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Sprachförderung bei demenziellen Störungen

von Berthold Simons (Autor:in)
©2015 Monographie 252 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band bietet einen informativen Überblick über die Symptomatik bei demenziell bedingten Sprachstörungen, eine praxisorientierte Anleitung zur Durchführung sprachlicher Fördermaßnahmen und linguistisch fundierte Übungen, die in der klinischen und ambulanten Praxis entwickelt wurden. Mit Förderübungen zur sprachlichen Aktivierung von Betroffenen, zum sprachlichen Erfassen von Gegenständen und Sachverhalten und zur Versprachlichung praktischer Alltagshandlungen werden die zentralen Bereiche beginnender demenzieller Sprachstörungen erfasst. Die Materialien aus vielen Bereichen von Sprache und Grammatik eignen sich gleichermaßen für sprachtherapeutisches Fachpersonal und engagierte Laienhelfer, die als Demenzberater oder -begleiter tätig sind. Formulare zur Verlaufsbeobachtung und -bewertung ergänzen das Übungsmaterial.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung: Sprache und demenzielle Störungen
  • Über dieses Buch
  • Sprache
  • Demenzielle Störungen
  • Was ist eigentlich Demenz?
  • Alzheimer Demenz
  • Vaskuläre Demenz
  • Frontotemporale Demenz
  • Lewy-Körper-Demenz
  • Andere demenzielle Störungen
  • Demenztests
  • Kommunikation und Teilhabe
  • Sprache und Sprechen des älteren Menschen
  • Sprachstörungen bei Demenz und Aphasie
  • Sprachstörung bei semantischer Demenz
  • Primär progressive (progrediente) Aphasie (PPA)
  • Nicht-flüssige progressive (progrediente) Aphasie (NFPA)
  • Sprachstörung bei Alzheimer Demenz
  • Sprachförderung bei demenziellen Störungen
  • Kommunikations- und Gesprächsmanagement
  • Stabilität und Instabilität der sprachlichen Leistung
  • Unterstützende Gesprächsführung
  • Fragetypen
  • Gliederungssignale im Gespräch
  • Sprachverständnis und Verständlichkeit
  • Kommunikative Defizite bei demenziellen Störungen
  • Einsatz der Förderübungen in der Gruppe
  • Hinweise zu den Förderübungen
  • Indikation
  • Sprachsystematik und Kommunikation
  • Sehen und Hören
  • Handbeweglichkeit
  • Dysarthrien
  • Phonematische Abweichungen
  • Nebenwirkungen von Medikamenten
  • Sprachkenntnis bei Migrationshintergrund
  • Belastbarkeit
  • Schwierigkeitsgrad
  • Adäquatheit der Leistung
  • Mündlichkeit und Schriftlichkeit
  • Abbruchkriterien
  • Die Helfer!
  • Förderübung und sprachliche Interaktion
  • Förderübungen mit Verben
  • Fragen und Antworten
  • Fördereinheit: Sprachliches Erfassen von Gegenständen und Sachverhalten
  • Zählbar Vs. Nicht-Zählbar
  • Wozu Dient Das Haushaltsgerät?
