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Ästhetik des Geschlechts

Prousts "À la rechreche du temps perdu" zwischen Genealogie und Anti-Genealogie

von Guido Goerlitz (Autor:in)
©2015 Dissertation 322 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor widmet sich Marcel Prousts berühmten Hauptwerk À la recherche du temps perdu im Hinblick auf das Thema der Genealogie. Diese ist im Buch als Frage nach dem Geschlecht im mehrfachen Wortsinne von Abstammung, Vererbung und Sexualität/Fortpflanzung auf allen Ebenen präsent. Der Roman wird rhythmisiert vom Begehren einer idealen genealogischen Ordnung und dem Wunsch, aus eben dieser auszubrechen, künstlerische Fluchtlinien zu schlagen. Goerlitz analysiert die zentralen Personenkreise und ihre komplexen Beziehungen zum Ich-Erzähler. Er geht den Auswirkungen der genealogischen Problematik auf Prousts Poetologie nach. Am Komplex Krieg/Genealogie/Nation untersucht er schließlich die Erschütterungen der idealistischen poetologischen Programmatik unter dem Einfluss des Ersten Weltkriegs.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Erster Teil
  • I. Einleitung
  • II. Aristokratie – das Ideal der Rasse
  • II.1 Genealogische Gespräche bei den Guermantes
  • II.2 « Le pur du pur » – Der Familienroman der Guermantes
  • II.3 Die Fürstin von Parma – Parodie genealogischer Größe
  • II.4 Die »Camemberts« – Die Wahrheit der Karikatur
  • III. Juden – « La race maudite »
  • IV. Homosexualität und Genealogie
  • IV.1 Mlle Vinteuil und ihre Freundin – Die Konstruktion des Sadismus als genealogischer Konflikt
  • IV.2 « La Race des tantes »
  • V. Der Erzähler
  • V.1 Multiplizierte und reflektierte Genealogie
  • V.2 Die supplementäre Genealogie – Dilettanten und Künstler
  • V.3 « La Muse de l‘Histoire »
  • V.4 Das genealogische Wissen – « comme si c‘était la première des sciences »
  • Zweiter Teil
  • VI. Der Fächer der Königin von Neapel – Prousts Poetik des »agencement« in La Prisonnière
  • VI.1. Die Peripetie – genealogische Verschiebungen in einem Eifersuchtsdrama
  • VI.2 Todesserie
  • VI.2.1 Swanns Tod
  • VI.2.2 Die Fürstin Sherbatoff und Saniette
  • VI.2.3 Bergottes Tod vor einem Bild
  • VI.3 L‘après-midi d‘un Faune — Marcel am Klavier
  • VI.4 Die Geburtsstunde des Kunstwerks – Die Aufführung des Septetts
  • VI.5 Die Intrige
  • VI.6 Die Fächerskizze aus Les jours et les plaisirs und das Éventail-Gedicht Mallarmés
  • VII. Krieg und Genealogie
  • VII.1 Der Erste Weltkrieg und die »leçon d‘idéalisme«
  • VII.2 Der Einbruch des Militärischen in die Lektüre Marcels
  • VII.3 Bergotte-Lektüre – gescheiterte Ankunft im genealogischen Herzen Doncières
  • VII.4 Taufe in Venedig
  • VII.5 Militärmusik und holländische Malerei
  • VII.6 Genealogische Kriegskunst – die ästhetische Erziehung des Militärs
  • VII.7 Stendhal-Lektüre: Strategisches Begehren
  • VII.8 Genealogie und Technik: Telefon und Photographie
  • VII.9 «La race des domestiques» – Semiotische Lektüre
  • VII.10 Die Kriegsnacht – genealogische und anti-genealogische Lektüre des Körpers
  • VII.10.1 « Une imaginaire cité exotique »
  • VII.10.2 Textstrategische Regieanweisungen
  • VII.10.3 Das Labyrinth
  • VII.10.4 Ein zweites »Directoire«
  • VII.10.5 Die Matrix
  • VII.10.6 « la guerre (…) pourrait être racontée comme un roman »
  • VII.10.7 « Le roman passionné des homosexuels »
  • VII.10.8 Kriegssprache
  • VII.10.9 Kulturhistorische Hermeneutik
  • VII.10.10 Saint-André-des-Champs
  • Zusammenfassung
  • Dank
  • Literaturverzeichnis

