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Carl Stangen – Tourismuspionier und Schriftsteller

Der deutsche Thomas Cook

von Alina Dittmann (Autor:in)
©2017 Monographie 515 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch betrachtet das Lebenswerk des Reiseagenten und Schriftstellers Carl Stangen und seinen Beitrag zur Geschichte des Fremdenverkehrs und der Reiseliteratur. «Carl Stangen’s Reise-Bureau», oft als das «erste deutsche Reisebüro» bezeichnet, trug zur Fundierung von Gesellschaftsreisen und Sonderfahrten bei und beeinflusste das Reiseverhalten der Europäer ähnlich wie die Tätigkeit von Thomas Cook, John und William Galignani sowie Karl Baedeker. Die Autorin untersucht die Anfänge der Tourismusgeschichte und analysiert die Ursachen des Umbruchs vom traditionellen zum modernen Reisen vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-politischen und technologischen Prozesse der Gründerzeit und der Epoche des Wilhelminismus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung. Zum Thema und Forschungsstand
  • 1. Carl Stangen als Forschungsgegenstand
  • 2. Zur Geschichte des Tourismus
  • 3. Reiseliteratur der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • 3.1 Reisebericht
  • 3.2 Reisehandbuch und Reiseführer
  • II. Als die Welt noch nicht im Zeichen des Verkehrs stand: Vom Postillion zum modernen Tourismus
  • 1. Das moderne Reisen
  • 2. Stangens große Zeitgenossen
  • 2.1 John A. Galignani und William Galignani
  • 2.2 Thomas Cook
  • 2.3 Karl Baedeker
  • 3. Die Situation im Deutschen Reich 1871–1918
  • III. Carl Stangen – Leben und Werk
  • 1. Jugend in Schlesien
  • 1.1 Herkunft und Schulzeit – Husaren-Ethos und preußische Militärerziehung
  • 1.2 Im Dienste des Verkehrs – ländliche Idylle und berufliche Stabilität
  • 1.3 Carl und Louis Stangen – geteilte Faszinationen
  • 2. Aufbruch nach Berlin und wirtschaftlicher Erfolg
  • 2.1 Vom Familienunternehmen zum Potentaten der Verkehrsbranche
  • 2.1.1 Sonderfahrten
  • 2.1.2 Der Krieg gegen Frankreich
  • 2.1.3 Die Friedensjahre
  • 2.1.4 Die weitere Entwicklung
  • 2.1.5 Weltausstellungen
  • 2.1.6 Die Internationale Gewerbeausstellung in Berlin 1896
  • 2.1.7 Die Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals
  • 2.1.8 Die Gesellschaftsreisen
  • 2.1.9 Überfahrt-Angebote für Auswanderer in die USA
  • 2.1.10 Das 25-jährige Jubiläum und die Folgejahre
  • 2.1.11 Die Jahrhundertwende
  • 2.2 Die Nachfolger
  • 2.3 Die Welt aus eigener Anschauung kennen lernen
  • 2.3.1 Orient-Reisen und Orientmode
  • 2.3.1.1 Orientalismus
  • 2.3.1.2 Reise des Kaiserpaares nach Jerusalem
  • 2.3.2 Reisen um die Erde
  • 2.4 Kosmopolit und Patriot – Lebensabend in Berlin-Lichterfelde
  • 3. Literarische Ambitionen
  • 3.1 Publikationen Carl Stangens
  • 3.1.1 Heute nicht mehr erhaltene/zugängliche Publikationen
  • 3.1.2 Schlesische Regionalitäten
  • 3.1.2.1 Rübezahl als Pate. Ein neues Märchen
  • 3.1.2.2 Lyrische Texte mit Schlesienbezug
  • 3.1.3 Patriotische Gedichte und Lieder
  • 3.1.4 Lyrische Texte aus dem Band Aus allen Welten. Reise-Erlebnisse
  • 3.1.5 Gesammelte Novellen
  • 3.1.6 Erzählerische Reiseprosa, kurze Reiseskizzen
  • 3.1.7 Reisehandbücher und Reiseführer
  • 3.1.7.1 Reiseführer
  • 3.1.7.2 Reisehandbücher
  • 3.1.8 Programme von Sonderfahrten und Jahresprogramme
  • 3.1.9 Kunstalbum: A. Wanjura / C. Stangen: Aus der Mappe eines Weltbummlers
  • 3.2 Publikationen im Auftrag des Carl Stangen’s Reise-Bureaus
  • 3.3 Jubiläumsbroschüren des Carl Stangen’s Reise-Bureau’s
  • 3.4 Zeitschriften
  • 3.5 Publikationen der Familienmitglieder
  • 3.5.1 Louis Stangen
  • 3.5.2 Ernst Stangen
  • 3.5.3 Hugo Stangen
  • 3.5.4 Ernst Stangen
  • 3.6 Völker und Individuen – Menschenbilder in Carl Stangens Texten
  • 3.6.1 Fremdwahrnehmung im 19. Jahrhundert
  • 3.6.2 Völkerbilder in den Texten Carl Stangens
  • 3.6.2.1 Die Nubier unterhalb des 3. Nilkataraktes bei Assuan
  • 3.6.2.2 Die Orientalen
  • Araber
  • Beduinen
  • Türken
  • Drusen
  • 3.6.2.3 Amerikaner
  • Weiße Amerikaner
  • Indianer
  • 3.6.2.4 Japaner
  • 3.6.2.5 Chinesen
  • 3.6.3 Persönlichkeiten in Carl Stangens Texten
  • 3.6.3.1 Der armenische Patriarch in Jerusalem
  • 3.6.3.2 Eine Audienz bei Pius IX
  • 3.6.3.3 Beim Maharadscha von Dschahore
  • 3.6.3.4 Der Mormonen-Apostel
  • 3.6.4 Frauenbilder
  • 3.6.4.1 Der ägyptische Bauchtanz
  • 3.6.4.2 Der Harem
  • 3.6.5 Die deutsche Reisegesellschaft
  • 3.6.6 Selbstbild
  • 3.7 Illustrationen in Veröffentlichungen Carl Stangens
  • IV. Rezeption des Schaffens und Wirkens von Carl Stangen
  • 1. Biographie C. Stangens von Alexander Reuther
  • 2. Reiseprosa, Belletristik, Satire
  • 2.1 Julius Stinde: Frau Buchholz im Orient 1888
  • 2.2 Karl May versus moderner Tourismus
  • 2.3 Weitere Reiseprosa-Beispiele und unveröffentlichte Erinnerungen
  • 2.4 Presse und Satire
  • 3. Operette
  • 4. Bildende Kunst
  • 4.1 Aus der Mappe eines Weltbummlers. Ethnographische Genrebilder
  • 5. Jubiläumsband Von Nah und Fern, 1903
  • 6. Ausstellungen
  • 7. Erinnerungsorte
  • 8. Besonderheiten
  • Schlusswort
  • Bibliographie
  • A. Literatur Carl Stangens und seiner Familienmitglieder
  • Texte Carl Stangens
  • Publikationen Carl Stangen’s Reisebureaus
  • Texte der Familienmitglieder
  • B. Quellen
  • C. Forschungsliteratur (Auswahl)
  • D. Presseartikel
  • E. Internetartikel
  • F. Primärtexte anderer Autoren
  • G. Abbildungsverzeichnis
  • H. Abbildungsverzeichnis für die Illustrationen im Anhang
  • Anhang
  • A. Tabellarischer Lebenslauf
  • B. Abbildungen
  • Reihenübersicht