  • Welches Hauptwort Passt Nicht Dazu?
  • Welche Eigenschaft Passt Nicht Dazu?
  • Baukasten Mit Hauptwörtern
  • Was Kann Man …? (1)
  • Was Kann Man …? (2)
  • Hauptwörter und Tätigkeiten Zuordnen 1
  • Hauptwörter und Tätigkeiten Zuordnen 2
  • Hauptwörter und Tätigkeiten Zuordnen 3
  • Hauptwörter und Eigenschaften Zuordnen
  • Hauptwörter Zu Hauptwörtern Zuordnen
  • Zusammengesetzte Hauptwörter Erweitern
  • Aufschlüsseln Von Wortbedeutungen
  • Was Kann Man …? Gegenstände
  • Womit Kann Man …? Gegenstände
  • Ein Wort und Seine Umschreibung
  • Masskonstruktionen
  • Berufe Raten
  • Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten
  • Wörter Zusammensetzen
  • Check-Liste Für Gegenstände
  • Teil-Ganzes-Beziehung
  • Wortbildung
  • Kollokationen 1
  • Kollokationen 2
  • Verursachung
  • Situationen und Akteure
  • Welche Tätigkeit Passt Nicht Dazu?
  • Mehrdeutigkeit
  • Hauptwort und Tätigkeitswort
  • Alles Mit Arbeit
  • Sprechen
  • Positionale Verben
  • Tätigkeitswörter Der Fortbewegung
  • Sauber und Schmutzig
  • Szenen
  • Masskonstruktionen
  • Zuordnung Von Rollen
  • Benennen Privater Gegenstände
  • Angaben und Ergänzungen
  • Fördereinheit: Sprachliche Aktivierung
  • Ja-Nein-Fragen Zur Person
  • Offene Fragen Zur Person
  • Oder-Fragen Zu Persönlichen Neigungen
  • Was Mögen Sie? Was Mögen Sie Nicht?
  • Bestätigungsfragen
  • Sachfragen
  • Berufe
  • Fragebogen Ausfüllen 1: Muster
  • Fragebogen Ausfüllen 2
  • Nachsprechen und Nachfragen
  • Sätze und Fragen
  • Fragen Rund Ums Auto
  • Fragen Rund Ums Reisen
  • Fragen Rund Ums Briefmarkensammeln
  • Fragen Rund Ums Haustier
  • Inferentielle Fragen
  • Gute Gründe
  • Anweisungen, Kurzanleitungen und Hinweise
  • Lückensätze 1
  • Lückensätze 2
  • Lückensätze 3
  • Lückensätze 4
  • Sprichwörter Ergänzen
  • Sprichwörter Mit Körperteilbezeichnungen
  • Wortfindung 1
  • Wortfindung 2
  • Fragen Nach Tätigkeiten
  • Lesen und Schreiben: Kleine Wörter In Langen Wörtern Finden
  • Fördereinheit: Orientierung und Versprachlichung praktischer Alltagshandlungen
  • Oben und Unten
  • Vorne und Hinten
  • Speiseplan Für Die Woche
  • Ordnung in Der Küche
  • Orte und Zeiten
  • Ort und Richtung
  • Vorher und Nachher
  • Zeiten und Zeitstufen
  • Was Geschah Vorher?
  • Wie Oft?
  • Pflegepersonal
  • Verbales Gedächtnis: Listen 1
  • Listen 2: Blankolisten
  • Zeitliche Reihenfolge Von Ereignissen
  • Orientierung im Ort
  • Komplexe Handlungsfolgen
  • Orientierung im Gespräch
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang: Kopiervorlagen
  • Lerntagebuch
  • Prüfliste
  • Soziolinguistischer Fragebogen
  • Checkliste Übungspartner
  • Kurze Erfassung der Schreibleistung

