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Vor dem Gesetz

«Transitional Justice» in Brasilien und die Problematik der strafrechtlichen Verantwortung für Straftaten der Militärdiktatur

von Lauro Joppert Swensson Jr. (Autor:in)
©2015 Dissertation 364 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor befasst sich mit der Transitional Justice-Bewegung in Brasilien – einer Vereinigung, die sich mit der in der Vergangenheit begangenen Staatskriminalität auseinandersetzt. Nach dem Übergang von einem repressiven diktatorischen System zu einer demokratischen politischen Ordnung stellt sich die Frage, wie auf Menschenrechtsverletzungen, die in dem früheren System und in dessen Verantwortung begangen wurden, reagiert werden soll. Im Fall von Brasilien geht es um die strafrechtliche Vergangenheitsaufarbeitung nach dem Zusammenbruch der Diktatur und die zentrale Frage, ob Personen, die für die systemkonformen Menschenrechtsverletzungen seinerzeit verantwortlich waren, in der heutigen Republik strafrechtlich belangt werden können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • Erster Teil Staatskriminalität und Transitional Justice
  • I. Der Staat als „Verbrecher“
  • 1. Begeht der Staat Verbrechen?
  • a) Nein. Der Staat begeht keine Verbrechen
  • b) Ja. Der Staat begeht Verbrechen
  • 2. Die Gewalt des „Rechts-Staates“
  • 3. Staatskriminalität
  • a) Begriff
  • b) Zeichen
  • 4. Zur Legitimation und Limitation des Staates: der Grundrechte schonende, bürgerlich-demokratische Rechtsstaat
  • a) Der Staat schützt die Bürger. Aber wer schützt die Bürger vor dem Staat?
  • b) Die Legitimationsmodelle der liberalen Vertragstheorie
  • c) Demokratie
  • d) Rechtsstaat
  • e) Grundrechte
  • f) Strafrecht
  • g) Einwand („progressive history“)
  • II. Die Fahndung nach Verantwortlichkeit: die Transitional Justice Bewegung
  • 1. Die Tendenz zur Straflosigkeit staatlicher Kriminalität
  • 2. Die Gegentendenz des Transitional Justice zur Verantwortung staatlicher Kriminalität
  • a) Vergangenheitsbewältigung und Transitional Justice
  • b) Kritik an dem Begriff
  • 3. Transitional Justice und die Fahndung nach Verantwortung staatlicher Kriminalität
  • 4. Über die Konstruktionen der Verantwortlichkeit
  • a) Zur Systemrelativität der Verantwortlichkeit
  • b) Das Verantwortlich-Machen
  • c) Verantwortung und Transitional Justice
  • Zweiter Teil Zur Bestrafung der staatlichen Kriminalität in Brasilien
  • I. Diktatur
  • 1. Die bleiernen Jahre
  • a) Militärdiktatur
  • b) Politische Repression: die Struktur
  • c) Politische Repression: die Ergebnisse
  • 2. Die autoritären Utopie der Diktatur zu Erziehung und Sanierung
  • a) Autoritäre Utopie
  • b) Pädagogik
  • c) Sanierung
  • 3. Die Straflosigkeit für die staatliche Kriminalität in der Diktatur: Usurpation und Bruch des bestehenden Rechts
  • II. Neue Republik
  • 1. Der Rückzug in die Kasernen
  • a) Die Öffnung zu der „Neuen Republik“
  • b) Der Abbau der Diktatur: der Prozess der demokratischen Liberalisierung
  • 2. Transitional Justice des Vergessens und der Wiedergutmachung
  • a) Veränderung von Image
  • b) Wiedergutmachung
  • c) Schweigen
  • 3. Die Straflosigkeit der staatlichen Kriminalität in der Neue Republik: Amnestie, Verjährung und die Forderung nach der Achtung vor dem Gesetz
  • III. Die Ära der Verantwortlichkeit
  • 1. Staatskriminalität in der Ära der Verantwortlichkeit
  • a) Die Criminal Transitional Justice Bewegung
  • b) Justice Cascade
  • c) Der Schlüsselbegriff der Verantwortlichkeit, das allgemeine und allgegenwärtig Strafbedürfnis und die Transformationen (oder Krisis) des modernes Strafrecht
  • 2. Transitional Justice des Gedächtnis und der Bestrafung
  • a) Änderung eines Modells?
  • b) Gedächtnis
  • c) Bestrafung
  • 3. Die Bestrafung staatlicher Kriminalität: ein juristisches Problem
  • 4. „Verdeckter“ und „offener“ Rechtsmoralismus
  • Dritter Teil Diesseits und Jenseits des Gesetzes
