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Hugo von Hofmannsthals «Elektra»

Eine quellenbasierte Neuinterpretation

von Dorothée Treiber (Autor:in)
©2015 Dissertation 552 Seiten

Zusammenfassung

In ihrem Buch setzt sich Dorothée Treiber kritisch mit der weitverbreiteten These auseinander, Hugo von Hofmannsthals Elektra leide an einer klinischen Hysterie. Der Autorin zufolge hält diese Behauptung einer eingehenden Analyse der Quellenlage nicht stand. Dagegen wird deutlich, daß Wien zur Jahrhundertwende von zwei spektakulären Kindesmißhandlungsskandalen erschüttert wurde. Daß diese auch in Hofmannsthals Theaterstück Spuren hinterlassen haben, soll hier gezeigt werden. Darüber hinaus wird deutlich, daß sich seine Bearbeitung nahtlos in die Tradition der Elektratragödien einfügt und Freuds Hysteriekonzeption alles andere als Vorbildcharakter hatte. Untersucht wird auch der Einfluss der Tagespresse sowie der Schriften Tardieus über Kindesmißhandlung und Mißbrauch.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorbemerkung
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I. Elektras angebliche Hysterie
  • A. Hysterie und Hysterie oder: Was meint wer, wenn er von Hysterie spricht
  • 1. Hysterie als medizinischer Fachterminus
  • a. Die hysterische Krankheit bei den Griechen
  • b. Hysterie im Mittelalter
  • c. Hysterie im 19. Jahrhundert
  • α. Charcot
  • א. Der Fall Augustine
  • ב. Der hysterische Anfall nach Charcot
  • ג. Charcots Verdienste in der Hysterieforschung
  • β. Breuers „kathartisches Verfahren“
  • γ. Der Begriff der Konversionsneurose bei Freud
  • d. Moderne Definition der Hysterie
  • 2. Hysterie im allgemeinen Sprachgebrauch
  • a. Allgemeine Definition
  • b. Der Hysteriebegriff in der Literatur
  • c. Hysterische Zeitalter
  • d. Alfred Freiherr von Bergers Zeitungsrezension
  • e. Der Hysterie-Begriff bei Herrmann Bahr
  • α. Hermann Bahr und die Hysterie der Griechen
  • β. Bahrs „Dialog vom Tragischen“
  • γ. Hysterie und Katharsis
  • f. Schnitzler und die Hysterie
  • α. Schnitzler als Rezensent
  • β. Schnitzler und Freud
  • g. Hofmannsthals Verwendung des Hysteriebegriffs
  • B. „Das Schema Breuer-Freuds paßt nicht!“
  • 1. Hofmannsthals Lektüre der Studien über Hysterie
  • a. Politzers Umdeutung
  • b. Was interessierte Hofmannsthal an den Studien über Hysterie?
  • c. Wann las Hofmannsthal die Studien über Hysterie?
  • 2. Elektra und der Fall Anna O.
  • a. Anna O. alias Bertha Pappenheim
  • b. Diskrepanz zwischen dem Fall Anna O. und Elektra
  • c. Bertha Pappenheim und Elektra
  • d. Politzer
  • α. Elektras Sexualität nach Politzer
  • e. Weiterführungen von Politzers These
  • α. Urban
  • β. Martens
  • f. Anna O.s Krankheitsverlauf
  • g. Behauptungen
  • h. Weitere von Politzer abhängige Thesen
  • α. Kronberger
  • β. Uhlig
  • γ. König
  • i. Elektras angebliche ‚condition seconde‘
  • j. Anna O.s „condition seconde“ nach Breuer
  • k. Elektras Tanz als angebliche hysterische Katalepsie
  • l. Reminiszenzen
  • m. Worbs über Elektra und Anna O.
  • 3. Geistersehen als angebliches Anzeichen für Hysterie
  • a. Die Beziehung zum griechischen Totenglauben
  • b. Literarische Vorlagen des Geistersehens
  • 4. Verdrängte Sexualität als angebliche Gemeinsamkeit zwischen Elektra und Anna O.
  • 5. Die Bedeutung der Sexualität für die Hysterie
  • a. Das Thema ‚Sexualität‘ in den Studien über Hysterie
  • b. Freuds neue Erkenntnisse
  • α. Gemeinsamkeiten der klinischen und der umgangssprachlichen Beschreibung der Hysterie
  • β. Die Aufdeckung des Ursprungs
  • γ. Die Benennung des Täters
  • 6. Warum Agamemnons Ermordung nicht der Auslöser für eine hysterische Erkrankung Elektras sein kann
  • 7. Verbindung zum realen Mißbrauch
  • a. Tardieus medizinische Revelationen
  • b. Tardieus Schrift Les attentats aux moeurs
  • c. Tardieus Schrift Sur les blessures
  • d. Familiengeheimnisse
  • e. Die Rolle der Mütter
  • f. Das Schweigen der Kinder
  • g. Die „Verbindung von aktiver Grausamkeit und Gewalttätigkeit mit Wollust“
  • α. Der Fall Adelina
  • β. Typisches an diesem Fall
  • h. Reaktionen
  • i. Regelmäßig wiederkehrende Merkmale
  • j. Freuds neue Eindrücke bei Charcot
  • k. „Neues Motto: Was hat man Dir, Du armes Kind, getan?“
  • II. Vom Opfer zum Täter
  • A. Paradigmenwechsel in der Forensik
  • 1. Die Vertauschung von Opfer und Täter
  • B. Paradigmenwechsel bei Freud
  • 1. Vom mißbrauchten Kind zur hysterischen Lügnerin
  • 2. Freuds Streben nach Geld und Ruhm
  • 3. Freuds eigenes ‚Verklärungsspiel‘
  • 4. Aus eins mach zehn und zwei laß gehn…
  • 5. Das Problem der Verallgemeinerung
  • 6. Ödipus
  • a. Freuds Reduktion des Ödipus-Mythos
  • b. Täter oder Opfer?
  • 7. Freud und die „verlogenen Kinder“
  • 8. Die Geheimhaltungsstrategien des Freud-Archivs
  • III. Hofmannsthal und die mißhandelten Kinder
  • A. Adda
  • B. Motivische Einflüsse der zeitgenössischen Literatur
  • 1. Ferdinand von Saar, Die Steinklopfer
  • 2. Guy de Maupassant, Un parricide
  • C. Wien, November 1899
  • 1. Von unerhörten Leiden unerhörter Kinder
  • 2. Elternpaare, die ihre Kinder morden
  • a. Von Kindern, die „gequält, gemartert, mißhandelt wurden“