SPRACHE UND DEMENZIELLE STÖRUNGEN

image ÜBER DIESES BUCH Dieses Buch wendet sich an Menschen, die aufgrund einer beginnenden demenziellen Störung leichte sprachliche Leistungseinbußen bemerken oder bereits nachweislich unter auffallenden sprachlichen Störungen leiden, z.B. nach einer fachlich fundierten Untersuchung. Das Buch soll die Möglichkeit bieten, nach linguistischen Gesichtspunkten aufgebaute, sprachliche Förderübungen durchzuführen. Die Zielsetzungen bestehen darin, einem Leistungsabbau entgegen zu wirken, die sprachliche Leistung längerfristig zu erhalten und Phasen der Besserung auszunutzen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die Fähigkeit zu kommunizieren, dazu gehört natürlich in erster Linie sprachliches Kommunizieren, als einen Bestandteil der Lebenskompetenzen („life skills“). Die Wichtigkeit des Erhalts der sprachlichen Fähigkeiten als eine der entscheidenden Lebenskompetenzen bedarf keiner besonderen Begründung.

Dieses Buch wendet sich auch an alle, die mit Menschen zu tun haben, die an demenziellen Störungen leiden. Denn das Ziel der Förderübungen dürfte für die Betroffenen kaum allein, d.h. im Eigentraining, zu erreichen sein. Benötigt wird in aller Regel ein Partner, der als Helfer zur Seite steht. Dies kann ein professioneller Therapeut sein: ein Klinischer Linguist, ein Logopäde oder ein Sprachheilpädagoge; dies kann aber auch ein Neuropsychologe, ein Demenzbegleiter oder Demenzberater sein, eine entsprechend geschulte und erfahrene Pflegekraft, ein engagierter Helfer aus einer Selbsthilfegruppe oder ein Angehöriger, der in der häuslichen Betreuung aktiv ist. Das heißt, das Buch wendet sich an alle genannten Personengruppen, um ihnen als Fördermaterial im klinischen und ambulanten Einsatz zur Verfügung zu stehen. Selbstverständlich erspart die Durchführung der vorliegenden Förderübungen nicht die ärztliche Behandlung der Grunderkrankung.

Als weitere Zielsetzung versucht dieses Buch, Hintergrundinformationen zu geben: 1. über die unterschiedlichen sprachlichen Symptome bei den häufigsten demenziellen Sprachstörungen, und 2. Anleitungen zur Durchführung dieser Förderübungen - beschränkt allerdings auf die linguistischen und klinischlinguistischen Aspekte. Eine umfassende Behandlung des aktuellen und brisanten Themas Demenz ist nicht beabsichtigt. Für eine weitergehende Beschäftigung mit diesem Themenkomplex, insbesondere was die medizinischen, pflegerischen, sozialen, juristischen und anderen Aspekte angeht, wird im Laufe der Einleitungskapitel auf entsprechende Literatur verwiesen.

Die vorliegenden Übungen dienen zur Aktivierung und Förderung sprachlicher Leistungen in mehreren sprachlichen Modalitäten mit dem Ziel, die allgemeine ← 7 | 8 → sprachliche Kommunikationsfähigkeit zu verbessern, das Vertrauen in die eigene sprachliche Leistung zu fördern und Betroffene zu ermutigen, sich sozialen Situationen, die sprachlich zu bewältigen sind, zu stellen, trotz selbst empfundener sprachlicher Schwierigkeiten. Die linguistisch motivierten Förderübungen orientieren sich an der von der Erkrankung demarkierten Symptomatik. Vor der Durchführung der Förderübungen wird die Lektüre der einleitenden Kapitel und der Hinweise dringend empfohlen. Zwar sind jeder Förderübung kurze Erläuterungen vorangestellt, in jedem Fall aber sollten die Hinweise zum Gesprächsmanagement und zu den unterschiedlichen sprachlichen Symptomen gelesen werden. Unerlässlich ist die Berücksichtigung eventueller Vorbefunde z.B. über Hör- oder Sehbeeinträchtigungen usw., die für die Durchführung der Förderübungen wichtig sein können, denn davon kann im Zweifelsfall das Gelingen einer Förderübung abhängen. Dem Thema „Gesprächsmanagement“ kommt besondere Bedeutung zu: Die Förderübungen sollen grundsätzlich nicht „mechanisch“ abgearbeitet, sondern im Rahmen eines Gesprächs zwischen Helfer und Übungspartner bearbeitet werden. Ausführliche Informationen zu diesem Konzept finden sich in dem Kapitel Kommunikations- und Gesprächsmanagement. Es soll dabei helfen, die Zusammenarbeit zwischen dem Betroffenen und seinem Helfer zu erleichtern und für beide Seiten gewinnbringend zu gestalten.