← 6 | 7 → Erster Teil

I. Einleitung

Prousts genealogisches Interesse ist bezeugt. In einem im November 1908 an Georges de Lauris gerichteten Brief schreibt er: „Ich habe die Lektüre von Chateaubriand (über den ich ein Pastiche verfaßte) beendet und stecke nun tief im Saint-Simon, der mein großes Entzücken ist. (…) Doch ich beschäftige mich vor allem mit Lappalien, mit Genealogie usw. Ich schwöre Ihnen, es geschieht nicht aus Snobismus; es macht mir riesigen Spaß.“1 Die Beschäftigung mit Genealogie, die hier gemeint ist, bezieht sich im engeren Sinne auf die aristokratischen Familien und Dynastien; für diese hatte sie historisch eine unmittelbare und handfeste soziale Bedeutung: die im Stammbaum verbriefte Herkunft begründete die Legitimität und Autorität des Adels; in den Feudalgesellschaften werden Herrschaftsansprüche aus ihr abgeleitet. Prousts Interesse für die Genealogien fällt nun in eine Epoche des zunehmenden real-politischen Bedeutungsverlusts des Adels in der spätkapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende. Der zitierte Passus verrät diesen Wandel: Zum einen können die Genealogien als Lappalien abgetan werden, zum anderen jedoch – und dies ist generell von entscheidender Bedeutung für Prousts Veränderung der Gesellschaftsdarstellung im Roman in Bezug auf die realistisch-naturalistische Tradition – erhalten sie eine neue, imaginäre Bedeutungseinfärbung, indem sie libidinös-erotisch besetzt werden. Davon legt Prousts Brief beredtes Zeugnis ab: Die Beschäftigung mit Genealogie bereitet ihm Lustempfinden. Dieses Lustempfinden kann man nun gerade mit dem Wort bezeichnen, das Proust für sich heftig in Abrede stellt: Snobismus, nach Adorno „die erotische Besetzung gesellschaftlicher Tatbestände“2. Die Lebenswelt des Fin-de-Siècle, in der Proust aufwuchs und die er in À la recherche du temps perdu reflektiert, ist eine von snobistischem Begehren durchzogene und zugleich eine, in der man nicht snobistisch sein darf, in der Snobismus als Laster gilt, eine Welt, die ihren eigenen Snobismus verleugnet und abstreitet. Unter der Oberfläche der liberalistischen, egalitären bürgerlichen Gesellschaft – Liberté, Ègalite, Fraternité waren die Losungsworte ← 7 | 8 → der Französischen Revolution3 – haben sich imaginäre, snobistische Hierarchien gebildet und verfestigt, die vor allem den Adel zum Gegenstand ihrer geheimen Idealisierung haben, denn dieser hat aufzuweisen, was für das bürgerliche Individuum, insofern es seinen Wert aus eigener ökonomischer Leistung bezieht, stets unerreichbar bleiben wird, weil vom Individuum selbst nicht einholbar: eine – glanzvolle – Familiengeschichte, eine Genealogie. Für Proust nun gibt die gleichsam ‚pervertierte‘ Bourgeoisie, die sich am Adel orientierende »leisure class«, die in ihrem Sozialverhalten wesentlich, und umso mehr als es versteckt geschieht, von psychologischen Gesetzen des Imaginären bestimmt wird, für deren Funktionsmechanismus das snobistische Interesse für aristokratische Genealogien paradigmatisch ist, das Modell von Gesellschaft schlechthin ab. Umso demokratischer eine Gesellschaft dem äußeren Anschein nach sei, so spekuliert Proust im Rahmen einer Reflexion über den angeblichen Verlust der Höflichkeit in der Moderne, desto stärker die Ausprägung interner, von der snobistischen Imagination ihrer Mitglieder geschaffener Hierarchien: „Après tout, la politesse dans une société égalitaire ne serait pas un miracle plus grand que le succès des chemins de fer et l’utilisation de l’aéroplane. (…) Enfin une société ne serait-elle pas secrètement hiérarchisée au fur et à mesure qu’elle serait en fait plus démocratique?“4 Die Demokratisierung verwickelt sich in interne Widersprüche, indem die überwunden geglaubten Hierarchien – eine archaische Schicht, die einem verdrängten Unbewussten entspricht – auf der Ebene der libidinösen Besetzungen wiederkehren. Im Phänomen des Snobismus entdeckt Proust insofern ein Erklärungsprinzip gleichsam molekularer gesellschaftlicher Dynamik, das die offizielle, molare und makropolitische Entwicklung subversiv durchkreuzt und zu einer komplexeren Betrachtung der Mechanismen innerhalb des sozialen Feldes zwingt.