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I. Einleitung. Zum Thema und Forschungsstand

Im Jahr 2018 jährt sich die Gründung des Carl Stangen’s Reise-Bureaus in Berlin zum 150. Mal - eine Gelegenheit an die Leistungen seines Inhabers, Carl Friedrich Stangen (1833–1911) zu erinnern. Die vorliegende Monographie ist der Person dieses deutschen Reiseunternehmers und Schriftstellers gewidmet. Sie ist, neben der aus dem Jahr 1908 stammenden Biografie von Alexander Reuther, die erste umfangreiche Erfassung des Lebenswerks Carl Stangens. Das Wirken dieses mit Recht so bezeichneten ‚deutschen Tourismuspioniers‘ auf dem Gebiet des Reiseverkehrs, der Kultur und Literatur soll im Folgenden auf dem Hintergrund der politisch-wirtschaftlichen Prozesse in Preußen und dem deutschen Kaiserreich analysiert werden.

Heute findet Carl Stangen nur noch in wissenschaftlichen Abhandlungen zur Tourismusgeschichte Erwähnung, zu seinen Lebzeiten jedoch war er eine Ikone des deutschen Fernverkehrs. Als vielfach interessierter und mannigfaltig beschäftigter Mann war Stangen ein herausragender Schlesier, Berliner und Kosmopolit. Seine literarischen Ambitionen der Jugendjahre und der Wille nach Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben mussten jedoch nach seinem Umzug aus Schlesien nach Berlin schon recht früh der Beschäftigung mit dem Aufbau des Familienunternehmens Platz machen, auch wenn er niemals die Feder völlig niederlegte.

Der Erfolg von Carl Stangen’s Reise-Bureau resultierte in fast vierzig dynamischen Arbeitsjahren, in denen sein Inhaber nicht einfach nur nach der Vergrößerung des Familienvermögens strebte, sondern im Grunde seiner Leidenschaft für die Erkundung der Welt nachging. Mehr noch – er bemühte sich nach bestem Wissen und Gewissen, die Freude am Reisen mit seinen Mitmenschen zu teilen, ihnen ein authentisches Bild fremder Länder zu präsentieren und den Austausch mit der einheimischen Bevölkerung der bereisten Landstriche zu ermöglichen. Erstrangig waren für Stangen dabei stets die Sicherheit, der Komfort und das Vergnügen seiner Kunden. Aber nicht nur ferne Reiseziele standen auf dem Programm der Agentur, auch Sonderfahrten und Exkursionen in den deutschsprachigen Ländern wurden angeboten, nicht zuletzt in das von Carl Stangen sehr geschätzte Riesengebirge. Obwohl seine Agentur schnell wuchs und bald mehrere Mitarbeiter zählte, führte er zahlreiche Reisen persönlich durch. Sorgfalt und Zuverlässigkeit einerseits, aber auch sein Mut zum Risiko sowie Kreativität und Kontaktfreudigkeit andererseits, erlaubten es Stangen, in eine neue Dimension vorzustoßen: er formte einen vertrauenswürdigen Familienbetrieb mit einem sehr persönlichen Kundenservice, der zugleich weltweit agierte und das Reisen der deutschen Eliten revolutionierte. Die aufwändig vorbereiteten Gesellschaftsreisen, die von Carl Stangen’s Reise-Bureau angeboten wurden, stellten ein neues und rasch begehrtes Produkt dar.

Es ist nachvollziehbar, dass die literarische Betätigung Stangens infolge seiner intensiven beruflichen Arbeit, des sehr breiten Bekanntenkreises und regen ← 13 | 14 → Briefwechsels sowie der großen Familie leiden musste. Nichtsdestotrotz versuchte er, seine zweite Leidenschaft – das Schreiben – nicht gänzlich zu vernachlässigen. Einige seiner literarischen Werke haben sich bis heute erhalten, darunter Novellen, Reiseberichte, lyrische Texte und natürlich Reisehandbücher und Reiseführer. Sie überzeugen durch ihre Authentizität und ungekünstelte, direkte Darstellungsweise.

Als Untersuchungsgegenstand kultur- und literaturgeschichtlicher Studien soll das Schaffen Carl Stangens auf dem Hintergrund der bisherigen Forschung zur Tourismusgeschichte, insbesondere der Anfänge des modernen Reiseverkehrs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dargestellt werden; sein kleiner, aber wirkungsvoller Beitrag zur Geschichte der Reiseliteratur wird im Kontext der bestehenden Studien zur Reiseliteratur der 60er–90er Jahre des 19. Jahrhunderts gewürdigt. Da Stangen als symptomatisches Beispiel für wirtschaftlich-gesellschaftlichen Erfolg seiner Zeit gelten kann, wird im Folgenden auch auf die Bismarck-Ära und die wilhelminische Zeit kurz eingegangen. Diese tourismus- und literaturgeschichtliche Kontextualisierung bildet den ersten Teil der Veröffentlichung. Sie erlaubt es dem Leser, Carls Stangens Schaffen auf dem Hintergrund der Möglichkeiten zu verstehen, welche die Reichsgründung und die mit ihr verbundenen Entwicklungen boten.

Im zweiten Teil des Buches werden die schlesischen Jahre, die Berliner Erfolge auf dem Gebiet des Tourismus und die literarischen Werke Stangens besprochen. Die breite Resonanz, auf die seine Tätigkeit stieß, ist Thema des abschließenden Kapitels.