  • I. Diesseits des Gesetzes (1): Das Argument der richtigen Auslegung des Amnestiegesetzes
  • 1. Voluntas legis
  • 2. Politische Straftaten
  • 3. Mit politischen Straftaten im Zusammenhang stehende Verbrechen
  • 4. Straftaten, die aus politischen Gründen begangen wurden
  • 5. Straftaten ohne politisches Motiv
  • 6. Dauerdelikte
  • II. Diesseits des Gesetzes (2): Das Argument der mangelnden demokratischen Legitimation und der Verfassungswidrigkeit des Amnestiegesetzes
  • 1. Mangel an demokratischer Legitimation
  • 2. Gesetzesänderung
  • 3. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
  • a) Formelle Verfassungsmäßigkeit
  • b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
  • 4. Klageschrift des Prozesses ADPF/153
  • a) „Gleichstellung in Sicherheitsfragen“ (Art. 5 caput CF)
  • b) „Verheimlichung der Wahrheit“ (Art. 5, XXXIII CF)
  • c) „Menschenwürde“ (Art. 1, III CF)
  • d) „Tyrannei der Werte“
  • 5. Rückwirkungsverbot (Art. 5, XL CF)
  • a) Rückwirkende Interpretation
  • b) Amnestie und Aufhebung des Strafgesetzes
  • c) Amnestie und Maßnahmegesetz
  • 6. „Voluntas legislatoris“
  • a) Maßgeblichkeit des seinerzeitigen Rechts als Konsequenz des Rückwirkungsverbots
  • b) Zur historischen Auslegung des Amnestiegesetzes
  • c) Das vorgeschobene Argument des „Abkommens“
  • III. Diesseits des Gesetzes (3): Das Argument des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und der Verletzung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention
  • 1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • 2. Unverjährbarkeit und Verbot der Amnestie
  • 3. Strafrechtliches Paradox („Paradoxe penal“)
  • 4. Das Nichtvorhandensein von Normen im internen Recht zu dem Zeitpunkt der Geschehnisse, die ausdrücklich die Unverjährbarkeit und das Verbot von Amnestiegesetzen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit festlegen
  • 5. Prozess der Internalisierung
  • 6. Internationale Gewohnheit
  • 7. Der Fall Gomes Lund vs. Brasilien („Guerrilha des Araguaia“)
  • 8. Zur Kompetenz des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • 9. Die Menschenrechte schützen die Bürger – wer schützt die Bürger vor den Menschenrechten?
  • IV. Jenseits des Gesetzes: das Gerechtigkeitsargument
  • 1. Die Erweiterung der Debatte
  • 2. Gegen das Gesetz: der „gekreuzigte“ Rechtspositivismus
  • 3. Gerechtigkeit als negatives Kriterium der Bewertung
  • a) Die Aporie der Gerechtigkeit
  • b) Die Erfahrung der (Aporie-)Gerechtigkeit
  • 4. Gerechtigkeit als Kriterium von Rechtsgültigkeit?
  • a) Offener Rechtsmoralismus
  • b) Gesetzespositivismus, Rechtsrealismus, Rechtsmoralismus
  • 5. Vier Kommentare zur Rechtsgeltung
  • a) Geltung der Rechtsnorm vs. Geltung der Rechtsordnung
  • b) Theorien zur Rechtsgeltung vs. Theorien zum Recht
  • c) Rechtsontologie vs. Praktische Rechtsphilosophie
  • d) Gleichlautende Schlussfolgerungen?
  • 6. Für das Gesetz: Argumente zur Trennung von Recht und Moral
  • a) Die Radbruchsche Formel – ein rechtsphilosophischer Weg zur Strafbarkeit?
  • b) Moralischer Relativismus und Willkür
  • c) Rechtsunsicherheit
  • d) Verlust von Wichtigkeit und Durchschlagskraft
  • e) Trennung zwischen dem „Sein des Sollens“ und dem „Sollen des Sollens“
  • f) Geringeres kritisches Potential
  • g) Zwischenbilanz
  • 7. Das Problem eines „rückwirkenden“ Rechtsmoralismus
  • Vierter Teil Vor dem Gesetz
  • I. Vor dem Gesetz
  • 1. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Rechtsstaat
  • 2. Über die Machtlosigkeit und die Angst vor Schlussfolgerungen
  • 3. Über die Rolle des Strafrechts bei der Verarbeitung des Unrechtssystems
  • 4. Fazit
  • II. Schluss: Drei Anmerkungen zur „Gerechtigkeit des Übergangs“ und zum „Übergang der Gerechtigkeit“ des Transitional Justice
  • 1. Vor dem Gesetz
  • 2. Bestrafung ohne Strafe? Andere Wege zur Verantwortlichkeit
  • 3. Diktatur und Gedanke
  • Literaturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