  • b. Der Fall Kutschera
  • c. Der Fall Hummel
  • d. Die Verhandlungen der Fälle Hummel und Kutschera
  • α. Verhandlung Hummel
  • β. 5 Motive für Hofmannsthals Elektra
  • γ. Sadismus
  • δ. Reaktion des Staatsanwalts
  • ε. Die Urteilsverkündung
  • ζ. Reaktionen der Öffentlichkeit
  • η. Konkrete Konsequenzen
  • θ. Verhandlung Kutschera
  • ι. Reaktionen
  • 1. der Nachbarn
  • 2. der Zeitungsleser
  • 3. der Staatsanwaltschaft
  • 4. Felix Dörmanns in der NFP
  • κ. Strafen
  • e. Freuds ausbleibende Reaktion
  • IV. Wintermärchen
  • A. Ein Weihnachtsmärchen
  • B. (K)ein Weihnachtsmärchen
  • C. Noch ein Weihnachtsmärchen: Hanneles Himmelfahrt
  • 1. Wien
  • 2. Hauptmanns Erlebnisse
  • 3. Reaktionen
  • D. Verleugnung hinter ‚Dekoration‘
  • V. Hofmannsthals Reaktionen
  • A. Fuchs – der mißhandelte Sohn
  • B. Elektra – die mißhandelte Tochter
  • 1. „Frei nach Sophokles“
  • 2. Tradition und Neuschöpfung
  • a. Elektra vor Sophokles
  • α. Homer
  • β. Stesichoros
  • γ. Aischylos
  • δ. Euripides
  • b. Sophokles
  • c. Antike Bearbeitungen nach Sophokles
  • α. Seneca
  • β. Dictys Cretensis
  • d. Elektra in der Neuzeit
  • α. Giovanni Boccaccio
  • β. Hans Sachs
  • γ. Tragédie classique
  • δ. Die langen Anlaufschwierigkeiten der Elektradramen
  • ε. Nicolas Pradon
  • ζ. Hilaire-Bernard de Requeleyne, baron de Longepierre
  • η. Prosper Jolyot de Crebillon
  • θ. Voltaire
  • ι. Johann Jakob Bodmer
  • κ. Jean Georges Noverre
  • λ. Friedrich Wilhelm Gotter
  • μ. Freiherr von Dalberg
  • ν. Guillaume Dubois de Rochefort
  • ξ. Nicolas-François Guillard
  • ο. Alexandre Soumet
  • π. Michael Beer
  • ρ. Alexandre Dumas
  • σ. Eduard Tempeltey
  • τ. Leconte de Lisle
  • υ. Georg Siegert
  • 3. Antike Dramenaufführungen in Wien vor Hofmannsthal
  • a. Die Spielpläne
  • b. Ein zu lösendes Problem: der antike Chor
  • c. Die Veränderung der Spielpraxis im 19. Jahrhundert als bedingende Notwendigkeit für Hofmannsthals Elektra-Konzeption
  • α. Clara Ziegler
  • β. Charlotte Wolter
  • γ. Eleonora Duse
  • δ. Das Theater der Salpêtrière
  • ε. Sarah Bernhardt
  • ζ. Die Bühne der Salpêtrière und die Pathologisierung der Kunst
  • η. Gertrud Eysoldt als Elektra
  • 4. Noch einmal: Was hat man dir, du armes Kind, getan?
  • a. Elektras Bewältigung der Mordtat an ihrem Vater
  • b. „Ihnen muß ich dann noch Sclavin sein“
  • c. Mißhandlungen
  • d. Mißbrauch
  • α. ’Hλἐκτρα ᾄλεκτρος
  • β. Elektras angebliche sexuelle Phantasien
  • γ. „Der mich zwang, alles zu wissen, wie es zwischen Mann und Weib zugeht“
  • δ. Die dreifache Konnotation des Stöhnens
  • ε. Elektras Mißbrauch durch Ägisth
  • ζ. Axt und Säugling
  • η. Elektras Schwäche
  • θ. Die Bedeutung der Axt
  • ι. Das Ausgraben der Axt
  • κ. Elektras Rachebedürfnis
  • λ. Elektras Vorwegnahme der Tat in ihrer Phantasie
  • μ. Szene Chrysothemis – Elektra
  • ν. Elektras Ekel
  • ξ. Enthüllendes Verbergen
  • e. Isolation von der Außenwelt
  • α. Der Palast
  • β. Die Bedeutung der Nacht
  • γ. Das Unheimliche
  • δ. Fassadenkultur
  • ε. „Eine Totenkammer war ihr Leben…“
  • f. Klytaimnestras Versagen
  • α. Klytaimnestra als Mutter
  • β. Mutterrolle und Mißhandlung
  • γ. Klytaimnestras Abhängigkeit von Ägisth
  • δ. Klytaimnestras Möglichkeiten als Frau
  • ε. Die Bewertung ihrer Tat
  • ζ. Albträume
  • η. Edelsteine
  • θ. Magie
  • ι. Klytaimnestras Begriffsstutzigkeit
  • κ. Dialektik zwischen Reden und Handeln
  • λ. Sprache und Wirklichkeit
  • μ. Sprachhandlungen
  • ν. Beziehung wird zum Ritual
  • ξ. Keine Wahrheit, nur Versionen
  • ο. Der Tod Rudolfs: 14 Versionen
  • π. Wo ist Gegenwart?
  • ρ. Das unrettbare Ich
  • σ. Generationenkonflikt
  • τ. Mykenische Herrscherin und Wiener Kaiserin
  • υ. Trauer
  • φ. Sissi und das Übersinnliche
  • 5. Der Einfluß der Familie Cenci
  • a. Hofmannsthals Sophokles- und Shelley-Lektüre
  • b. Familie Cenci
  • c. Stendhal, Les Cenci
  • d. The Cenci, Drama von Percey Bysshe Shelley
  • e. Alexandre Dumas, Les Cenci
  • f. Artaud, Les Cenci
  • 6. „Es ist, als ob uralte, längst gebändigte Rohheit ein letztes Mal hervorbräche“
  • a. Rache
  • b. Atridenfluch
  • c. Hermann Bahr und die unterdrückten Triebe in der Kultur
  • d. Atavismen
  • e. Inzest
  • f. „Niemand ist so brutal als der Schwache, der sich stark erweisen will“
  • g. Ägisths Heldentaten
  • h. Ägisth der Sadist
  • i. Ägisths Sklavinnen
  • j. Die Rechte des Vaters in der Antike
  • k. Sklavinnen als Eigentum
  • l. Dienstmädchen in Wien
  • m. Elektras Blutrausch
  • n. Eine Totenfeier der Skythen
  • o. Eine Totenfeier bei Homer
  • 7. Elektras einsames Ende
  • a. Die Bedeutung des Reigentanzes
  • b. Elektras einsamer Reigen
  • c. Apollinisch oder dionysisch?
  • d. Das Ende ihres Tanzes
  • e. Feuer-Tanz
  • f. Woran stirbt Elektra?
  • g. Der zwanzigfache Ozean
  • h. Nacht
  • i. Rhythmus und Kontinuität
  • j. Ekstasis
  • VI. Erziehung als „leidenschaftliche Vergewaltigung“
  • A. Franz Werfel, Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig
  • B. Jean Cocteau, Les parents terribles
  • VII. Die Rückkehr zum Status quo
  • Dürrenmatt, Es geschah am hellichten Tag
  • Anhang
  • Literatur