← 8 | 9 → Darüber hinaus ist das anachronistische Interesse für die scheinbar längst überholte Bedeutung der aristokratischen Genealogien als ein Schwellenmoment zwischen gesellschaftlichem und literarischem Raum zu werten. Die Gesetze der gesellschaftlichen Libido treffen auf die der literarisch-poetischen Imagination. Auch die Welt der Literatur, d.h. vor allem die des literarischen Stils im emphatischen Sinne, schafft im hermetischen Abschluss gegen die vom Tauschwert und der universalen Vermittlung geprägte bürgerliche Gesellschaft eine supplementäre Hierarchie des Imaginären. Der Chronist Saint-Simon, dessen Memoiren am Ende der Recherche zusammen mit den Märchen aus Tausendundeiner Nacht als kapitale Vorbilder und Referenztexte angeführt werden, die Prousts Roman unwillkürlich, durch das Vergessen hindurch, analog zur lebensweltlichen Erfahrungskategorie der »mémoire involontaire«, wiederzuschreiben wünscht5, markiert für Proust diese Schnittstelle von Gesellschaftlichem und Literarischem. Er vertritt die Epoche der nun entschwundenen realpolitischen Bedeutung der aristokratischen Genealogien und zugleich ein literarisches Stilideal, das die durch Genealogie begründeten sozialen Differenzen und Spannungen in Esprit, in »sadistische« Spracherotik umgesetzt, zur Darstellung bringt. Gleich zu Beginn der Recherche wird Saint-Simon in diesem Sinne zitiert, wenn der mit der Familie des Erzählers befreundete Jude Swann eine Anekdote aus den Memoiren erzählt, in der Saint-Simon einen wenig distinguierten Besucher davon abhält, seine Söhne zu begrüßen, zum großen Entzücken von Marcels Großvater, der für die rhetorisch inszenierte Stilistik aristokratischer Insolenz empfänglich ist und im Schlussband der Recherche, Le temps retrouvé, als Repräsentant eines genealogischen Wissens6 gegen die Oberfläche des ‚oubli‘ in der modernen, anti-traditionalen Gesellschaft gehalten wird, doch kommt Swann nicht dazu, die Szene zu Ende zu rezitieren, denn die allzu egalitär eingestellten ← 9 | 10 → Tanten Céline und Flora hindern ihn mit ihren Protesten daran. Die Passage ist in Combray I situiert, jener ersten Evokation der Kindheitsstätte aus der Perspektive des dysphorischen Erlebens, in welcher Marcels »drame de mon coucher«, das der in die christliche Familie eindringende jüdische Besucher – ein auf diese Weise in genealogischer Semantik kodierter Konflikt – als „auteur inconscient de mes tristesses“ (I, 43)7 für das frühzeitig zu Bett geschickte, von seiner Mutter getrennte Kind herbeiführt, sich in der traumatisierten Erinnerung im Bild einer streng hierarchisierten, vertikalen, als beengend suggerierten räumlichen Struktur zusammenzieht:

C’est ainsi que, pendant longtemps, quand, réveillé la nuit, je me ressouvenais de Combray, je n’en revis jamais que cette sorte de pan lumineux, découpé au milieu d’indistinctes ténèbres, (…): à la base assez large le petit salon, la salle à manger, l’amorce de l’allée obscure par où arriverait M. Swann (…), le vestibule où je m’acheminais vers la premiére marche de l’escalier, si cruel à monter, qui constituait à lui seul le tronc fort étroit de cette pyramide irréguliére; et, au faîte, ma chambre à coucher avec le petit couloir à porte vitrée pour l’entrée de maman; en un mot toujours vu à la même heure, isolé de tout ce qu’il pouvait y avoir autour. (I, 43)