Für ihre kritische Durchsicht des Manuskriptes und ihre Verbesserungsvorschläge bin ich Prof. Dr. Franz-Josef Stachowiak, Dr. Dorothee Evers-Volpp und Peter Böhm M.A. zu Dank verpflichtet.

image SPRACHE „Die Sprache ist das Instrument, dank dessen der Mensch seine Gedanken formt, seine Regungen und Gefühle, seinen Willen und seine Handlungen, das höchste und tiefste Fundament der menschlichen Gesellschaft. Aber sie ist auch der letzte Ausweg des Menschen, seine Zuflucht in einsamen Stunden, wo der Geist mit dem Dasein streitet, und wo sich der Konflikt im Selbstgespräch des Dichters und der Meditation des Denkenden löst.“ Dies schrieb der dänische Sprachwissenschaftler Louis Hjelmslev (1899–1965) 1943 in seinem Buch Prolegomena zu einer Sprachtheorie (Übersetzung B.S.). Damit verlieh er seiner Ansicht Ausdruck, dass Sprache aus der Sicht der Linguistik mehr ist als ein System von Regeln oder ein Werkzeug zur Übermittlung von Informationen. Die Sprache ist auch unmittelbarer Ausdruck der Person und der Persönlichkeit. Sie dient nicht nur der Kommunikation von Mensch zu Mensch, sondern sie ist auch das Medium der „inneren Sprache“ in der Stille des eigenen Ichs. Diese beiden Seiten der sprachlichen Aktivität sind für den Erhalt und die Identität der Person gleichermaßen bedeutsam.

Sprechen darf man ohne weiteres als eine der wichtigsten Fähigkeiten und Aktivitäten des Menschen bezeichnen. Dies gilt für unsere hoch zivilisierte und versprachlichte Welt ganz besonders: Persönliche Beziehungen, Rechtsgeschäfte, Informationsvorgänge aller Art, jede Mediennutzung, Bedienung von Geräten ← 8 | 9 → und Maschinen - nichts von all dem wäre ohne Sprache sinnvoll denkbar. Dem Erhalt der sprachlichen Leistung im Krankheitsfall kommt deshalb eine entscheidende Bedeutung zu, denn vor allem die sprachlichen Leistungen bestimmen das Maß, in dem ein Mensch sich selbst ausdrücken und am sozialen Leben teilnehmen kann.

image DEMENZIELLE STÖRUNGEN Demenzielle Störungen werden oft von Defiziten in der sprachlichen Leistung der Betroffenen begleitet. Mitunter stellen sich sprachliche Ausfälle, wie z.B. Wortfindungsstörungen oder zunehmender Verlust des „Gesprächsfadens“, schon in der Anfangsphase einer solchen Störung ein. Dies kann sich für die Betroffenen nachhaltig auswirken, denn solche Störungen beeinflussen die Kommunikation im Alltag. Bereits diese erste Erfahrung der eigenen Schwierigkeiten in Alltagsgesprächen kann zu Vermeidungs-oder sogar Rückzugsverhalten führen. Betroffene beteiligen sich seltener an Gesprächen oder ziehen sich aus ihrem familiären Umfeld, ihren Freundes- und Bekanntenkreisen zurück und geraten dadurch nach und nach in eine soziale Isolation, die das Gesamtbild der Erkrankung verschlimmert.

Bei demenziellen Störungen können Ausfälle grundsätzlich auf allen Ebenen der sprachlichen Leistung beobachtet werden: in der Lautbildung, in der Schriftsprache, im Sprachverständnis, in der Wortfindung, in der Bildung von Sätzen, bei der Textverarbeitung. Ebenso können Störungen bei den mit der Sprachproduktion und -verarbeitung zusammen hängenden neuropsychologischen Leistungen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration usw. auftreten. Die Ausfälle können einzeln auftreten, in unterschiedlichen Kombinationen, und einzelne Leistungsausfälle können wiederum Auswirkungen auf andere Leistungen haben. Zusätzlich erschwerend kann sich eine allgemeine Wechselhaftigkeit in diesen Leistungen auswirken.