← 14 | 15 → I. Elektras angebliche Hysterie

Bereits 1911 schrieb Ernst Hladny in einem seiner beiden Aufsätze über Hofmannsthals Elektra:1 „Mit Absicht wurde bisher ein Wort umgangen, das die Kritiker dieses Stückes gern schon in der ersten Zeile anführten, es lautet: Hysterie.“2

Und dann:

„Freilich, hat man einmal das praktische Wörtchen Hysterie in der Hand, so ist es leicht, dem Stücke beizukommen: jede der drei Frauen stellt einen hysterischen Typus vor;“3

Als hätte Heinz Politzer diese Zeilen wörtlich genommen, erklärte auch er in einem Aufsatz aus dem Jahr 19734 alle drei Frauen des Dramas, Elektra, Klytämnestra und Chrysothemis, für hysterisch5 und versuchte tatsächlich mit dem „praktischen Wörtchen Hysterie“ der gesamten Tragödie Herr zu werden.6 ← 15 | 16 → Michael Worbs ging noch einen Schritt weiter und glaubte, in Hofmannsthals Antwort auf die Frage, „ob er bei der Formulierung seiner Charaktere wissenschaftliche Bücher, die sich mit der Nachtseite der Seele beschäftigen, zu Rate gezogen“7 habe, nicht nur einen eindeutigen Quellennachweis, sondern sogar die beiden maßgeblichen Quellen zur Elektra erfahren zu haben. Doch „wie zahlreich die Einflüsse sind, die in einem einzigen Werk zusammenwirken“, hat Martin Stern in seiner Ausgabe des Lustspielfragments Silvia im ‚Stern‘ 8 gezeigt, wo allein für dieses Stück vierundzwanzig Quellen nachgewiesen werden“,9 und auch Ritter ist überzeugt, daß „die vom Dichter nur zum Teil genannten Quellen zu seinen eigenen Arbeiten“ „zahllos“ seien.10 Bereits aus der Jedermann-Forschung wissen wir, wie ungern Hofmannsthal seine Quellen bekannt gibt. Rölleke spricht von einer „Quellenverschleierung“ und weist auf Hofmannsthals eigene Aussage hin: „Vergleichende Behandlung der Quellen gegenüber einem Theaterschriftsteller halte ich für absurd“.11 Hofmannsthal antwortete Hladny, daß „auf die Charakteristik“ der Elektra „kein Buch merklichen Einfluß gehabt“ habe, „doch habe ich immerhin damals in zwei ganzverschiedenartigen Werken geblättert, die sich wohl mit den Nachtseiten der Seele abgeben: das eine die Psyche von Rohde, das andere das merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud.“12 In seinen Aufzeichnungen notiert Hofmannsthal sogar:

„Rodaun 7. VIII. – Arbeitsperiode […] Diese Zeit gleicht der vom vorigen Jahr. Immer, wenn ich zu arbeiten imstand bin, flößt mir auch das Buch, das ich gerade lese, ein sehr starkes Interesse ein. Es besteht aber gar kein – intelligibler – Zusammenhang zwischen der Lektüre und der Arbeit. So lese ich jetzt, während ich an der ‚Elektra‘ arbeite, die Erzählungen von E. A. Poe.“13

Trotzdem sucht Politzer in „dem merkwürdigen Buch über Hysterie“ den Schlüssel zu dem gesamten Stück. Er glaubt, diesen in dem von Breuer beschriebenen „Fall Anna O.“ gefunden zu haben und will sogar die vier von Charcot beschriebenen Phasen eines sogenannten ‚Großen hysterischen Anfalls‘ bei ← 16 | 17 → Elektra wiederfinden: „Diese vier Phasen kehren, gesondert und verschränkt, in der Darstellung von Hofmannsthals ‚Elektra‘ wieder“.14 Im Gegensatz zu Politzer setzt Hladny dann aber seinen Gedankengang in eine ganz andere Richtung fort, die von der Hysterie wieder völlig wegführt. Er fährt fort:

„Aber man merkt schon, wie wenig mit solchen Worten gesagt ist; denn einmal kommt es darauf an, den hinter den hysterischen Äußerungen arbeitenden inneren Seelenimpuls herauszugreifen; daß dann das äußerlich Hysterische gegenüber diesem Innenleben nur eine bloße Folge ist, liegt auf der Hand. Zweitens sind die hysterischen Zufälle durch ihre Willkür ausgezeichnet und spielen sich, hypnoid, bei starker Schwächung des Bewußtseins ab; auch treten sie nicht in umdüsterten Tagen selbst, sondern erst allmählich auf, wenn die Erinnerung daran geschwunden. So ergibt sich naturgemäß eine Zusammenhanglosigkeit zwischen den krankhaften und den gleichzeitigen normalen Zuständen. Von alledem ist aber bei der Elektra keine Rede; denn was da, durch die Hand Hofmannsthals geformt und reguliert, von der rohen Naturerscheinung einer Krankheit übrig bleibt, ist wohl kaum mehr als der bloße Name.“

Was die Wiener Bildungsbürger zur damaligen Zeit tatsächlich meinten, wenn sie von hysterischen Menschen sprachen, wird aus zwei Textpassagen von Ernst Hladny, geschrieben 1910, und Alfred Freiherr von Berger, geschrieben 1905, deutlich. Beide Texte beziehen sich auf Hofmannsthals Dichtkunst. Hladny15 sieht in Hofmannsthals Bergwerk zu Falun und dem Märchen der 672. Nacht „eine Spielart des Naturalismus“ und „einen der Brückenbogen, die nach der Idee mancher Literaten Romantik und Naturalismus überhaupt als Geschwister zusammenführen sollen.“ und fährt unmittelbar fort: „Es spricht manches dafür, in dieser Richtung eine fast krankhafte Subjektivität zu sehen. Als solche faßt sie Alfred Freiherr von Berger in einem vorzüglichen Feuilleton. Er findet sie zu allen Zeiten unter verschiedenen Namen, heute als Hysterie und Neurasthenie; wie Homunkulus ‚voll leidenschaftlicher Begierde nach all der Wirklichkeit und Schönheit, von der ihn sein gläserner Kerker trennt“ in die durchsichtige ‚Phiole, so sind bei Hofmannsthal die Seelen in Subjektivität eingeschlossen. Schön sieht er diese Schwäche im Wesen der Wiener geworden. Die Reaktion, die mit dem Einsetzen der Gegenreformation die Geisteskraft knickte, spukt noch überall nach: durch die Unmöglichkeit politischer Betätigung, freien Auslebens wurde die Wiener Seele in sich selbst zurückgeworfen und arbeitete nach zwei Richtungen: bei gröberen Naturen zum Lebensgenuß, bei feineren zum Aufbau einer von der Außenwelt isolierten Traum- und Gedankenwelt.“ Gemeint ist folgende Textpassage aus Bergers Feuilleton:

← 17 | 18 → „Der Seelenzustand des armen Klaudio ist eine uralte Sache, so alt wahrscheinlich, als die geistige Kultur selbst, und die Namen und Deutungen, die ihm die Menschen, je nach Weltanschauung und Zeitgeist, unter dem Einfluß mannigfaltiger literarischer, philosophischer, ethischer, psychologischer und medizinischer Richtungen und Moden gegeben haben, würden in gedrängtester Darstellung viele Bände umfassen. »Hysterie« und »Neurasthenie« nennt man heute, wofür sich Lichtenberg, ein Klassiker dieses Zustandes, vor hundert Jahren den Namen »Pusillanimität« ausdachte. Aber vielleicht gewährt das längst zur Schlacke eingetrocknete Fremdwort »Subjektivismus« gerade durch seine unbestimmte Allgemeinheit dem Leser den richtigsten Begriff von diesem bei aller proteischen Wandelbarkeit monotonen, ewig gestrigen Zustand.“16

Was Hladny und Berger also in ihrer Zeit als „Hysterie“ und „Neurasthenie“ bezeichnen, ist nichts anderes als eine ausgeprägte Form von „Subjektivismus“. Dabei werden „Hysterie“ und „Neurasthenie“ in einem Atemzug genannt, was nahelegt, daß beide Wörter mehr oder weniger gegeneinander austauschbar waren, denn beide lassen sich durch den allgemeineren Ausdruck „Subjektivismus“ ersetzen. Daß es sich bei diesem Wortgebrauch lediglich um eine momentane Modeerscheinung handelt, wird ebenfalls deutlich, denn Berger betont, daß Lichtenberg dafür einen ganz anderen Begriff verwendet hätte und habe außerdem in diesem einen Begriff das zum Ausdruck gebracht, wofür die Wiener „Hysterie und Neurasthenie“ sagen.

A. Hysterie und Hysterie oder: Was meint wer, wenn er von Hysterie spricht

1. Hysterie als medizinischer Fachterminus

a. Die hysterische Krankheit bei den Griechen

Obwohl das Wort „Hysterie“ erst im 19. Jhdt. in Umlauf kommt, wird ein hysterisches Leiden bereits bei Hippokrates diagnostiziert. Von dem Substantiv ¹ Østšra = die Gebärmutter abgeleitet, verwendet Hippokrates das Adjektiv ØsterikÒj. `Usterik£ sind dann Krankheiten infolge von Gebärmutterveränderungen. Übernommen hat er diese Krankheitsdiagnose allerdings selbst wiederum aus dem ägyptischen Raum.17 Platon gibt in seinem späten Dialog Timaios die Ansichten der Hippokratischen Schule wieder, indem er sie in eine mythische Rahmenerzählung einbettet. Demnach ist der Uterus ein eigenständiges ← 18 | 19 → beseeltes Lebewesen in der Frau, das sein Recht fordert. Wenn ihm dieses Recht, nämlich die geschlechtliche Vereinigung mit einem Mann, genommen wird, verursacht er im Körper der Frau Krankheitssymptome:

„Und um jene Zeit nun entwickelten die Götter deshalb den Trieb zur geschlechtlichen Vereinigung, indem sie ein beseeltes Lebewesen in uns [Männern], das andere in den Frauen auf folgende Art hervorbrachten: Sie öffneten den Durchgang der Getränke an der Stelle, über den die Flüssigkeit unter der Lunge durch die Nieren weg zur Blase gelangt ist, die ihn in sich aufnimmt und, wenn er von der Luft unter Druck gesetzt worden ist, ihn mit dieser wieder entsendet, legten eine Verbindungsleitung durch eine Seitenöffnung mit der vom Kopf aus durch Nacken und Rückgrad sich hindurchziehenden Masse des Markes, welche wir in unseren voraufgehenden Erörterungen Samen nannten; und indem dieser ja beseelt ist und auf diese Weise Luft zugeführt bekam, so erregte er in jenem Teile, nach welchem hin er sich Luft machte, die lebenerweckende Begierde nach Ausströmung und rief so den Zeugungstrieb hervor. Daher sind die Geschlechtsteile der Männer in ihrer Natur auch etwas Unlenkbares und Eigenmächtiges, wie ein Tier, das der Vernunft nicht gehorcht, und suchen mit ihren rasenden Begierden alles zu beherrschen. Bei den Frauen nun wird aus genau den gleichen Gründen das, was man Gebärmutter bzw. Uterus nennt und was ein auf Kinderzeugung begieriges Lebewesen in ihnen ist, wenn es entgegen seiner Reife lange Zeit ohne Frucht bleibt, unwillig und nimmt es übel, irrt allenthalben im Körper umher, versperrt die Durchgänge der Atemluft, läßt das Atmen nicht zu, bringt die Frauen in äußerste Ratlosigkeit und führt zu mannigfachen Krankheiten, solange bis die Begierde und der Trieb der beiden Geschlechter sie zusammenbringen, gleichsam von den Bäumen die Frucht pflücken, in die Gebärmutter wie in Ackerland Tierchen, die auf Grund ihrer Winzigkeit unsichtbar und noch unausgebildet sind, aussäen und sie wieder strukturieren, im Innern großziehen und hiernach ans Licht bringen, um so die Entstehung lebendiger Wesen zu vollenden.“18

← 19 | 20 → Kapferer schreibt in seinem Vorwort zu den 9 gynäkologisch-geburtshilflichen Schriften:19 “Bei diesen ätiologischen Forschungen auf dem Gebiet der Lebensführung mißt nun der hippokratische Arzt dem Ausbleiben eines entscheidenden Faktors im Frauenleben eine überragende Bedeutung bei, nämlich der zu spät oder überhaupt nicht eintretenden Begattung und Schwangerschaft des Weibes. Er begründet seine Ansicht mit Hinweisen auf die naturgesetzlich bedingte, tief im Wesen und Organismus des Weibes liegende körperliche Forderung auf Erfüllung der Empfängnis und Fortpflanzung. Nicht zufällig steht am Anfang der Schrift Der Samen,20 die die ganze Schriftenreihe einleitet, der Satz: ‚Das Naturgesetz beherrscht alles‘. Dementsprechend verbürgt nach unserem Autor ein Leben in Harmonie mit den nach Zeit und Maß festgelegten Gesetzen der Natur Gesundheit; lange Jungfrauenschaft dagegen, ebenso zu frühe Witwenschaft verursacht infolge Unterbindung der wichtigsten Funktionen des weiblichen Körpers sowohl schwerste allgemeine und örtliche Leiden als auch viele unverstandene psychische Störungen.“ In Kap. 2 des ersten Buches über Die Frauenkrankheiten21 macht Hippokrates fehlenden Geschlechtsverkehr und damit das Ausbleiben der Berührung männlicher Samenflüssigkeit mit der Gebärmutter dafür verantwortlich, daß der Uterus austrockne, dadurch zunächst leichter werde, sich infolgedessen drehe und so einen Verschluß zur Vagina hin verursache. “Denn einerseits ist ihre Gebärmutter an sich nicht feucht, weil sie keinen Geschlechts-verkehr hat, andererseits hat sie einen weiten Raum für sich, weil der Leib leerer ist, so daß sie sich, weil sie trockener und leichter als angemessen ist, dreht.“22 Auch ein Erstickungsgefühl tritt (Kap. 7) „vorzugsweise bei solchen (Frauen) auf, die nicht mit Männern verkehren,… denn deren Gebärmutter ist leichter.“23 Auch dann dreht sie sich, da sie viel Platz hat und fällt so an die Leber, „vereinigt sich mit ihr und fällt in die Oberbauchgegend. Sie läuft und geht nämlich nach oben zur Feuchtigkeit hin“. Da die Leber dagegen feucht sei, so wandert sie dorthin, zieht der Leber Feuchtigkeit ab, wobei sie jedoch ein ← 20 | 21 → Erstickungsgefühl bewirkt, „weil sie plötzlich die Durchatmung in der Gegend der Leibeshöhle behindert“, gemeint ist eine „Absperrung der Luft in den Adern“, da durch den Druck darauf der Blutfluß gehemmt wird. Sie kehrt aber „nach unten zurück, nachdem sie Feuchtigkeit zu sich herabgezogen hat und (durch sie) beschwert worden ist.“24 „Wenn sich die Gebärmutter an der Leber und in der Oberbauchgegend befindet und Erstickungsgefühl hervorruft, so geht das weiße der Augen nach oben und (die Frau) wird kalt; manche werden auch bereits bläulich. (Die Kranke) knirscht mit den Zähnen. [trismus hystericus, Anm. Kapferer], es fließt Speichel zum Mund und (die Betreffenden) gleichen solchen, die von der Krankheit des Herakles [Epilepsie, Anm. Kapferer] befallen sind.“25