Diese traumatische Pyramide und die ihrem Komplex zugeordnete Erzählung der genealogischen Anekdote liegt diegetisch noch vor der Schilderung des berühmten Madelaine-Erlebnisses, welchem offiziell die Rolle zugewiesen wird, den Raum der Erinnerung metonymisch-horizontal zu weiten, ihn als euphorischen und lebendigen zu eröffnen. Indem das unterbrochene, avortierte Erzählen der genealogischen Anekdote an der Schnittstelle dieser beiden ästhetisch-ideologisch einander gegenübergestellten Räume steht, zwischen einer in der Vertikalen arretierten dysphorischen »mémoire volontaire« und euphorischer, metonymisch sich ausbreitender »mémoire involontaire«, und zugleich einen in seinem angstvoll-eifersüchtigen Erleben befangenen, dem Gespräch folgenden Protagonisten und einen humoristischen Erzähler, welcher souverän sowohl über der humorlosen political correctnes der Tanten wie auch dem um sein sadistisches genealogisches Plaisir gebrachten Großvater steht, ins Spiel bringt, ist ein Signal dafür gegeben, dass die genealogische Problematik in der Recherche ← 10 | 11 → in einem relevanten Verhältnis zum Akt der Narration selbst und ihren psycho-sozialen Besetzungen steht.

Von Painter, seinem bekanntesten Biographen, wird die erwähnte Überschneidung von genealogischer Phantasie und Romanpoetik bei Proust denn auch bestätigt. Die Kunst witziger Pointen als Ausdruck von Sprachmacht, ja einer der sadistischen vergleichbaren sprachlichen Grausamkeit, konvergiert mit der subtilen Kunst, imaginäre gesellschaftliche Distanzen zu setzen, Schnitte, Trennungen, Differenzen zu machen im gesetzlich homogenisierten Gesellschaftskörper. Zwischen Proust und Albert Le Cuizat, dem ehemaligen Diener, der später ein Männerbordell führte, in dem auch Proust verkehrte, und der für diesen – nicht allein als Kuppler, vor allem auch als Informand der mondänen chronique scandaleuse – eine vergleichbare Rolle spielte wie der Jupien der Recherche für M. de Charlus, soll sich folgende Szene abgespielt haben:

Er entdeckte, daß Albert in Fragen der Etikette und Genealogie des Adels außerordentlich bewandert war, und stellte ihn mit imaginären Situationen aus seinem Roman auf die Probe. »Die Herzogin von Guermantes gibt ein Diner für einen General und einen Bischof: wem muß sie den Ehrenplatz geben?« »Der Bischof hat den Vortritt«, antwortete Albert unverzüglich, » und muß zur Rechten der Herzogin sitzen.« » Und nehmen wir an, sie lädt die Herzogin d’Uzès, die die erste Herzogin von Frankreich ist, und die Fürstin Murat ein, deren Familie zwar nicht so alt ist, aber einmal auf dem Thron war?« »Die Herzogin von Guermantes«, antwortete Albert mit der gleichen Entschiedenheit, » würde niemals die Herzogin d’Uzès und die Fürstin Murat am gleichen Abend bitten!« »Sie sind so gelehrt wie Pico della Mirandola und so witzig wie Mme du Deffand«, rief Proust aus und er nannte Albert seinen »wandernden Gotha«.8