Es ist zu betonen, dass Carl Stangen in den Anfangsjahren seines literarischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirkens sehr stark von seinem älteren Bruder inspiriert wurde. Der früh verstorbene Louis Stangen (1828–1876) war mindestens genauso interessant und talentiert wie sein jüngerer Bruder. Auch er betätigte sich literarisch, zugleich hatte er einen ausgeprägten marktwirtschaftlichen Sinn. Nicht zuletzt stammte die Idee der Gründung eines Reisebüros von Louis Stangen und wurde zuerst von ihm umgesetzt.

1. Carl Stangen als Forschungsgegenstand

Obwohl es heute der Brite Thomas Cook ist, der im öffentlichen Gedächtnis als Vorreiter des organisierten Tourismus fungiert, gebührt auch seinem jüngeren Kollegen Carl Stangen, der den Tourismus auf deutschem Boden revolutionierte, Aufmerksamkeit als Forschungsgegenstand.

Der Name Carl (Karl)1 Stangen wurde in den Jahren 1870–1905 zum Markenzeichen und Stangen selbst zu einer Tourismus-Ikone des wilhelminischen Zeitalters. ← 14 | 15 → Den britischen Reiseangeboten ist Carl Stangen dabei in vieler Hinsicht sogar vorangegangen. So wurden z. B. erst durch seine Initiative Gesellschaftsreisen nach Palästina, Syrien und in den Libanon durchgeführt. Als Unternehmer bemühte sich Stangen mit zahlreichen Veröffentlichungen um Marktpräsenz. So erschien im Januar 1900 eine von der Familie Stangen und den Mitarbeitern der Firma verfasste Ausarbeitung über die gesamte bisherige Tätigkeit des Reisebüros.2

Von den frühen, noch zu Lebzeiten Stangens erschienenen Veröffentlichungen der Sekundärliteratur ist an erster Stelle eine im Jahr 1908 von Alexander Reuther in Charlottenburg veröffentlichte Biographie zu nennen.3 Anlässlich des 75. Geburtstages Stangens berichtet Reuther über die Veröffentlichungen in den „vornehmsten deutschen Zeitungen“, die des Jubilars gedachten, und geht auf die wichtigsten Begebenheiten seiner Biographie ein. Der Biograph stand als Sohn eines Schulfreundes Stangens in Kontakt mit dem Senior der Unternehmer-Familie und präsentiert in seinem Buch einige heute nicht mehr bekannte Fakten aus dem Leben Carl Stangens sowie eine Auswahl seiner lyrischen Texte, die als verschollen gelten.

Franz Brümmer würdigt Stangens Tätigkeit anlässlich des 100. Jahrestages seiner Geburt mit einem Eintrag in dem Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (1913) und lobt „das weltbekannte ‚Karl Stangensche Reißebureau‘ (…) das bis zum Schluß des Jahres 1902 (…) 883 Gesellschaftsreißen mit zusammen 18 617 Personen unternommen [hat].“4 Mehrere dieser Reisen würden von Carl Stangen in selbständigen Werken beschrieben, von denen Brümmer auch die meisten erwähnt. Das Jahr 1905 wird als Jubiläumsjahr der 50-jährigen Dienstzeit im Verkehrswesen erinnert und als das Verkaufsjahr der Firma an die Hamburg-Amerika-Linie. Die Jahre 1896–1905 kennzeichnete dagegen u. a. Stangens Arbeit als Redakteur von Carl Stangen’s Verkehrs-Zeitung.5

Als Paul Kutzer 1928 seine Monographie der Stadt Ziegenhals6 in Oberschlesien verfasste, waren ihm die Gestalt und der Name Carl Stangens mehr als geläufig. Die Erinnerung an den in dieser Stadt geborenen Reisepionier war dort zu diesem ← 15 | 16 → Zeitpunkt immer noch wach. Kutzer platziert Stangens Biogramm in dem Kapitel „Berühmte Ziegenhalser – Schriftsteller, Dichter und Gelehrte“ und widmet ihm im Unterschied zu zahlreichen anderen verdienstvollen Ziegenhalsern ganze zwei Seiten. Er bezeichnet das Carl Stangen’s Reise-Bureau als „ein kaufmännisches Unternehmen ersten Ranges mit Weltruf“, das „dem allgemeinen Reiseverkehr außerordentlich förderlich“ war, und erwähnt die „große Verehrung“, die Stangen „im ganzen deutschen Reich“ entgegengebracht wurde.7 Obwohl Stangens Reisebüro seit dem Verkauf im Jahre 1905 nicht mehr seinen Namen trug und er selbst 1911 verstarb, scheint die Erinnerung an ihn Ende der 20er Jahre noch lebendig gewesen zu sein. Auch im Waldenburger Gebirge, wo Carl Stangen in den 1860er Jahren als Leiter der Postfiliale in Tannenberg tätig war, veröffentlichte das Neue Tageblatt im Jahre 1930, einen Artikel über ihn, in dem vor allem an seine literarischen Texte erinnert wurde.8

Nach 1945 trugen einige ungünstige Faktoren dazu bei, dass der Name und die Errungenschaften Carl Stangens in Vergessenheit gerieten. Der verschollene Nachlass und der fehlende Nachdruck seiner Veröffentlichungen erschwerten sehr die Aufarbeitung seines Schaffens. Auch die noch schwache Erforschung der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts und die labile Position der Disziplin „Tourismusgeschichte“ in Deutschland hatten eine Vernachlässigung seiner Person zur Folge. Damit ist wohl auch zu erklären, dass die zu Stangens Lebzeiten und bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland und außerhalb des Landes gepflegte Erinnerung an ihn in den Veröffentlichungen der Nachkriegsjahre aus dem Bereich der Tourismusgeschichte auf einzelne Vermerke schrumpft. U.a. erinnert Hans Magnus Enzensberger in seinem bekannten Essay Vergebliche Brandung der Ferne: Eine Theorie des Tourismus9 von 1958 an den ‚deutschen Thomas Cook‘. Dennoch wird er auch heute noch in Untersuchungen zur Geschichte des Tourismus wenigstens hin und wieder erwähnt und als Protagonist des organisierten Reisens stets genannt.10 So findet Carl Stangen auch Eingang in das Oberschlesische Literatur-Lexikon von Franz Heiduk.11 ← 16 | 17 →