In besonderer Weise aber, so Hippokrates, seien die Jungfrauen in heiratsfähigem Alter, die noch keinen Mann haben, von den Folgen eines solchen Gebärmutterleidens betroffen, das bewirke, daß das Blut bei den Monatsblutungen den Muttermund nicht passieren könne und daher „gewaltsam nach dem Herzen und der Scheidewand des Gehirns hinauf“ ströme. Der Druck des Blutes verursache dann eine Art Betäubung des Herzens, das er mit dem tauben Gefühl eines Körpergliedes vergleicht, wenn dieses, ebenfalls durch äußeren Druck ‘einschläft’ und das Gefühl erst wieder zurückkehrt, wenn die Durchblutung dieses Körperteils wieder verbessert wurde, was jedoch leicht herzustellen sei. Die Betäubung des Herzens jedoch bewirke bei der Jungfrau Erstarrung, „dann infolge der Erstarrung eine Störung ihres Verstandes.“26 Verschiedene Auswirkungen zählt er auf: “Infolge der Fäulnis (des Blutes) sinnt sie auf Selbstmord, infolge der (Geistes-)Verdunkelung sieht sie Schreckbilder und fürchtet sich; infolge des Druckes um das Herz erhängen sie sich, da sich das Gemüt, das durch die schlechte Beschaffenheit des Blutes außer sich und in Angst ist, schlechtes (Blut) zu sich heranzieht. Andere Mädchen sprechen furchtbare Worte, sie verlangen fortzueilen und sich in die Brunnen zu stürzen, auch sich zu erhängen, weil es (so) ja besser sei und mannigfachen Nutzen habe. Ist die Betreffende aber frei von Wahnvorstellungen, so beseelt sie eine gewisse Lust, infolge deren sie den Tod herbeisehnt, als wenn er etwas Gutes wäre (Es finden sich auch hier die Ergebnisse Lorauxs27 bestätigt, daß die den Frauen als angemessen zuerteilten Reaktionen niemals aggressiver, sondern immer autodestruktiver Natur sind. Jede von Hippokrates beschriebene Form der Raserei der Frauen richtet sich gegen ← 21 | 22 → sie selbst). In Kap. 47 der Schrift Die Stellen am Menschen28 stellt Hippokrates fest: „Die Gebärmutter ist an allen (Frauen-)Krankheiten schuld.“ Die (seiner Meinung nach) verschiedenen Möglichkeiten der Lageveränderungen des Uterus zählt Hippokrates noch einmal systematisch im zweiten Buch über Die Frauenkrankheiten29 auf:

Kap. 14:

Wendung der Gebärmutter zum Kopf bewirkt Erstickungsgefühl und Trigeminusneuralgie.

Kap. 15:

Anlehnung der Gebärmutter an das Herz führt zu Erstickungsgefühl und Atemnot.

Kap. 16:

Wendung nach dem Oberbauch führt zu Erstickungsgefühl, Erbrechen und Kopfschmerzen.

Kap. 17:

Vortreten nach dem Oberbauch führt zu Erstickungsgefühl, Atemnot, Magen-Schmerzen, Erbrechen, Aphonie und Lähmung der „Teile um den Kopf“ und der Zunge.

Kap. 18:

Wendung nach der Leber führt zu Aphonie, Trismus (tonischer Krampf der Kaumuskeln), Cyanose (blaurote Färbung durch Sauerstoffmangel)

Kap. 20:

Fallen der Gebärmutter an die Flanke führt zu Husten, Schmerz unter den Flanken.

Kap. 21:

Anliegen der Gebärmutter an die Lende führt zu Atembeschwerden und Erstickungsanfällen.

Kap. 22:

Retroversio Drängen zur Mitte führt zu Ischiasschmerzen und Behinderung des Stuhlgangs.30

Galen vertritt später ebenfalls die Auffassung, daß die Ursache hysterischer Störungen in der sexuellen Abstinenz der Frau liegt, wobei er die Wirkung ähnlich wie Hippokrates beschreibt. Die Geschichte der Hysterie nimmt hier ihren Ausgangspunkt. Vor allem in bezug auf die angenommenen schädigenden Auswirkungen auf das Gehirn und den Kopfbereich: Raserei, Erstickungsanfälle und hysterische Stimmbandlähmung.