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Einleitung

„Zu jeder Zeit gibt es einige Worte, in denen sich der objektive Geist einer Gesellschaft in höchster Verdichtung bündelt. Erkennbar wird dies nicht nur am häufigen Gebrauch dieser Worte in der Alltagskommunikation, sondern vor allem auch daran, dass dies keinen Widerspruch auslöst oder wenigstens die Frage, wer oder was denn damit gemeint sei. Gegenwärtig scheint der Begriff der ‚Verantwortung‛ diese Rolle innezuhaben“ – stellte Klaus Günther fest.1

Während die Verantwortlichkeit heute ein Schlüsselbegriff ist, um auf die tiefgreifende Veränderung im Selbstverständnis und in der Befindlichkeit moderner Gesellschaften hinzuweisen, und das Strafrecht expandiert,2 klopft die Straflosigkeit von grausamen Straftaten, die im Namen des Staates begangen wurden, wie offene Wunden, die nicht heilen wollen. So bestimmt die Straflosigkeit von Straftaten wie Folterungen, dem gewaltsamen Verschwinden von Personen und außergerichtlichen Hinrichtungen, die während der politischen Repression der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 begangen wurden, die Geschichte Brasiliens. Eine Geschichte, die darauf besteht, nicht zu vergehen. Gegen niemanden wurde wegen solcher krimineller Handlungen strafrechtlich vorgegangen.

Nach dem Inkrafttreten des Amnestiegesetztes vom 28. August 1979 (Gesetzes Nr. 6683/79) wird diese Straflosigkeit mit den Hauptargumenten der bilateralen Amnestie und auch der späteren Verjährung gerechtfertigt, so wie sie das Gesetz vorschreibt. Angesichts der Extrapolation der Verjährungsfrist, des so ausgelegten Amnestiegesetzes und der Forderung, dass in einem demokratischen Rechtsstaat das positive Gesetz geachtet werden solle, war es jahrzehntelang gelungen, zu behaupten, dass es nicht mehr möglich sei, die Täter vergangener staatsverstärkter Kriminalität durch das Strafrecht für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen.

Doch, wie Max Weber schreibt, „Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen: … der neue Trieb erwacht, / Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken, / Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht / Den Himmel über mir und unter mir die Wellen“.3 ← 21 | 22 →

Erst nach dem die Ost-West-Konfrontation aufhörte, konnten die ideologisch zementierten Positionen, die jede Menschenrechtsverletzung nur danach beurteilten, welchem der beiden Machtblöcke sie nutzen oder schaden würde, aufgebrochen werden. Erst jetzt konnten die Verbrechen als das wahrgenommen werden, was sie waren: Schwerste und massenhaft begangene Menschenrechtsverletzungen. Vor allem in den eher peripheren Staaten dieser beiden Machtblöcke wurden auch von dem sich rechtsstaatlich und menschenrechtsfreundlich darstellenden Westen oftmals Militärdiktaturen begünstigt, gefördert und geschützt, die solche Menschenrechtsverletzungen begingen. Dies trifft insbesondere auf viele Länder Lateinamerikas zu.