Etwas ausführlicher wird Stangens Leistung durch Hasso Spode kommentiert, der ihn als einen der ersten deutschen Reisepioniere in eine Reihe mit Johannes Rominger aus Stuttgart (gegr. 1842) und Karl Riesel aus Berlin (gegr. 1854) stellt.12 Besonders vorbildhaft waren die von Carl Stangen organisierten Fernreisen; seine Agentur wird auf Grund ihrer Professionalität als das erste wahre deutsche Reisebüro bezeichnet. Spode skizziert und kontextualisiert die Firmengeschichte wie folgt:

Die erste Gesellschaftsreise nach Palästina organisierte er [Stangen] bereits ein Jahr nach der Firmengründung; 1878 leitete er die erste Weltreise. (…) In Deutschland (…) stieg Stangen zum führenden Reisebüro auf. 1905 wurde es an die Reederei Hapag verkauft, wo es zunächst als eigenständiger Betriebsteil fortgeführt wurde. Noch im selben Jahr gründete der Konkurrent Norddeutscher Lloyd zusammen mit Cook in Berlin das Weltreisebüro Union. Denn als die Auswanderertransporte zurückgingen, stiegen auch die kapitalkräftigen Reedereien ins Tourismusgeschäft ein.13

Im Jahr 1970 widmete die Zeitschrift ‚Kurz und Gut‘ den Brüdern Stangen einen größeren Artikel, in dem ihr Einsatz für die Erschließung moderner Reisemöglichkeiten geschildert wurde. Diese Veröffentlichung sollte bis 2014 die umfangreichste bleiben, die nach dem zweiten Weltkrieg der stangenschen Agentur gewidmet wurde.14

Mitte der 90er Jahre präsentierte das Leipziger Leibniz-Institut für Länderkunde in der Ausstellung ‚Mit „Stangen’s Party“ unterwegs. Eine Fotoreise durch die USA im Jahre 1893 – auf der Saale in die Neue Welt‘15, exemplarisch als eine von der Agentur organisierte Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Ausstellung wurde außer in Leipzig (1994) noch an mehreren anderen Orten gezeigt, u.a. 2007 in Bremerhaven und 2014 zum ersten Mal in Stangens schlesischer Heimat, an der Staatlichen Hochschule in Neisse/Nysa.

Unter den neueren Veröffentlichungen, die Stangens Tätigkeit zumindest beiläufig anschneiden, kann u. a. die von G. Riederer und J. Schuster besorgte Edition ← 17 | 18 → der Tagebücher von Harry Graf Kessler (2004) genannt werden.16 Die Herausgeber bezeichnen die von ‚Carl Stangen’s Reise-Bureau‘ um die Jahreswende 1878/79 veranstaltete Weltreise in ihren Erläuterungen als „die erste tatsächliche Weltreise“ und verweisen auch auf den literarischen Reisebericht, den Stangen über seine Erlebnisse verfasst hatte (Eine Reise um die Erde 1880, Leipzig). Zudem werden Berichte und Feuilletons erwähnt, die über frühere Reiseveranstaltungen der Agentur Auskunft geben. Erste neuere umfangreiche Darstellungen zu Werk und Vita Stangens erschienen im Newsletter des Deutschen Kulturforums östliches Europa17 (2014) und im ‚Neisser Heimatblatt‘18 (2014). Auch zu den Reiseberichten Carl und Ernst Stangens über Nordamerikas Naturparks ist ein größerer Artikel veröffentlicht worden.19

Als die jüngste, sehr gut recherchierte Publikation ist der Band von Isolde Lehnert Zur Kur an den Nil: die Ägyptenreise von Max und Otto Meyerhof im Winter 1900/01 (2017/2018 im Druck) zu nennen, der in der Reihe des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo „Menschen – Reisen – Forschungen: Wissenschaftsgeschichte aus Ägypten“ erscheint.20 Die Autorin widmet darin der Tätigkeit Carl Stangens und seines Neffen Hugo Stangens ein separates Kapitel.

Warum ist eine Monographie über Carl Stangen auch heute noch von Interesse?

Sein Name stand gut fünfzig Jahre lang21 für eine Weltmarke der Tourismusbranche, ein Zeitraum, in dem seine Tätigkeit als Reiseagent auch in der bildenden Kunst und der Literatur rezipiert wurde. Dieser Rezeption ist speziell der vierte Teil der vorliegenden Publikation gewidmet.

Carl Stangens eigenes literarisches Werk wird ausführlich im Kapitel III.3 analysiert. Natürlich ist Stangen primär als deutscher Pionier des organisierten Reisens in die Zeitgeschichte eingegangen, seine literarischen Texte spielten bei weitem ← 18 | 19 → nicht eine so bedeutende Rolle und sind in Konsequenz in Vergessenheit geraten. Sie verdienen aber eine Aufarbeitung, nicht zuletzt, um das Bild dieses vorwiegend als Tourismusunternehmer bekannten Geschäftsmannes abzurunden. Unter seinen Publikationen finden sich dabei nicht nur Reiseberichte und Reiseführer - von denen viele Texte Züge ästhetischer Literatur tragen - sondern auch interessante Novellen und patriotische Gedichte.

Das Schaffen Carl Stangens, seines Sohnes und teilweise auch seines Bruders Louis Stangen wird hier primär anhand von Veröffentlichungen der genannten Personen bzw. der Reiseprogramme und Jubiläumsbroschüren von Carl Stangen’s Reise-Bureau analysiert. Das so definierte Textkorpus umfasst vorwiegend Reiseberichte, Reiseführer und Reiseprogramme, aber auch Novellen, Prosatexte, die an der Schwelle zur fiktionalen Literatur stehen, und lyrische Texte.