b. Hysterie im Mittelalter

Im 16. Jhdt. gab es 2 Tendenzen, das Phänomen der Hexen aus dem Bereich des Übernatürlichen in den Bereich der Naturgesetze zu überführen: Die Einen sahen in den Hexen melancholische Frauen und in den als typisch deklarierten Merkmalen der Hexen typische Anzeichen der Melancholie. Die Anderen deuteten die ← 22 | 23 → gleichen Merkmale als typisch hysterische Anzeichen und machten aus den Hexen hysterische Frauen.31 Gemeinsam war beiden Tendenzen jedoch, daß solche Frauen, die einst als aktiv Handelnde und das Böse Suchende gesehen wurden, zu passiv Leidenden und kranken Menschen umgedeutet wurden. Die Hysterielehre wurde damit als Instrument zum Schutze der Hexen eingesetzt. So plädierte der englische Arzt Jorden32 im Jahr 1603 dafür, die befremdlichen Verhaltensweisen sogenannter Hexen und Besessener als Krankheitssymptome anzuerkennen und diesbezüglich auf das Urteil von Ärzten zu hören und nicht auf das Urteil von Geistlichen oder Juristen, da dies nicht in deren Kompetenz-bereich falle. Trotz der traditionellen Bezeichnung der Hysterie als „suffocation of the mother“, als Gebärmutterleiden, erkennt Jorden, daß sowohl Männer als auch Frauen davon betroffen sein können. Daß man auch in späterer Zeit noch, als man wohl kaum mehr an eine Ortsveränderung des Uterus im weiblichen Körper glauben mochte, die Gebärmutter als Auslöser hysterischer Symptome verantwortlich machen konnte, lag an der Auffassung, daß es sich hierbei um ein in doppelter Hinsicht empfängliches Organ handele; nicht nur im Sinne der geschlechtlichen Empfängnis, sondern darüber hinaus als ein Organ, das der Empfängnis von Sinneseindrücken fähig sei, weshalb sie eine Rolle in der paracelsischen Imaginationslehre spielte.33 „Damit war der Uterus aber auch ein sehr anfälliges Organ, das viele Krankheiten und zusätzliche Komplikationen verursachen konnte, was seit dem ausgehenden Mittelalter von immer mehr Ärzten betont wurde.“34 Da nämlich der Uterus verschiedene Aufgaben habe, stünde er auch in vielerlei Wechselbeziehung zu den übrigen Organen, so daß er (Mit-)Ursache für zahlreiche verschiedene Krankheiten sein könne. So könne er „das Herz, das Gehirn und die Leber in Mitleidenschaft ziehen, womit Störungen der vitalen, der animalischen und der natürlichen Funktionen verbunden sind. Bei der Störung der vitalen Funktion des Herzens sind Anästhesien und Bewußtlosigkeit die häufigsten Symptome. Die verschiedenartigsten und schrecklichsten Folgen haben die Störung des Gehirns, das für die animalische Funktion zuständig ist. Hier liegt eine häufige Ursache für Delirien, Melancholie, Furor und alle Erscheinungsformen des Wahnsinns. Die Patientinnen nehmen häufig Dinge wahr, die nicht existieren, oder sie erinnern sich an Ereignisse, die nicht stattgefunden haben. ← 23 | 24 → […] Die Beeinträchtigung des Gehirns kann aber auch Epilepsie und Koma sowie alle Arten von Krämpfen und Distortionen verursachen. Wird die Leber mit ihrer ‚natürlichen‘ Funktion in Mitleidenschaft gezogen, so können die verschiedenartigsten Symptome auftreten: sämtliche Beschwerden des Magen-Darm-Trakts, Unfruchtbarkeit, Schwellungen an Kehle und Füßen, Durchblutungsstörungen, Fieber und Tumore“.35 Trotzdem nimmt es nicht wunder, wenn Charcot im ausgehenden 19. Jhdt. typische Merkmale seiner Patientinnen in den mittelalterlichen Hexendarstellungen wiederfindet, die bereits von Jorden als klassische Merkmale der Hysterie beschrieben werden: Anästhesien, „die Darstellung monströser Erlebnisse und Handlungen, die Abneigung gegen Essen und Trinken […], Kreisbogen, Krämpfe, Erstickungsanfälle, periodisches Auftreten der Anfälle“.36

Im ausgehenden 18. Jhdt. gelang es vor allem Mesmer und Puiségur, Heilungserfolge bei hysterischen Erkrankungen zu verzeichnen. Da es sich um spontane Heilungen handelte, können somatogene Erkrankungen wie Organläsionen als Krankheitsursache ausgeschlossen werden.

c. Hysterie im 19. Jahrhundert

Obwohl bereits im Jahr 1618 der französische Arzt Lepois hysterische Erkrankungen auch bei Männern und Kindern feststellte, wurde die Auffassung, daß Hysterie ihren Ursprung in frustrierten Sexualwünschen von Frauen habe, trotzdem nie ganz aufgegeben; sie blieb nicht nur den Laien geläufig, sondern wurde auch von Gynäkologen und vielen Neurologen vertreten.37

So herrscht auch noch in Flauberts Roman Salammbô von 1859 ebendiese Anschauung der Hysterie vor: Die hysterische Jungfrau Salammbô wird von unerfüllten erotischen Sehn-süchten geplagt, die ihr Leben in vielfacher Weise beeinflussen. Nachdem sie sich für ihr Vaterland opfert und sich dem Feind hingibt, verschwinden ihre krankhaften Symptome. Sogar 1929 findet sich im französischen Nachschlagwerk Larousse Medical noch folgende Bemerkung:

« Le coït est salutaire aux femmes cachectiques & dont les règles sont supprimées, parce que la semence rend aux solides & aux fluides leur première qualité; car, selon Hippocrate, le coït échauffe le sang & facilite le flux ← 24 | 25 → menstruel, d’autant que la suppression arrive en conséquence de l’étroitesse & de la contraction des vaisseaux de l’utérus. »

Jeder Zugang zur Hysterie sei, so Israël,38 immer wieder durch männliche Phantasmen verstellt worden, warum es so schwierig gewesen sei, einen gebührenden Zugang zu dieser Krankheit zu finden. Heute kommt das Phänomen der Hysterie in unseren Kulturkreisen kaum noch vor, aber „25 Jahrhunderte lang hatte man die Hysterie als eine seltsame Krankheit mit unzusammenhängenden und unverständlichen Symptomen angesehen. Die meisten Ärzte glaubten, sie sei eine nur den Frauen eigene Krankheit und stamme aus dem Uterus. Vom 16. Jahrhundert an behaupteten manche Ärzte, ihr Sitz sei das Gehirn, und sie komme gelegentlich auch bei Männern vor. Eine wirklich objektive und systematische Untersuchung der Hysterie beginnt mit dem französischen Arzt Briquet, dessen berühmter Traité de l’Hystérie 1859 veröffentlicht wurde. […] Innerhalb von zehn Jahren untersuchte er mit Hilfe seiner Mitarbeiter 430 hysterische Patienten gründlich. […] Er fand heraus, daß auf 20 Fälle weiblicher Hysterie ein Fall von männlicher Hysterie kam.“39 Außerdem fand Briquet heraus, „daß Hysterie bei Nonnen fast überhaupt nicht vorkam, dagegen bei Pariser Freudenmädchen sehr häufig.“40 Diese Beobachtungen konvergieren durchaus mit den Ergebnissen moderner Forschungen, wie wir später noch sehen werden. Außerdem kam Hysterie, so fand er weiter heraus, in niederen sozialen Schichten häufiger vor als in höheren und auf dem Land häufiger als in der Stadt.