Die Undenkbarkeit einer Bestrafung der vom brasilianischen Ausnahmeregime begangenen Straftaten, etwas, das in gewisser Weise sowohl von der Bevölkerung als auch von den Juristen schon angenommen worden war und auch in der Praxis der Rechtsprechung als festgeschrieben galt, wurde dann kurz nach der Jahrtausendwende in Frage gestellt. Die Tatsache, dass die schwierige Frage nach der Straflosigkeit der Folterer nicht beantwortet worden war und bis dato in der politischen und juristischen Agenda lediglich unterschwellig bestanden hatte, wurde jetzt offenbar. Sie kann nun im brasilianischen Alltag nicht mehr mit mangelndem Interesse, Vergesslichkeit oder Heuchelei behandelt werden. In der „Ära der Verantwortlichkeit“ dieses beginnenden 21. Jahrhunderts wurde zusammen mit der Transitional Justice Bewegung die Frage diskutiert, ob Staatsbeamte, die Verbrechen und/oder gesetzliches Unrecht (im Zusammenhang mit der politischen Repression der Militärdiktatur) begangen haben, dafür strafrechtlich verantwortlich gemacht werden sollen. Außerdem wird debattiert, wie diese Verantwortlichkeit begründet werden könnte.

Problematisch ist dabei, dass, wenn den Forderungen nach einer Strafverfolgung der Straftäter in der Diktatur nachgegangen werden soll, die (liberalen) Garantien der Amnestie, der Verjährung und des Rückwirkungsverbots, die im geltenden brasilianischen Recht vorgesehen sind, um die Strafmacht des Staates gegen seine Bürger einzugrenzen, sowie die allgemeine Forderung nach dem Respekt gegenüber den (formell) gültigen Gesetzen aufgehoben werden müssen. Es stimmt, dass die durch den Staat verursachten Folterungen und Morde nicht straflos bleiben dürfen, nur weil sich der Staat das Recht gegeben hatte, zu foltern und zu töten. Wo ist jedoch die Grenze zwischen der Rechtssicherheit (Verbot der Rückwirkung) und der Gerechtigkeit im konkreten Fall zu ziehen? Dies ist eine Frage, die beträchtliche Schwierigkeiten aufwirft. Einerseits besteht eine Spannung zwischen der Garantie der Legalität und der institutionellen Gewalt, die in der Vergangenheit begangen wurde. Andererseits stellt sich u. a. die Frage, ob das im demokratischen Rechtsstaat der neuen brasilianischen Republik geltende Modell der strafrechtlichen Verantwortung für diejenigen Straftaten, die von der Diktatur begangen wurden, aufgehoben, ersetzt oder bestehen bleiben soll.

Kann das Recht gravierende Verstöße gegen Menschenrechte amnestieren und verjähren lassen? Kann das Recht ein Verhalten, das in der Vergangenheit gesetzlich erlaubt war, akzeptiert und praktiziert wurde, heute jedoch als moralisch verwerflich und politisch unakzeptabel angesehen wird, bestrafen? Kann ein Satz, der zwar nicht ← 22 | 23 → im Gesetz steht, aber von „den meisten als richtig“ betrachtet wird, ein Rechtssatz sein? Bis zu welchem Punkt kann oder soll die (legale, normative) Selbstbegrenzung des Strafrechts gehen?

Diese Fragen zu beantworten, bedeutet nicht einfach einige Henker einzusperren, die im Namen der Gerechtigkeit den Opfern gegenüber wegen ihrer begangenen Strafhandlungen im Gefängnis sitzen sollten. Die Antwort auf die Frage nach der Strafgerechtigkeit gegenüber den Opfern (durch die Bestrafung der Tätern) beinhaltet hier auch die Frage, welchen Rechtsstaat wir für uns selber wollen: Soll es ein Staat und ein Recht sein, das auf dem Gesetz beruht, dessen Anwendung unabhängig von der Situation der betroffenen Adressaten ist? Oder soll es ein Staat und ein Recht sein, das in bestimmten Fällen, die als außergewöhnlich ungerecht betrachtet werden oder die bestimmte „Feinde“ betreffen, Ausnahmen vom Gesetzlichkeitsprinzip zulässt?