Prousts Adelsbesessenheit war ein Stein des Anstoßes, der die Rezeptionslage des Werks zunächst erheblich erschwerte, und noch Adorno konzediert, dass André Gide, der bekanntlich anfänglich das Manuskript von Du Côté de chez Swann für die N.R.F ablehnte, „an den Proustschen Prinzessinnen sich geärgert zu haben“9 scheine. Die genealogische Thematik ist nun allerdings kein bloßer Zierrat der großen Gesellschaftsfreskos der Recherche, es zeigt vielmehr eine erstaunliche Kontinuität in Prousts literarischer Produktion und ist bereits im dekadentistischen Jugendwerk Les Plaisirs et les Jours von 1896 präsent. Dort wird in zwei kurzen Prosaskizzen das Pro und Contra des Phänomens Snobismus gegeneinandergestellt und abgewogen. In Contre une snob wird das Psychogramm ← 11 | 12 → einer Dame entworfen, für die er eine „terrible malédiction“ darstellt, aufgrund der sie – unbegreiflich für eine nicht affizierte Umwelt – „ses amitiés, ses amours, la liberté de sa pensée“10 opfert. Das Besondere dieser Skizze, ihre auf spätere Konstellationen der Recherche vorausweisende ästhetische Kraft liegt im Anti-Klassizismus dieser Konstruktion des Lasters Snobismus, denn es wird betont, dass die äußerlich überaus begünstigte schöne Dame oft hässliche Personen zum fetischistischen Objekt ihrer snobistischen Begierde erwählt. (Diese Figur wird bei Prousts subjektivistischer Konzeption des Eros, und namentlich bei seiner Konstruktion der Homosexualität später eine bedeutende Rolle spielen. Es deutet sich bereits an, auf welche Weise Proust ein Gleiten vom Thema der Aristokratie und der Genealogie im engeren Sinne zu dem der Homosexualität über das Bindeglied snobistischer Imagination ermöglichen wird.) In À Une Snob dagegen werden zum ersten Mal Aspekte benannt, die begreiflich machen, weshalb der Themenkomplex Genealogie und Snobismus ein weiterführendes theoretisches Interesse Prousts in so starkem Maße auf sich ziehen und in das Erinnerungwerk der Recherche Eingang finden konnte, und welche ästhetische und poetologische Relevanz ihm seit dem literarischen Debüt zukommt. Dem „rêve ambitieux“ der snobistischen Dame, „auquel vous avez sacrifié votre liberté“ wird umwertend eine „certaine grandeur“ zugute gehalten, denn der Snobismus steht katalysatorisch in Zusammenhang mit einer Theorie der Namen, insbesondere ihrer poetischen Evokationskraft, wie auch mit den Techniken der Memoria und mit der Arbeit der Imagination, ästhetischen Zentralkategorien der späteren Recherche: „En lisant les récits de bataille que les ancêtres avaient gagnées, vous avez retrouvé le nom des descendants que vous invitez à diner et par cette mnémotechnie vous avez retenu toute l’histoire de France.“ (PJ 45) Neben der Garantie einer kulturell verbindlichen und nationalen Identität (l’histoire de France) wird hier zum ersten Mal den Genealogien die Potenz zuerkannt, ein ästhetisches Zeit-Bild zu schaffen, werden im Snobismus allgemeine Prinzipien der Vorstellungskraft und der Phänomenologie der Zeiterfahrung lokalisiert: „Car la figure de vos nouveaux amis s’accompagne dans votre imagination d’une longue suite de portraits d’aieux. Les arbres généalogiques que vous cultivez avec tant de soin, dont vous cueillez chaque année des fruits avec tant de joie, plongent leurs racines dans la plus antique terre française.“ (PJ 45) In den snobistisch besetzten Genealogien erscheint schließlich bereits in diesem frühen ← 12 | 13 → Text das Motiv der wiedergefundenen Zeit: „Votre rêve solidarise le présent au passé.“ (PJ 45) Das Thema der Genealogien ist damit für Proust von Beginn seiner literarischen Produktion an mit der Theorie der Zeit, dem großen theoretischen Gegenstand seines Hauptwerks verknüpft. Die Geneaolgien sind mithin mehr als ein bloßes Thema, sie sind auch formal und kompositorisch bedeutsam für den Romanzyklus der Rercherche.

Ein erster Hinweis darauf, der unsere Hypothese stützt, dass die Genealogien für das spätere opus magnum formkonstitutiv geworden sind, findet sich in der Correspondance von 1908, dem Jahr, in dem Proust sich, wie anfangs erwähnt, ausführlich mit Saint-Simon und den Genealogien beschäftigte und zugleich einen ersten Rohentwurf der Recherche ausarbeitete. In einem Brief an den Freund Louis d’Albuféra erscheint die umfangreiche Beschäftigung mit genealogischen Fragen im engeren Sinne, die Proust in diesem Jahr betreibt, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem in Angriff genommenen Romanprojekt, dessen erste programmatische Inventarisierung in diesem Brief vorliegt:

As-tu par hasard (…) des albums de photographies de famille. Si tu pouvais pour quelques heures m’en prêter un (…) cela m’amuserait beaucoup. (…) D’autre part possède-tu ta généalogie dans les deux lignes. Toujours à cause des choses que je fais cela m’intéresserait. Car j’ai en train: une étude sur la noblesse/ un roman parisien/ un essai sur Sainte-Beuve et Flaubert/ un essai sur les Femmes/ un essai sur la Pédérastie (pas facile à publier)/ une étude sur les vitraux/ une étude sur les pierres tombales/ une étude sur le roman.11

Es sei hier nur kursorisch auf die Verzahnung von genealogischer Thematik und dem photographischen Medium hingewiesen. In Konkurrenz zur intuitiven, unmediatisierten »mémoire involontaire«, die lange Zeit fast ausschließlich im Zentrum der Aufmerksamkeit der Proust-Forschung stand, tritt in der Recherche ein mit weitaus stärkeren Ambivalenzen ausgestattetes ‚photographisches Gedächtnis‘12, welches als Mortifikation und Fixierung das in der Recherche zentrale Motiv der Profanation ins Spiel bringt, das für die spezifisch Proustsche Bearbeitung der Genealogien entscheidend sein wird.

Nach ersten Indizien für eine weitergehende Bedeutsamkeit der Genealogien für die Recherche müssen wir jedoch noch einmal einen Schritt zurückgehen. Was meint der Begriff Genealogie? Zunächst lässt sich darauf in der Sprache ← 13 | 14 → des Lexikons antworten, dass Genealogie „die Wissenschaft von Ursprung, Folge und Verwandtschaft der Familien und deren einzelnen Mitglieder“13 ist; in diesem Sinne ist sie eine Hilfswissenschaft der historischen. Wichtiger für unsere Überlegungen ist allerdings, dass dem Genealogisieren ein bestimmtes Bewusstsein entspricht, das „Bewußtsein des Menschen, daß er nur ein Glied in der langen Reihe der Generationen ist“14. Ende des 19. Jahrhunderts nun verknüpft sich der genealogische Diskurs, der das Individuum als Erben seiner Familiengeschichte sieht, mit anderen, politisch wirksamen Diskursen: zum einen dem über Rasse und Nation, der dem nur zum Schein autonomen bürgerlichen Subjekt die von der geschichtlichen Dynamik stets bedrohte Stabilität und Identität in der Hypostasierung eines unverlierbaren kollektiven Erbes garantierte, zum anderen den pseudo-wissenschaftlichen Diskursen der Physiognomie und der Physiologie, die im 19. Jahrhundert angetreten waren, um die wirre Vielfalt der modernen Massengesellschaft mit dem beruhigenden Instrument einer ästhetisch-semiotischen Klassifikation nach naturwissenschaftlichem Modell zu beherrschen. Der »genealogische Diskurs« bot die Möglichkeit, die enttäuschte geschichtlichen Hoffnungen der bürgerlichen Revolutionen und die Schattenseiten einer nur halb gelungenen Aufklärung auf ein Erklärungsmuster hin zu kanalisieren, zum anderen ein unerschöpfliches mythisch-poetisches Potential der Projektion in die Vergangenheit für eine prosaische, ernüchterte Gesellschaft. Die genealogische Problematik, wie sie bei Proust zutage tritt, ist zunächst im Rahmen einer Dialektik der Aufklärung zu skizzieren. Es ist sinnvoll, sich klarzumachen – bevor man nach den ästhetischen Konsequenzen im einzelnen fragt –, dass Prousts Interesse für die aristokratischen Genealogien im engeren Sinne etwas durchaus Verschrobenes hatte. Verglichen mit der Haltung der Aufklärer, die mit Witz und Verstand das ursprungsmythische Potential der Genealogien erledigt zu haben glaubten, erscheint es erst einmal als ein merkwürdiger Anachronismus, ja eine Regression, dass einer am Ende des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Wissenschaft und des Liberalismus, der doch gerade die ökonomische Freiheit des Individuums gegen die genealogische Begrenzung in der feudalen Ständegesellschaft setzte, soviel Aufhebens um Abstammungsverhältnisse macht, obstinat auf ihrer Bedeutung besteht. Ein Blick auf den Artikel »Généalogie« in der Encyclopédie belehrt darüber, dass die Aufklärer, abgesehen davon, dass sie den Genealogien aufgrund ihres dokumentarisch-positivistischen ← 14 | 15 → Wertes eine „extrême importance pour l’histoire“15 attestieren, deren Machtdispositiv gegenüber vor allem eine satirische Haltung bekunden, indem sie das Augenmerk darauf richten, wie sehr die aristokratischen Familienchroniken das Produkt tendenziöser, serviler Genealogen sind, herrschaftsbegründendes Produkt eines Herrschaftsverhältnisses. Der Aufklärer legt den Finger auf die Fälschungen, Absurditäten und Fabeln der genealogischen »Geschichtsschreibung«, auf ihr mythisches, vor-aufklärerisches Moment:

Il faut être en garde contre les absurdités de certains historiens, qui par adulation font remonter jusqu’aux temps héroiques, l’origine des maisons ou des princes en faveur de qui ils écrivent; comme il arriva à un auteur espagnol, qui vouloit faire la cour à Philippe II. Il le faisoit descendre en ligne directe d’Adam, depuis lequel jusqu’à ce prince, il comptoit cent dix-huit générations sans lacune ou intéruption. Il n’est guère de nation qui n’ait ses fables à cet égard.16

Mit klarem Blick relativiert der Enzyklopäde die dem genealogischen Denken inhärierende ursprungsmythische Mentalität, indem er erkennt, dass der Stammbaum beschnitten (d.h. zurechtgefälscht) und sein Ursprung ein an glanzvoller Stelle willkürlich gesetzter ist. Die politisch-ideologischen Implikationen des Genealogisierens, welches als Machtdispositiv decouvriert wird, fasst der Encyclopédie-Artikel, indem er die Metapher des gesäuberten und beschnittenen (d.h. kulturell veränderten) Baumes, der als naturhaft-ursprünglich ausgegeben wird, in kritischer Absicht ausspinnt:

C’est un amusement pour un philosophe, que de voir l’arbre généalogique d’un gentilhomme buriné sur une grande feuille de vélin; vous trouvez toujours cet arbre taillé, émondé, cultivé, sans mousse, sans bois-mort, & sans aucune branche pourrie; vous êtes encore sûr de trouver à la tête de la plupart des arbres généalogiques un grand ministre d’état, ou un célèbre militaire. L’honnête artisan qui a donné la naissance à cet homme illustre, dont on prétend descendre, est retranché de l’arbre généalogique, avec tous ses ancêtres d’une vie frugale, & vous diriez que le fondateur de la maison n’a jamais eu de père.17

Die aufklärerische ratio hebt in ihrem monophylischen Denken (d.h. in der Annahme eines gemeinsamen Ursprungs aller Menschen) das soziale Differenzen, Superioritäten und Autoritäten begründende Potential des genealogischen Diskurses aus den Angeln:

← 15 | 16 → Si l’on avoit la généalogie exacte & vraie de chaque famille, il est plus que vraissemblable qu’aucun homme ne seroit estimé ni méprisé à l’occasion de sa naissance. A peine y-a-t-il un mendiant dans les rues qui ne se trouvât descendre en droite ligne de quelque homme illustre, ou un seul noble élevé aux plus hautes dignités d’état, des ordres & des chapitres, qui ne se découvrît au nombre de ses ayeux, quantités de gens obscurs.18

Details

Seiten
322
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056914
ISBN (ePUB)
9783653966480
ISBN (MOBI)
9783653966473
ISBN (Hardcover)
9783631661345
DOI
10.3726/978-3-653-05691-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Poetik Metapher Metonymie Figuren der Alterität Erster Weltkrieg
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 322 S.

Biographische Angaben

Guido Goerlitz (Autor:in)

Guido Goerlitz studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere deutsche Germanistik und Französische Philologie in Bonn und Berlin. Er war Austauschstipendiat an der École Normale Supérieure in Paris. Nach seiner Promotion folgte ein Postdoc-Stipendium am Centre de la recherche sur l’intermédialité der Université de Montréal.

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