methoden zur Bekämpfung der Selbstbedrohung des Menschen nicht gelingt, muss an den Begründungswegen zu einem solchen Handeln gearbeitet werden – und sei es nur, um die moralische Energie derer zu stützen, die dem Menschen die Pflicht verdeutlichen und auferlegen müssen, ← 16 | 17 → in der er sich eigentlich schon längst befindet. Seine Verantwortung muss eine solche sein, der er sich nicht mit scheinbar zutreffenden, entlastenden Argumenten entziehen kann. Auch das gehört zu den Voraussetzungen dafür, dass man hoffen kann, die Aufgabe, die dem Menschen durch die Krise seiner Zivilisation auferlegt ist, könne doch wirklich noch gelöst werden. So kommt also der Fragestellung nach der Grundlegung einer solchen Handlungsorientierung heute unverändert große Bedeutung zu. Sie veranlasst uns dazu, über jede Form von praktischem Diskurs hinaus die Fundamente des Daseins des Menschen auf Erden zu bedenken, um etwas Wesentliches dazu beizutragen, ihm einen gangbaren Weg in seine Zukunft zu eröffnen.

Die These des Buches

Die Ontologiekonzeption, welche Hans Jonas innerhalb seines Werkes „Das Prinzip Verantwortung“ verhältnismäßig knapp, fast nur als eine Skizze der letzten Begründung der von ihm entwickelten Konzeption, umreißt, stellt, trotz ihrer unprominenten Positionierung im Werkskörper, eine Passage dar, welche für das Ganze entscheidende Bedeutung hat und die notwendige Voraussetzung für die Konstitution der Ethik ist. Als Bindeglied in der Theoriegenese zwischen Hans Jonas’ vorangegangener Herausarbeitung seiner Lebensphilosophie und seiner später entwickelten Verantwortungsethik ist sie auch entwicklungsgeschichtlich die Brücke zwischen den beiden Themenfeldern. Mit ihr denkt und fragt Jonas auch hinter die Sphäre des Lebendigen zurück und nimmt die Fäden seiner frühen philosophischen Studien wieder auf, indem er das Leben in den Horizont des „Seins“ als dessen Manifestation einbegreift.

Details

Seiten
280
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054903
ISBN (ePUB)
9783653972283
ISBN (MOBI)
9783653972276
ISBN (Hardcover)
9783631659984
DOI
10.3726/978-3-653-05490-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Verantwortungsethik Nachhaltigkeit Wirtschaftsethik Umweltethik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 280 S.

Biographische Angaben

Johanna Henrich (Autor:in)

Johanna Henrich promovierte in Philosophie und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ihre Arbeiten befassen sich mit den Themenbereichen Nachhaltigkeit, Wirtschaftsethik und dem Verhältnis des Menschen zum ökologischen System.

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Titel: Strategie Zukunft und Welt
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