Damit ist der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit genannt: Die Bewegung der Transitional justice, die heute in Brasilien als Reaktion auf die in der Vergangenheit begangene Staatskriminalität existiert, zu erörtern. Es wird die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung kritisch beleuchtet, die innerhalb der Debatte der brasilianischen Transitional Justice besteht, indem die Argumente, die für eine Bestrafung der Täter der Diktatur vorliegen, systematisiert und „dekonstruiert“ werden. Durch diese Vorgehensweise soll endlich eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob eine Bestrafung der Urheber der Staatskriminalität juristisch zu begründen ist oder nicht.

In der vorliegenden Arbeit geht es also um die strafrechtliche Vergangenheitsaufarbeitung nach dem Zusammenbruch der brasilianischen Diktatur (1964–1985). Das allgemeine Thema lautet „Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht“ bzw. Criminal Transitional Justice, worunter die zentrale Frage zu verstehen ist, ob Personen, die für die „systemkonformen“ Menschenrechtsverletzungen seinerzeit verantwortlich waren, in der heutigen Republik strafrechtlich belangt werden können.

Wie soll ein demokratischer Verfassungsstaat mit den Hinterlassenschaften einer Diktatur umzugehen? Wie wird auf die allgemeine Verletzung von Rechten reagiert, die, obwohl sie theoretisch durch das Rechtssystem geschützt waren, praktisch mit Zustimmung und unter der Toleranz des Staates verletzt wurden? Wie soll die Rechtsordnung, insbesondere die Strafrechtsordnung, auf staatsgestützte Kriminalität, die vor einem politischen Systemwechsel begangen wurde, reagieren? Kann die vergangene Staatskriminalität nachträglich noch verfolgt und sanktioniert werden, wenn diesem Bemühen schon bestimmte rechtsstaatliche Grundsätze und Rechtsinstitute entgegenstehen? Inwieweit kann und soll das Strafrecht als Instrumentarium zur Aufarbeitung vergangenen Systemunrechts beitragen?

Insbesondere geht es um das Problem der strafrechtliche Verantwortlichkeit von Taten, die sowohl durch gesetzliches Unrecht, als auch durch eine (in der Diktatur beschlossene) Amnestie (Gesetzes Nr. 6683/79, vorgesehen im Art. 107, II des Strafgesetzbuches) und der Extrapolation der Verjährungsfrist (Art. 107, IV und Art. 109 Strafgesetzbuch) gedeckt ist. Die Frage zu beantworten, ob und wenn ja, auf welche Weise es heute noch Sinn macht bzw. gegebenenfalls Sinn machen könnte, von einer ← 23 | 24 → strafrechtlichen Verantwortung bzw. Bestrafung zu sprechen, ist sicherlich eine der größten Herausforderungen für diejenigen, die sich mit dem Thema des Transitional Justice in Brasilien beschäftigen, und das Hauptziel der vorliegenden Arbeit.

Die Forschung ist begrenzt auf das Problem der strafrechtliche Verantwortlichkeit für Staatskriminalität, d. h. für Handlungen, die von Agenten des strafrechtlichen Subsystems DOPS-DOI/CODI begangen wurden, die unter anderem wegen Folter, Mord, Entführung und Verschleppung von Mitgliedern des bewaffneten Widerstandes gegen die Diktatur oder gegen einfache Regimegegner verantwortlich sind. Die Studie behandelt keine Straftaten, die von Gegnern des autoritären Regimes begangen wurden. Damit bezieht sie eine Position gegen die Forderung, die von einigen Teilen der Gesellschaft aufgestellt wurde, die nur unter der Bedingung mit der Diskussion einverstanden waren und sind, dass die Handlungen beider Seiten thematisiert werden („Theorie von den zwei Dämonen“).