image WAS IST EIGENTLICH DEMENZ? Seit Jahren vergeht praktisch kein Tag, ohne dass in den Zeitungen und Zeitschriften, in Rundfunk und Fernsehen, von Web-Seiten im Internet ganz zu schweigen, von „Demenz“ und von „Alzheimer“ die Rede ist. Leider sind diese beiden Begriffe dabei zu Schlagzeilen-Stereotypen missbraucht worden, denn ihre Verwendung beruht oft genug nicht auf einem konturierten Verständnis dieser eigentlich medizinischen Begriffe. Ihr undifferenzierter Gebrauch trägt eher dazu bei, diese Bezeichnungen auf eine Vielzahl von altersbedingten, nicht-pathologischen und völlig alltäglichen Veränderungen, wie z.B. Vergesslichkeit, zu übertragen. Letztlich können dadurch ausgrenzende Verhaltensweisen gegenüber älteren Menschen begünstigt werden, und insbesondere die Diskriminierung der Menschen, denen das Etikett Demenz oder Alzheimer- Demenz angeheftet wurde - viel zu oft ohne eine valide Testung.

Demenz ist meist eine Erkrankung des höheren Lebensalters; betroffen sind überwiegend Personen, die älter sind als 65 Jahre. Der Vollständigkeit halber sei ← 9 | 10 → erwähnt, dass Demenzen durchaus auch im Kindes- und Jugendalter auftreten können, meist als Folge von Erbkrankheiten, Stoffwechselerkrankungen oder Infektionen. Die Neurologie unterscheidet mehrere Typen demenzieller Erkrankungen; die folgenden Kurzdarstellungen stützen sich in ihren Schwerpunkten auf die Ausführungen von Bryan & Maxim 2006, berücksichtigen aber nur die häufigsten Demenzerkrankungen. Für eine ausführliche Darstellung und Übersicht sei auf das deutschsprachige Handbuch Demenz von Kastner & Löbach 2.2010 verwiesen.

image ALZHEIMER DEMENZ Die Alzheimer-Erkrankung ist benannt nach dem deutschen Psychiater und Neuropathologen Alois Alzheimer, der sie 1901 erstmals beschrieben hat. Sie ist die häufigste Demenz-Erkrankung. Sie ist eine progrediente Erkrankung des menschlichen Nervensystems, die den Verlust von Nervenzellen im Gehirn bedingt. Es kommt zur Bildung von Zellablagerungen zwischen den Neuronen (= Nervenzellen), sogenannten Plaques. Dieser Abbau konzentriert sich meist auf den parietotemporalen Assoziationskortex und später den frontalen Kortex (= Hirnrinde); die primären kortikalen Regionen, Stammganglien, der Thalamus (= Teil des Zwischenhirns), Hirnstamm und das Zerebellum (= Kleinhirn) sind demgegenüber kaum oder gar nicht betroffen. Als Folge stellen sich bei den Betroffenen in den verschiedenen Stadien der Erkrankung eine Vielzahl von Symptomen ein, die psychische und Verhaltensauffälligkeiten, Störungen der kognitiven und sprachlichen Leistungen und auch Wesensveränderungen umfassen.

Dieser gesamte Symptomenkomplex wird als Alzheimer-Demenz bezeichnet. Ein früher gegenüber einem späten Erkrankungsbeginn kann ein verlaufsbestimmender Faktor sein: Die symptomatische Entwicklung bei Alzheimer-Demenz verläuft bei einem frühen Erkrankungsbeginn schneller als bei einem späten Erkrankungsbeginn (Bryan & Maxim 2006:77). Allerdings sind der Verlauf und die symptomatische Ausprägung der sprachlichen Störungen individuell ganz unterschiedlich. Die Schwerpunkte der sprachlichen Störungen liegen bei Wortfindungsstörungen, Störungen des Nachsprechens, Verschlechterung des Satzverständnisses; zunächst semantische, später auch phonematische Paraphasien; Störungen beim Lesen und Schreiben und beim Lesesinnverständnis; im letzten Stadium der Erkrankung kann es zu Echolalien, zu sprachlichen Automatismen, stereotype Reihenreaktionen mit Zahlen, logorrhoeischer Sprachproduktion und Mutismus kommen. Bryan & Maxim 2006:79 geben eine beispielhaft detaillierte, tabellarische Übersicht über die sprachliche Symptomatik (s. unten S. 22–23).