Bei der Auswertung der sich mit der Thematik des Reiseverkehrs befassenden Primärtexte wird ein besonderes Augenmerk auf Fragen der interkulturellen Wahrnehmung und des Kulturtransfers gerichtet. Dabei liegt der Fokus auf postkolonialen Fragestellungen unter Nutzung hermeneutischer Verfahren. Dieses Vorgehen erscheint insbesondere für Stangens Reiseberichte begründet, da die Reiseliteraturforschung bzw. Untersuchungen literarischer Zeugnisse des deutschen Tourismus in neueren Studien vornehmlich aus dem Blickwinkel postkolonial-diskurskritischer und hermeneutisch fundierter Analysen betrieben werden.22 Neuere literaturkritische postkoloniale Ansätze plädieren im Übrigen für eine Anwendung des Forschungsparadigmas in Bezug auf Strukturen der Ungleichheit und Hierarchisierung auch auf die deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts insgesamt, sind doch kolonialistische Muster als ein selbstverständliches Phänomen unterschwellig auch in Texten von T. Fontane, W. Raabe, J. von Eichendorff, A. Stifter oder T. Storm als ein Bestandteil der Modulierung der Welt nachzuweisen.23

Untersucht werden ferner auch inhaltliche und textlich-formale Komponenten der Primärtexte und zentrale Muster, nach denen sie verfasst wurden, das heißt, nach denen das Darstellungswürdige ausgewählt und geschildert wurde. Ästhetisch-stilistische Merkmale der Texte Stangens werden ebenfalls einer Analyse unterzogen. ← 19 | 20 →

Weitere Texte sind Quellen in Form von Dokumenten, die vom Berliner Landesarchiv bezogen wurden. Es sind u. a. Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin betreffend Mitglieder der Familie Stangen, Auszeichnungen und Orden, die ihnen verliehen wurden.

Die in die Darstellung einbezogene Literatur über Carl Stangen aus den Jahren 1870–1930, besteht dagegen aus Erinnerungen seiner Zeitgenossen, Jubiläumslyrik und Einträgen in einem Gedenkalbum, aus Pressenotizen sowie Vermerken in Lexika und Bibliographien.

2. Zur Geschichte des Tourismus

Die Position der Tourismusgeschichte als wissenschaftliche Disziplin ist erstaunlicherweise nicht so souverän, wie die Bedeutung des Phänomens ‚Tourismus‘ vermuten ließe.24

Auffallend ist zunächst, dass es eine autonome Studienrichtung „Tourismusgeschichte“ in Deutschland schlicht nicht gibt. Es existiert auch nur ein einziges historisches Archiv zum Tourismus.25 Julia Gebauer (2008) betont in ihrer Studie zur Entstehung des Tourismus, dass die Geschichtswissenschaften den Aufschwung des Tourismus im 18. und 19. Jahrhundert bisher unbeachtet gelassen haben und eine tiefergehende, flächendeckende Darstellung der Entstehung und Entwicklung des organisierten Reiseverkehrs, die sich auf Quellen stützen würde, komplett fehle.26 Dabei stellen gerade die zahlreichen Reiseberichte des 18. und 19. Jahrhunderts ein hervorragendes Forschungsmaterial dar, obgleich die Vielfalt verschiedener Formen und Inhalte der Reisebeschreibungen eine Analyse zugleich auch erschwert.27 Ein weiteres aufschlussreiches Genre neben dem Reisebericht bilden die Reiseführer, ← 20 | 21 → jedoch wurde eine umfassende Untersuchung dieser Textsorte bisher ebenfalls nicht unternommen. Wie Ulrike Pretzel und Benedikt Bock feststellen, wird in neueren Studien allerdings immer wieder die Bedeutung einer wissenschaftlichen Auswertung der Gattung Reiseführer betont.28 Bereits 1987 war von Wilhelm Reulecke29 die fehlende Erforschung der Geschichte des Tourismus bemängelt worden – an der Situation hat sich seither kaum etwas geändert. So beklagt Matthias Frese noch 2015 einen Mangel aussagekräftiger Beiträge:

Allgemein krankt die historische Tourismusforschung an Studien, die sich mit der Herausbildung und Entwicklung von Angeboten und mit der Wahrnehmung dieser Angebote, mit Reiseveranstaltern und Reisenden, den Veränderungen von Horizonten und Erfahrungen der Reisenden beschäftigen. (…) Jenseits der Festschriftenliteratur fehlen im Bereich der Wirtschaftsgeschichte Studien zu Reiseunternehmen und Reiseveranstaltern, sowohl zu bekannten Unternehmen wie Neckermann, Tigges, Scharnow, TUI, als auch beispielhaft für eines der vielen kleinen kommerziellen Reiseanbieter oder der Reisebüros.30

Zwar hat das individuelle Reisen des Bürgertums von der frühen Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wachsende Beachtung in der Geschichtswissenschaft gefunden, jedoch hat sich die Geschichte des Massenreisens im Industriezeitalter – besonders ab der Mitte des 19. Jahrhunderts – noch nicht als Forschungsfeld etabliert. Eine bedeutende, wenn auch leider singuläre Publikation in diesem Bereich stellt die Untersuchung von Karin Hlavin-Schultze dar,31 die eine Typologie der Reiseformen im Wandel der Zeit präsentiert und eine kulturwissenschaftliche Analyse von Briefen, Tagebüchern und Reiseberichten vornimmt. Eine ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung des Reiseverkehrs ist bei Heinz G. Vester oder Hasso Spode zu finden.32 ← 21 | 22 →

Prof. Hasso Spode versucht seit mehreren Jahrzehnten, der Tourismusgeschichte die ihr gebührende Beachtung zu verschaffen. 1993 bezeichnete er die historische Tourismusforschung als eine junge und noch nicht konsolidierte Disziplin, ein Urteil, dem zumindest in Bezug auf die Etablierung des Faches immer noch zugestimmt werden muss.33 Das seit 1997 unter seiner Federführung als Herausgeber erscheinende Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung Voyage34 gewährleistet mittlerweile die Publikation zahlreicher sozial- und kulturwissenschaftlicher Zugänge zu Mobilität und Reisen.

Die neueren historischen Untersuchungen zum Tourismus konzentrieren sich schwerpunktmäßig auf das 20. Jahrhundert. Sie beschäftigen sich somit fast gar nicht mit der Entstehung des Fremdenverkehrs, sondern vielmehr mit seinen modernsten Entwicklungen. Benedikt Bock bezeichnet für das 18. und 19. Jahrhundert nur Teilaspekte der Tourismusgeschichte als untersucht, so. z. B. die Kavalierstouren, die Entwicklung der Verkehrsmittel oder die Entstehung des Schweizer Alpentourismus.35 Während der moderne Tourismus in der historischen Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert in den Worten Rüdiger Hachtmanns „ein marginales Dasein fristet“, ist der Prototourismus36 (Pilgerreise37, Grand Tour38 oder die frühbürgerliche ← 22 | 23 → Bildungsreise39) sehr intensiv erforscht worden.40 Hachtmann liefert in seiner wichtigen Studie Tourismus-Geschichte (2007) einen Überblick über die Genese und die zentralen Aspekte der Geschichte des modernen Tourismus. Dabei konzentriert er sich auf den deutschen Raum, betont jedoch, dass die Wiege des neuzeitlichen Reiseverkehrs in Großbritannien steht.