Die vorgenommene Eingrenzung ist aus zweierlei Gründen zu verteidigen: Ein Grund beruht auf methodisch-formalen Kriterien und dem Recht des Autors, innerhalb eines weitläufigen Universums den Ausschnitt und das Objekt seiner Studien selbst zu definieren. Der andere Grund ist materiell. Die Gewalt und die Kriminalität derjenige, die gegen die Diktatur gekämpft haben, mit der von denjenigen, durch die die Diktatur Bestand hatte, gleichzustellen, bedeutet: (a) Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit, das auf der Bewältigung des Problems der Staatskriminalität (innerhalb der größeren Problematik der Transitional Justice) liegt, auf etwas anderes zu richten. (b) Die Schwere der Taten, seine Folgen und Implikationen herabzusetzen oder zu neutralisieren. (c) Eine solche Gleichstellung bezweckt direkt oder indirekt eine Rechtfertigung der schweren Menschenrechtsverletzungen und dies gilt es zu verhindern.4 Obwohl die Aussage, dass während des Konflikts Exzesse und Verbrechen auf beiden Seiten begangen wurden, nicht falsch ist, so ist es doch falsch, die beiden Seiten so miteinander zu vergleichen, als ob es sich um „gleiche“ oder „ähnliche“ (mit der gleichen Macht, Organisation, Ressourcen usw.) gehandelt hätte. Außerdem ist die Bemerkung notwendig, dass die meisten Gegner der Diktatur für ihre „Verbrechen“ schon „bestraft“ wurden. Viele von ihnen wurden verhaftet, gefoltert und getötet. Eine große Anzahl wurde vor Gericht gestellt und für Verbrechen gegen die nationale Sicherheit verurteilt. Aber die Straftaten der Agenten und Kollaborateure der Diktatur wurden bis heute weder strafrechtlich verfolgt noch wurden die Täter zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen. Die Staatskriminalität blieb unbestraft.

In der brasilianischen Debatte über die Strafbarkeit der Staatskriminalität haben sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Bestrafung die Angewohnheit, ihre ← 24 | 25 → Meinungen zu verteidigen und ihre Urteile auf Grund von moralischen und politischen Argumenten zu fällen, die i. d. R. emotional sehr aufgeladen sind und die in einem Rahmen hervorgebracht werden, der in der schlagwortartig Unterscheidung zwischen „Gut“ und „Böse“ besteht und durch keine Alternative zu „Versöhnung oder Bestrafung“ gekennzeichnet ist. Es ist nachvollziehbar, dass so gehandelt wird, vor allem da es sich um traumatische Erfahrungen handelt, die auf den in der Vergangenheit begangenen Gewalttaten beruhen. Nur, mit dem Recht verhält es sich anders:5 „Die Argumentationsstrukturen, die es ermöglichen, partikuläre (oder auch: universelle) nicht-juristischen Normen in der Form von Rechtsbehauptung auszudrücken, bedürften einer eigenen Untersuchung“.6

Zu wissen, wie das Recht auf juristischem Weg, im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bewertungen, dieses Problem lösen kann und soll, ist ein Ziel der vorliegenden Arbeit. Dies hat zur Folge, dass, um zur Lösung des Problems beitragen zu können, definiert werden muss, was rechtlich oder nicht rechtlich ist; genauer gesagt, was das Recht von anderen normativen Systemen (wie der Moral, Politik, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft) unterscheidet. Mehr noch, Ziel dieser Arbeit ist, eine Antwort darauf zu finden, wie ein Strafrecht, das in einer rechtsstaatlichen, deliberativen Demokratie entsteht, das Problem der strafrechtlichen Verantwortung für die während der Diktatur begangenen Straftaten lösen kann und soll, indem der Unterschied und die Identität zwischen einem „legalen“ oder „legaleren“ Strafrecht und anderen „weniger legalen“ Strafrechten, speziell denen von autoritären Regimen, eingegrenzt werden soll.