image VASKULÄRE DEMENZ Die vaskulären Demenzen gehören zu den häufigeren Demenzformen. Sie bieten uneinheitliche Krankheitsbilder. Ursächlich dafür sind zerebrovaskuläre Gefäßerkrankungen: Auf der einen Seite regionale ← 10 | 11 → Durchblutungsstörungen im Gehirn, und auf der anderen Seite Gefäßverschlüsse, die zu „kleinen Schlaganfällen“ führen. Ausmaß und Schweregrad der Durchblutungsstörungen sind individuell völlig unterschiedlich. Die „kleinen Schlaganfälle“, sogenannte Lakunen, bedingen je nach ihrer Lokalisation ebenfalls unterschiedliche neurologische Ausfallserscheinungen. Ursächlich sind seltener entzündlich bedingte Gefäßerkrankungen. Die Störungsbilder und die Krankheitsverläufe sind uneinheitlich, weil für die vaskuläre Demenz eine nicht-fokale neurologische Symptomatik typisch ist – von selteneren Ausnahmen abgesehen. Die Symptome können wechselhaft und flüchtig sein. Die vaskuläre Demenz ist allerdings sowohl therapie- als auch besserungsfähig. Neben den sprachlichen Ausfällen können Gangstörungen, Koordinationsstörungen, kognitive und Wahrnehmungsstörungen, Desorientierung und auch Veränderungen der Persönlichkeit dazu gehören. Anders als bei der Alzheimer-Erkrankung können sich die Betroffenen insgesamt oder phasenweise erholen und sind auch therapeutischen Maßnahmen gut zugänglich. Die sprachlichen Ausfallserscheinungen bieten wegen der unterschiedlichen Lokalisation der Durchblutungsstörungen und/oder der Lakunen kein einheitliches Bild. Sprachliche Störungen können je nach Krankheitsverlauf auch geringfügig auftreten oder ganz fehlen.

image FRONTOTEMPORALE DEMENZ Die fronto-temporale Demenz, nach ihrem Entdecker, dem deutsch-tschechischen Neurologen und Psychiater, auch Pick-Krankheit genannt, stellt sich als eine degenerative Erkrankung des Stirn- und Schläfenlappens des Gehirns dar. Eng verwandt mit den frontotemporalen Demenzen sind die semantische Demenz und die nicht-flüssige progressive Aphasie. Bryan & Maxim 2006:98f. unterscheiden zwei Verlaufsformen dieser Erkrankung: eine mildere Verlaufsform mit einer langsam fortschreitenden Sprachstörung („progressive isolierte Aphasie“ nach ICD-10-GM Version 2011) und nur geringen anderen kognitiven Defiziten; eine schwere Verlaufsform mit deutlichen Wesens- und Verhaltensveränderungen und schweren kognitiven Störungen im Spätstadium. Insbesondere bei der milderen Verlaufsform können therapeutische Maßnahmen greifen. Als sprachliche Symptomatik können sich eine insgesamt reduzierte Sprachproduktion und eine Verarmung des Wortschatzes einstellen. In einem späteren Stadium kann es zu Echolalien, Perseverationen und sprachlichen Stereotypien und beim Fortschreiten der Erkrankung auch zum Mutismus kommen.