Für die theoretische Fundierung der Tourismusforschung sind zweifellos auch die Veröffentlichungen von Hans Magnus Enzensberger von zentraler Bedeutung, insbesondere seine kapitalismuskritische Theorie des Tourismus von 1958.41

Benedikt Bock (2010) macht unter Berufung auf Untersuchungen von Thilo Nowack (2006) in der Komplexität des Gegenstandes Tourismus eine Ursache für dessen schwache wissenschaftliche Erforschung aus. Zwar beschäftigen sich viele wissenschaftliche Disziplinen mit dem Phänomen Tourismus, jedoch kann keine von ihnen einen „expliziten Zuständigkeitsanspruch“ erheben. Dies erschwert die Begründung eines eigenständigen Fachbereichs der ‚Tourismuswissenschaft‘.42 Rüdiger Hachtmann bemängelt den Umgang mit dem Themenbereich ‚Geschichte des Tourismus‘, es fehle ein eigenständiger konzeptioneller und methodologischer Zugang zum Gegenstand.43 Eine der neuesten Studien stellt Walter Freyers Tourismus (2015) dar, der u. a. den Übergang vom Reisen zum Tourismus und die Boomfaktoren des Reisens bespricht.44

Staatliche Erhebungen zum Fremden- und Reiseverkehr setzten in Deutschland relativ spät ein. Auch dies wirkte sich auf ein verzögertes Interesse an einer tourismusgeschichtlichen Forschung aus. Mit der statistischen Erfassung von für den ← 23 | 24 → Tourismus bedeutenden Daten, wie z. B. Übernachtungs- und Besucherzahlen, wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert nach und nach begonnen: „‚Tourismus‘ oder in der deutschen Bezeichnung ‚Fremdenverkehr‘ lag im 19. Jahrhundert noch nicht im heutigen Maß im Fokus staatlichen Interesses.“45 Erst seit Mitte der 1930er Jahre sind systematische Erhebungen zum Fremdenverkehr zu verzeichnen. Rüdiger Hachtmann hebt zwar die Existenz zahlreicher Quellen zur Erforschung des Tourismus hervor, betont aber zugleich ihre diffuse Natur und bezeichnet die Tourismusforschung als „eines der am meisten vernachlässigten Felder der deutschen Geschichtswissenschaft“.46

3. Reiseliteratur der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Robert Prutz setzte bereits 1847 durch sein Essay „Über Reisen und Reiseliteratur von Deutschen“ die Weichen für die Erforschung der deutschsprachigen Reiseliteratur. Er legte den Zeitpunkt der Literarisierung des Reiseberichts auf das Jahr 1768 fest und brachte den Beginn einer narrativen, ästhetischen Reisebeschreibung mit dem Erscheinungsjahr der deutschen Übersetzung von Sternes Sentimental Journey in Verbindung. Sein Interesse galt auch den Reisen Johann Wolfgangs von Goethe und dessen Italienischer Reise.47 Georg Forsters ethnologisch-literarischer Bericht A Voyage Round the World in His Britannic Majesty’s Sloop Resolution48 wurde in seiner deutschen Version in den deutschsprachigen Staaten stark rezipiert und half den literarischen Reisebericht als das beliebteste Genre innerhalb der deutschen Literatur zu begründen. Der subjektive Reisebericht ersetzte am Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach die bis dahin von Teilnehmern von Expeditionen und Forschungsreisen verfassten wissenschaftlichen Reisebeschreibungen. Der individuelle, subjektiv gefärbte Reisebericht wurde zu einer der beliebtesten literarischen Formen der Aufklärung.49

Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur etablierte sich zudem rasch eine Plattform für den Vertrieb von Reiselektüre, da die Erschließung Europas durch die Eisenbahn nicht nur Reiseunternehmern, sondern auch Buchhändlern und Verlegern neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnete. Spezielle Buchreihen (sogenannte Reise- und Eisenbahnbibliotheken) kamen auf den Markt. Zu erwähnen sind hier z. B. die Reisebibliothek für Eisenbahnen und Dampfschiffe ← 24 | 25 → des Verlages Friedrich Arnold Brockhaus, die Einsenbahnbeschreibungen über die durchreisten Regionen publizierte. In den Reihen der Reisebibliotheken erschienen auch Geschichten, Essays, Reisebeschreibungen, technikhistorische Abhandlungen, z. B. über die Entwicklung des Telegrafen und der Dampfkraft, Heftromane und Groschenhefte, aber auch Abdrucke von Werken renommierter Autoren wie Walter Scott, James Fenimore Cooper oder James Grant sowie Kriminalgeschichten, die im Eisenbahnabteil spielten. In Deutschland war bereits Mitte der 50er Jahre die Serie: Humoristische Eisenbahn- und Reisebibliothek des Verlags A. Hoffmann & Campe populär und in den 90er Jahren etwa die Unterhaltungs- Bibliothek für Reise und Haus des Verlagshauses Hermann Castenoble aus Jena. Das Lesen auf Reisen förderten nicht zuletzt Bibliotheken auf Ozeanschiffen, die neben Büchern auch Bordzeitungen anboten.50

Die der Gattung ‚Reiseliteratur‘ angehörenden Reiseberichte und Reiseführer dienten der Information der Reisenden sowie der Reiseplanung.51

Manfred Link teilt die Reiseliteratur ein in:

1. Reiseführer und Reisehandbücher (Literatur zur Vorbereitung auf das Reisen)

2. Wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Reiseschriften (mit Informationen über kulturelle, politische, soziale und geologische Besonderheiten der Reiseländer)

3. Reisetagebücher, Reiseberichte, Reisebeschreibungen, Reiseschilderungen und Reiseerzählungen (die auf authentischen, subjektiven Erlebnissen basieren)

4. Reisenovellen und Reiseromane (die erlebte oder fiktive Reisen als Motiv beinhalten).52

Nach Ulli Kutter werden noch bis zum 19. Jahrhundert folgende Arten der Reiseliteratur unterschieden:

Im 16. und 17. Jahrhundert: Die apodemische Literatur in Latein. Diese Publikationen bildeten einen Teil der gelehrten Literatur mit philosophisch-moralischen Inhalten über die Theorie des Reisens. Unter traditioneller Apodemik (gr. „auf Reisen sein“) versteht man also reisetheoretische Literatur.53