Die vorliegende Untersuchung hat deshalb einen doppelten Zweck: die Transi­tional Justice Bewegung mittels des Rechts (und des Strafrechts) und, auf der anderen Seite, das Recht (und das Strafrecht) mittels der Transitional Justice zu überdenken. Da die Regelhaftigkeit sowohl ein Derivat von Regeln als auch ein Produkt der Praxis ist, fördert das Thema der Transitional Justice auch einen speziellen Wunsch danach, das juristische Phänomen Brasiliens zu verstehen. Die Begriffe und Theorien (wie Amnestie, Verjährung, Rechtsgültigkeit, sogar der eigentliche Rechtsbegriff) sollen (und können hier) auf ihren Gebrauch in der aktuellen Praxis geprüft werden. Fallstudien über Transitional Justice, die die heutigen Gerichte und die wissenschaftliche Lehre diskutieren, sollen (und können hier) in die allgemeinen und abstrakten Analysen über das Recht einbezogen werden.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil befasst sich, mittels einer kritischen Analyse der Begriffe „Staatskriminalität“ und „Transitional Justice“, mit dem Phänomen eines staatlichen Unrechtssystems (Kap. I) und der „Transitional-Justice-Bewegung“, die als Reaktion auf die ganz überwiegend zu konstatierende Tendenz zur Straflosigkeit staatlicher Kriminalität, verstanden werden kann (Kap. II). ← 25 | 26 →

Im zweiten Teil der Arbeit wird zunächst eine Rekonstruktion der politischen und rechtlichen „Wirklichkeit“ unternommen. Damit versuche ich zu erläutern, dass die strafrechtliche Verantwortung staatlicher Kriminalität eine komplexe Konstruktion ist, die u.a. von dem jeweiligen Typ des politischen Regimes und dem jeweiligen Modell von Transitional Justice abhängig ist. Es handelt nicht um eine objektive Feststellung von Tatsachen, sondern um eine normativ imprägnierte Zuschreibung. Verantwortlichkeit wird von den Beteiligten gemäß den historischen und sozialen Situationen, in der sie jeweils leben, interpretiert. Wenn spezifisch die brasilianische Transitional Justice untersucht wird, ist es möglich, mindestens drei verschiedene Arten der Konstruktion von strafrechtlicher Verantwortung festzustellen, die eng mit den Perioden der Diktatur (Kap. I), der Neuen Republik (Kap. II) und der gegenwärtigen „Ära der Verantwortlichkeit“ (Kap. III) verknüpft sind. In jeder Konstruktion kann man, im Augenblick der Zurechnung oder Nichtzurechnung von Verantwortung, den jeweiligen Vorrang der Kriterien entweder der formellen Rechtskraft der gültigen Rechtsnormen; oder der Handlungspraktiken der Machthaber mit ihren offiziellen oder inoffiziellen Regeln; oder der moralischen Werte desjenigen, der Verantwortung zurechnet, feststellen.

Im Fokus des dritten Teils der Arbeit steht die Argumentation, die in Brasilien von den Vertretern der „Criminal Transitional Justice“ entwickelt wird, nach der es doch möglich sei, die Bestrafung der Straftäter der Diktatur zu begründen – und dies ohne gesetzliche Strafaufhebungsgründe der Amnestie und der Verjährung zu überspielen und das Rückwirkungsverbot zu verletzten („diesseits des Gesetzes“). Es werden hier sowohl das Argument der „richtigen Auslegung“ des Amnestiegesetzes (Kap. I), der mangelnden demokratischen Legitimation und der Verfassungswidrigkeit des Amnestiegesetzes (Kap. II), als auch das Argument des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und der Verletzung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Kap. III) diskutiert.

Details

Seiten
364
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052183
ISBN (ePUB)
9783653968545
ISBN (MOBI)
9783653968538
ISBN (Hardcover)
9783631662205
DOI
10.3726/978-3-653-05218-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Staatskriminalität Brasilianische Diktatur Vergangenheitsbewältigung Amnestie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 364 S., 1 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Lauro Joppert Swensson Jr. (Autor:in)

Lauro Joppert Swensson Jr. studierte Rechtswissenschaften an der Universidade de São Paulo und erwarb seinen Master of Law an der Universidade Metodista de Piracicaba (Brasilien). Er promovierte an der Universität Frankfurt am Main.

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