image LEWY-KÖRPER-DEMENZ Die Lewy-Körper-Demenz ist nach dem deutschen Neurologen Friedrich Lewy benannt. Er beschrieb 1912 bei seinen Untersuchungen zur Parkinson-Erkrankung charakteristische interneuronale Einschlüsse, die sog. Lewy-Körperchen; diese lassen sich an vielen Stellen des Gehirns nachweisen. Der Verlauf dieser Erkrankung kann sehr wechselhaft, und die Symptomatik stark schwankend sein, führt aber zu einer Demenz. Typisch sind ← 11 | 12 → Störungen der kognitiven Leistung, gelegentliche Verwirrtheit, Aufmerksamkeitsstörungen, visuelle Halluzinationen und oftmals eine der Parkinson-Erkrankung vergleichbare Symptomatik, d.h. Rigor und Tremor. Die mit dieser Grunderkrankung auftretenden Sprachstörungen sind bisher nur wenig beschrieben. Sie treten im Allgemeinen erst in einem späteren Stadium der Erkrankung auf. Es zeigen sich dysarthrische Störungen, semantische und Wortfindungsstörungen sowie eine Verlangsamung der Sprachproduktion.

image ANDERE DEMENZIELLE STÖRUNGEN Es gibt eine Reihe weiterer Grunderkrankungen, die demenzielle Störungen bedingen (können), aber seltener auftreten. Dazu gehören u.a. die Parkinson-Krankheit, Morbus Huntington, die Creutzfeld-Jakob-Krankheit, demenzielle Störungen als Folge von Alkohol-Abusus, Morbus Wilson (eine Stoffwechselerkrankung) u.a.m. Bei allen diesen Erkrankungen kann es auch zu Störungen der sprachlichen Leistungen und Kommunikation kommen, die sich im Verlauf der Erkrankung unterschiedlich ausprägen. Im Vordergrund stehen meist dysarthrische Störungen wie Artikulationsstörungen unterschiedlicher Art oder Mutismus und an Aphasien erinnernde Ausfälle wie Wortfindungsstörungen, Sprachverständnisstörungen usw. Charakteristisch für diese Erkrankungen ist, dass ihr Verlauf anhand der Symptome in typische Phasen oder Stadien untergliedert werden kann; dementsprechend sind auch die sprachliche Symptomatik und der Schweregrad der sprachlichen Störungen verlaufsabhängig.

image DEMENZTESTS Grundsätzlich sollte das Vorliegen einer demenziellen Störung sowohl durch eine ärztliche Diagnostik als auch durch einen der vorhandenen Demenztests abgesichert werden. Eine nicht abgesicherte Zuweisung dieser Diagnose z.B. auf der Grundlage normaler Altersvergesslichkeit oder Verlangsamung der Sprechtätigkeit o.ä. ist wegen der möglichen Folgen für den Betroffenen in keinem Fall akzeptabel. Ob die Zuweisung dieser Diagnose allein auf der Grundlage einer allgemeinen klinischen Untersuchung, d.h. ohne Verwendung eines der gebräuchlichen (möglichst standardisierten) Tests akzeptabel ist, dürfte im Hinblick auf die möglichen Rechtsfolgen dieser Diagnose heutzutage als eine eher fragwürdige Vorgehensweise zu werten sein. Demenztests werden üblicherweise von Neuropsychologen oder Neurologen durchgeführt. Im Hinblick auf den eventuellen Bedarf an ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen sowohl im neuro-psychologischen als auch im klinischlinguistischen Bereich ist eine adäquate Diagnostik unverzichtbar (wird aber leider nicht immer durchgeführt). Dies liegt im Interesse des Betroffenen und der Familienangehörigen und kann sich nicht zuletzt auch aus mehreren juristischen Gründen als wichtig erweisen, insbesondere aus betreuungs-, versorgungs- und erbrechtlichen Gründen. Davon abgesehen kann man mit dem Verlangen einer wissenschaftlich abgesicherten Testung „voreilige Diagnosen“ aufgrund einer Fehleinschätzung altersgerechter Leistungsveränderungen unterbinden. Es gibt ← 12 | 13 → eine ganze Reihe von Tests und Testbatterien, die sich dazu eignen. Erwähnt seien hier nur der Demenz-Test (DT) von J. Kessler, P. Denzler und H.J. Markowitsch und der Mini-Mental-Status-Test (MMST) von M. F. Folstein, S. E. Folstein, P. R. McHugh, J. Kessler, P. Denzler und H. J. Markowitsch.