Im 18. Jahrhundert lassen sich Reisehandbücher mit inhaltlichem Schwerpunkt unterscheiden. Es handelt sich teilweise bereits um eine „angewandte“ Apodemik und nicht ← 25 | 26 → mehr um die reine „Theorie der Kunst des Reisens“. Den Inhalt bilden hier Hinweise auf Sehenswürdigkeiten und die Routenplanung.54

In der deutschen Literaturwissenschaft lassen sich zwei unterschiedliche Annäherungen beobachten, die den Versuch einer Definition der „Reiseliteratur“ unternehmen:

Zunächst ist das Bemühen zu beobachten, die Reiseliteratur in den Literaturkanon aufzunehmen, indem sie nach dem Aspekt der Fiktionalität entsprechend der traditionellen Gattungspoetik typisierend untergliedert wird. Die Kritik an diesem Vorgehen führte zum Versuch, auf das Denken von Gattungsbegriffen zu verzichten, um den Bezug zwischen der Textkonstitution und den Funktionen der Reise herzustellen. Dabei werden die Eigenheiten dieser Literatur betont und jeder Vergleich mit der herkömmlichen Gattungspoetik vermieden. (…) Zunächst richtete sich das Forscherinteresse auf die fiktionalen Reisen in der Reiseliteratur, jedoch kam es in den letzten Jahren durch die Erweiterung des Literaturbegriffs auch zu einer zunehmenden Beachtung des Reiseberichts. Als Gründe für die späte Entdeckung dieser Gattung in der Literaturwissenschaft sind zum einen die eminente Quellenfülle, zum anderen die langjährige Ausklammerung zweckliterarischer Formen aus dem Kanon der literaturwissenschaftlichen Forschung zu nennen.55

Wie wurde das Fremde wahrgenommen, erfasst und in den Texten der Reiseliteratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert festgehalten, belegt eine Fülle von Reiseberichten. Viele von Ihnen wurden von den wissenschaftlichen Klassifizierungsmethoden wie das Vermessen und Einordnen in Kategorien und Gattungen quantifizierend bearbeitet. Tanja Hemme nennt in ihrer Publikation über die Fremdwahrnehmung in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts die Darstellungsmethoden der Reisenden dieser Zeit. „Nicht nur Flora und Fauna wurden systematisiert, sondern auch die Völker der Welt. Die Menschen wurden aus diesem Grund in unterschiedliche evolutionistische Stufen eingeteilt, an deren Spitze der weiße Europäer stand.“56 Darauf folgten homogenisierende Prozesse des Fremden in der Reiseliteratur und dessen Simplifizierung und Exotisierung. Der Exotismus der Fremden verhindert ihre objektive Erkenntnis, „weil er eingefahrene Stereotypisierungen nur wiederholt und ← 26 | 27 → damit eine ‚exotische Scheinwelt‘ aufbaut.“57 Gerade die Methoden völkerkundlicher Studien des 18. und 19. Jahrhunderte beruhten auf „europäisch determinierten Bestimmungskategorien und Koordinaten (…), so daß die Reisenden selbst in einem akademischen System gefangen waren, das ihnen kaum Spielraum ließ.“58

Dabei wurde bis etwa 1900 noch nicht darauf hingewiesen, dass sich das Fremde den naturwissenschaftlichen Methoden oft entzieht. Der Glaube an ein komplettes Verstehen fremder Kulturen war im 19. Jahrhundert auf dem Höhepunkt, wie Hemme schreibt. Da dabei die eigenen kulturellen Werte des Betrachters als Maßstab dienten, werden als Methode für die Studien der Reiseliteratur des 19. Jh.s die „Bloßlegung und kritische Aufarbeitung des Vorurteils bzw. der von der eigenen Kultur auferlegten Erwartungen (…) [vorgeschlagen], denn nur auf diesem Weg läßt sich zu einer Einsicht gelangen, auf welche Weise und (…) aus welchem Grund, das Fremde so aufgenommen wird, wie es aufgenommen wird.“59 Die Werkzeuge der interkulturellen skeptischen Hermeneutik nach Hans Hunfeld (u.a. Normalität des Fremden und Grenzen des Fremdverstehens) oder Peter J. Brenner60, erweisen sich hier heute als Instrumente hilfreich.

Im Folgenden wird das Augenmerk vornehmlich auf die drei Genres Reisebericht, Reisehandbuch und Reiseführer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerichtet, weil Carl Stangens Texte vor allem diese Gattungen repräsentieren. Teilweise ist bei seinen Veröffentlichungen im Übrigen auch eine Vermischung der Gattungsmerkmale dieser drei Genres zu konstatieren.

3.1 Reisebericht

Die Frage nach der Gattungsdefinition dominiert immer wieder die philologische Analyse des Reiseberichts, wie Thorsten Fritzon betont. Tatsächlich ist die Frage nach den Gattungsmerkmalen dieses Genres noch nicht in befriedigender Weise beantwortet worden;61 der „Versuch, die Vielzahl heterogener Reiseberichte durch ein Modell der Skalierung zu ordnen und anhand poetischer, meistens aus der Erzähltheorie gewonnener Kriterien in eine Hierarchie wertvoller und weniger wertvoller ← 27 | 28 → Texte für die Literaturwissenschaft zu beschreiben“62, kann jedenfalls nicht ausreichend sein, zumal sich Reiseberichte auch noch oft durch ein Mischverhältnis der Gattungsmerkmale auszeichnen, wie Martin Link feststellt. Auch Segeberg schlägt vor, sich von der Unterscheidung zwischen dem künstlerisch minderwertigen, objektiven Reisebericht und dem subjektiven, klassischen Reisebericht zu lösen.63 Die Charakteristik der Reiseberichte soll jenseits aller formalen Gattungsmerkmale gesucht werden, weil die Qualitäten dieser Literatur auf der inhaltlichen Seite liegen (u. a. die Schilderung eines Erkenntnisprozesses). Definitionskriterien sollten daher nicht nur im Reisebericht selbst, sondern in seinen Verwendungszusammenhängen gesucht werden. Außerdem sollte der Text nach seiner rhetorischen Wirkungsabsicht befragt werden. Ein solcher erweiterte Literaturbegriff ist auch nach Wolfgang Neuber bei der Analyse des Reiseberichts angebracht:

Der Reisebericht wird demnach als rhetorisch geformter Text gelesen, dessen Wirkungsabsicht es ist, Authentizität zu fingieren (…). Entscheidend ist, dass die rhetorische Gestaltung des Textes einen Erzähler konstruiert, der als authentisch wahrnehmendes Subjekt der Reise hervortritt. Gleichviel ob dies implizit durch einen Ich-Erzähler innerhalb des Textes geschieht oder ob paratextuelle Angaben des Titelblatts oder Vorworts den Schluss nahe legen, dass Erzähler und Reisender identisch sind, grenzen diese Merkmale den Reisebericht hinreichend ebenso von der wissenschaftlichen Prosa wie von der fiktionalen Reiseliteratur ab.64

Eine der zentralen Funktionen des Reiseberichts ist nach Christiane Schulzki-Haddouti die Vermittlung einer authentischen Fremdwahrnehmung, die an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist. Dabei können die Reiseberichte der Selbstreflexion oder einer positivistischen Datenerhebung dienen.65 ← 28 | 29 →

Schlosser sieht in dem Reisebereicht das Reisen definiert als Muster der Welterschließung und der Persönlichkeitsbildung. Im Zuge eines Erfahrungs- und Gestaltungsprozesses bedingen sich das Reisen und das Schreiben gegenseitig.66

Trotz der oben geschilderten Abwendung von einer gattungstypologischen Deutung der Reiseliteratur soll auf einige der häufig innerhalb des Genres Reisebericht auftretenden Mittel und Strategien hingewiesen werden. Es sind u. a. eine anschauliche Ausdrucksweise und der Erfahrungscharakter der Anschauung. In späteren Reiseberichten des 19. Jahrhunderts erscheinen auch Fiktionalisierungsstrategien wie der Dialog in absentia (ein fiktives Gespräch). Auch subjektive Reiseberichte sind letztlich nichts anderes als eine literarische Konstruktion der Wahrnehmung des Reisenden.

Bereits im 18. Jahrhundert verband sich das Reisen eng mit der Tätigkeit des Schreibens. „Wer auf sich hielt, verfasste einen Reisebericht“, schreibt Gabriel M. Knoll in der Kulturgeschichte des Reisens.67 Es existierten Handreichungen, wie eine Reisebeschreibung zu verfassen sei, die wiederum die Reise selbst beeinflussten. Eine Errungenschaft, die Reisenotizen ermöglichen half, war die sog. ‚englische Brieftasche‘. In diese notierte man „zunächst vor Ort, meist mit Bleistift, die wichtigsten Beobachtungen (…). Der Wunsch nach einer möglichst zur Wahrnehmung synchron verlaufenden Niederschrift, die frei von der Selektion des Gedächtnisses wäre, führte dazu, dass die Fertigkeit, Simultanmitschriften direkt in der Rocktasche anzufertigen, besonders geschätzt wurde.“68 Weitere Erfindungen waren Füllfederhalter und Portefeuille, das auch im Dunkeln leserlich beschrieben werden konnte. Aufzeichnungen vor Ort wurden in Abkürzungsschrift vorgenommen.69 War der Tag zu Ende, wurden die Notate aus der englischen Brieftasche oder von der Schreibtafel sowie Exzerpte aus dem Reisehandbuch gesichtet, das Wertvollste wurde in das Reisejournal übernommen.70

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Phänomene „Reise“ und ihre „Niederschrift“ untrennbar miteinander verflochten. Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts beteuerten die Unmittelbarkeit der Aufzeichnung, erhoben dabei aber keinen Anspruch auf eine objektive Wiedergabe, sondern strebten nach dem Eindruck einer ← 29 | 30 → „unverfälscht subjektiven Erfahrung“71 und naiver Ursprünglichkeit. Ziel war die Vermittlung eines authentischen Gefühls. Somit löste sich um 1800 der Reisebericht von seiner früheren Funktion, Nachrichten zu beglaubigen, stattdessen wurden Empfindungen wichtig. Die Reiseliteratur der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhundert bildet mit dieser Verschiebung einen Teil der besonders in Deutschland aufblühenden ‚Memoirenliteratur‘.72

Der Subjektivismus wurde nicht zuletzt durch die Sentimental Journey von Laurence Sterne befeuert, die auch die deutsche Literatur der Empfindsamkeit stark beeinflusste.73

Auch um die Mitte des 19. Jahrhundert war die Reiseliteratur noch vornehmlich von dem Modell subjektiver Glaubwürdigkeit und Unmittelbarkeit dominiert. Die Flüchtigkeit des Augenblicks sollte in den Reisebeschreibungen rhetorisch eingefangen werden und entsprechend auf den Leser wirken. Merkmale der Reiseprosa dieser Zeit waren u. a. Rechtfertigungstopoi in der Einleitung zum Buch, Hinweise auf eine kunstlose Darstellung und auf die Unzulänglichkeit des Werkes, die Fiktion eines unbearbeiteten und fragmentarischen Textes ohne Anspruch auf Vollständigkeit sowie die Manifestation eines rein subjektiven Interesses an den besuchten Orten. Die genannten Strategien sollten den Eindruck von Authentizität erwecken und die Tatsache bestätigen, dass die Reise wirklich stattgefunden hatte. Somit waren diese Elemente des Textes Teil eines verfestigten rhetorischen Repertoires. Sie zielten nicht nur darauf „(…) den Stil zu entschuldigen, sondern in eine Bescheidenheitsformel eingekleidet, mit der Subjektivität der unmittelbar vor Ort entstandenen Notate zu werben“.74

Details

Seiten
515
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631702666
ISBN (PDF)
9783653056136
ISBN (MOBI)
9783631702673
ISBN (Hardcover)
9783631661208
DOI
10.3726/b11427
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Tourismusgeschichte Das erste Reisebüro Reiseliteratur Schlesische Schriftsteller Gesellschaftsreisen Fremdenverkehr
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 515 S., 39 s/w Abb., 2 farb. Abb.

Biographische Angaben

Alina Dittmann (Autor:in)

Alina Dittmann ist Germanistikdozentin und Übersetzerin. Ihr Interesse gilt den Bereichen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik, Kultur- und Literaturgeschichte Schlesiens, Reiseliteratur und Geschichte des Tourismus, Didaktik der deutschen Sprache, sowie der Mehrsprachigkeitsforschung.

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Titel: Carl Stangen – Tourismuspionier und Schriftsteller
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