Der MMST ist ein nur etwa zehn Minuten dauerndes Screening-Verfahren zur Untersuchung „kognitiver Störungen bei älteren Personen“. Erfasst werden Leistungen wie Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache usw. Dieses „minimalistische“ Screening-Verfahren dient allerdings nur zur Ergänzung ausführlicher Untersuchungen oder Tests. Der Demenz-Test (DT) enthält den MMST als einen seiner Bestandteile. Er beinhaltet einen Gedächtnistest, einen Apraxietest und eine Testung der Orientierung. Daneben bietet er ein Fremdrating für Personen, die nicht mehr testbar sind. Für seine Durchführung ist etwa 1/2 Stunde zu veranschlagen. Selbstverständlich darf die Testung und Auswertung nur von ausgebildetem Fachpersonal durchgeführt werden.

image KOMMUNIKATION UND TEILHABE Teilhabe ist ein Konzept, das insbesondere durch seine Aufnahme und Verwendung in der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) zu einem wesentlichen Maßstab im Umgang mit behinderten Menschen und für die Zielsetzungen therapeutischen Handelns bestimmend geworden ist. Dem in bestimmten Leistungen behinderten Menschen soll mithilfe geeigneter therapeutischer Maßnahmen die Teilhabe an alltäglichen Situationen im Kontext seines Lebens ermöglicht und/oder erleichtert werden. Dem hat im Gefolge dessen auch das deutsche Sozialgesetzbuch Rechnung getragen, nämlich im SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen; es heißt dort in § 1: „Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. …“ (Hervorhebung von B.S.). Wesentlich am Teilhabe-Konzept ist der enge Bezug zu den je individuellen Lebensbedingungen und -situationen, d.h. dem Betroffenen soll ermöglicht werden, die von ihm prämorbid ausgeübten Tätigkeiten und Verrichtungen trotz einer vorhandenen Behinderung oder Störung weiterhin auszuüben und die im Wege stehenden Hindernisse („Barrieren“) zu beseitigen oder zu minimieren - soweit dies im Rahmen des jeweiligen Krankheitsbildes möglich ist. Zielsetzung ist, Selbständigkeiten der Betroffenen zu erhalten und zu fördern. Was bedeutet dies konkret im Zusammenhang mit sprachlichen Leistungen? Es geht nicht darum, eine völlig allgemeine Zielsetzung anzustreben, wie z.B. „wieder sprechen“ zu können. Es sollen umschriebene Teilhabeziele angegeben werden, die der Betroffene für die Bewältigung seines Alltagslebens erreichen möchte; dazu einige Beispiele: ← 13 | 14 →

Ein passionierter Briefmarkensammler möchte weiter seinem Hobby nachgehen und wieder einschlägige Fachkataloge und die Aufschriften auf den Briefmarken lesen können.

Ein Richter a.D. möchte wieder an den regelmäßigen Treffen seiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen teilnehmen und fachbezogene Gespräche führen können.

Details

Seiten
252
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653051636
ISBN (ePUB)
9783653968866
ISBN (MOBI)
9783653968859
ISBN (Hardcover)
9783631662014
DOI
10.3726/978-3-653-05163-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
sprachliche Aktivierung Förderübungen Sprachstörungen Demenzberater Demenz Demenzbegleiter
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 251 S., 95 Tab., 2 Graf.

Biographische Angaben

Berthold Simons (Autor:in)

Berthold Simons ist Klinischer Linguist an der Neurologischen Klinik Bad Salzhausen. Er studierte Linguistik und Psychologie an der Universität Köln und ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Sprachtherapie. Seine Hauptinteressen liegen in den Bereichen Diagnostik und Therapie der Akutaphasie sowie in der Entwicklung von Materialien für die Behandlung von Sprachstörungen.

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