α. Charcot

Charcot nun suchte den Nachweis zu erbringen, daß es sich bei der Hysterie um eine tatsächliche, ernstzunehmende Krankheit handle. Für ihn galten all jene für hysterisch, welche eine ererbte Veranlagung dafür zeigten, „sich durch einen Schrecken in einen hypnoiden Zustand versetzen zu lassen, und unter der Einwirkung von Giften, Erschütterungen und Schocks nach einer gewissen ‚Inkubationszeit‘ zur unbewußten ‚Autosuggestion‘ neigte[n], sich – ohne feststellbare organische Verletzungen – Lähmungen einzubilden.“41 „Zu Charcots aufsehenerregendsten Leistungen gehörten die Untersuchungen über traumatische Lähmungen, die er 1884 und 1885 durchführte.“, so Ellenberger.42 Dabei analysierte er den Unterschied zwischen organischen und hysterischen Lähmungen. Charcots ← 25 | 26 → Hysterie-Studien waren ein Gegenentwurf zu Pierre Briquets Definitionsversuch, die Hysterie durch ihre Undefinierbarkeit zu definieren, was einen logischen Widerspruch in sich selbst birgt. Daher suchte Charcot nicht nur nach formalen Gesetzmäßigkeiten, die eine klare Zuordnung nach Symptomen zuließen, sondern wollte auch ihre Ursache in eine einfache Formel zwingen: die Heredität. Hysterie wäre demnach reine Veranlagung, die durch äußere Faktoren lediglich zum Auslösen gebracht werden kann. Als Erbkrankheit jedoch ließ sich die Hysterie nun aber auch aus ihrem historischen Kontext als reine Frauenkrankheit ablösen und auch auf Männer und Kinder ausweiten. Nicht das Geschlecht, sondern einzig die Symptome seien ausschlaggebend für eine Hysterie-Diagnose. Charcot galt als exzellenter Beobachter und so begann er, seine Beobachtungen zu katalogisieren. Ihm gelang es durch Sammeln und Vergleichen hysterischer Anfälle den sogenannten „großen hysterischen Anfall“ in vier gesetzmäßig ablaufende Stadien (1. epileptisches Stadium, 2. Stadium des Clownismus, 3. Stadium der leidenschaftlichen Posen, 4. Stadium des Deliriums) zu unterteilen, die sich wiederum in 12 Phasen untergliederten. Diesen 12 Phasen in ihrer „klassischen“ Form hat Richer noch weitere 70 „Variationen des klassischen Typs“ hinzugefügt. Außerdem bestätigten seine Untersuchungen, daß auch Männer hysterisch werden konnten; jedoch erkannte er, daß das sexuelle Moment dennoch eine wichtige Rolle bei der Pathogenese der Hysterie spielte, „wie man schon beim Überfliegen des Buches über die grande hystérie von seinem Schüler Paul Richer feststellen kann. Halluzinationen und Handlungen des Patienten in der hysterischen Krise, sagt Richer, können eine Reproduktion irgendeines psychischen Traumas sein, das der Patient früher einmal erlitten hat (wie z.B. die Flucht vor einem tollen Hund), aber in den meisten Fällen beziehen sie sich auf sexuelle Ereignisse (entweder dramatischer Art, wie ein Vergewaltigungsversuch, oder auf offenkundig erotische Szenen oder Liebesszenen zurückhaltenderer Art).“43

a. Der Fall Augustine

Augustine wurde 1875, im Alter von 15 Jahren, in der Salpêtrière aufgenommen, weil sie nach einer Vergewaltigung hysterisch wurde. Als sie von ihrer Mutter zu Charcot gebracht wurde, war ihre rechte Körperhälfte nahezu gefühllos, die linke dagegen hypersensibel. Der Hintergrund ihrer Hysterie liegt in Ereignissen ihrer Kindheit: Im Alter von 6–13 Jahren besuchte sie eine Klosterschule. Während von den Erzieherinnen jede Art sexueller Betätigung drakonisch bestraft wurde, erlebte Augustine trotzdem gerade zu dieser Zeit den ersten sexuellen Übergriff ← 26 | 27 → auf ihren Körper: durch den völlig betrunkenen Ehemann einer Künstlerin, die sie öfters besuchte.44 Mit 13½ nahm ihre Mutter sie von der Schule und schickte sie zur Erziehung zu „Monsieur C.“, bei welchem ihre Eltern beide als Hausangestellte arbeiteten. Man verlangte, daß sie ihn mit „père“ anredete. Als seine Frau einmal nicht zuhause war, unternahm Monsieur C. einen Vergewaltigungsversuch, dem sie sich entschieden zur Wehr setzte und für dieses Mal abwehren konnte. Ebenso die nächsten Male. Schließlich bedrohte er sie jedoch mit einem Rasiermesser, zwang sie, Alkohol zu trinken, warf sie auf das Bett und vergewaltigte sie. Tags darauf war sie von panischer Angst ergriffen, weigerte sich, Monsieur C. zu begrüßen und mußte sich schließlich auf seine Drohungen hin übergeben. In der Nacht erlitt sie dann ihren ersten hysterischen Anfall, nachdem sich ihr eine Katze mit funkelnden Augen näherte. Diese Anfälle wiederholten sich von nun an täglich. Später fand sie heraus, daß ihre Mutter die langjährige Geliebte C.s war und ihm ihre Tochter wissentlich opferte als eine Art Geschenk. Die genaueren psychischen Hintergründe blieben unerforscht. Sie fand weiterhin heraus, daß ihr Bruder in Wirklichkeit nicht der Sohn ihres Vaters, sondern Monsieur C.s war. Erst nachdem sie ihrer Mutter deswegen Vorwürfe machte, wurde sie in die Salpêtrière eingeliefert.45 Auch in ihren Delirien machte sie ihrer Mutter immer wieder Vorwürfe, sie an einen solchen Mann ausgeliefert zu haben, der ihr derartige Schmerzen verursacht habe. Sechs Jahre lang wurde sie in der Salpêtrière stationär behandelt, bis sie im September 1880 floh, indem sie sich als Mann verkleidete und so unerkannt die Klinik verlassen konnte, denn „am Ende dieser fieberhaften Geschäftigkeit stand oft eine ebenso grausame wie nutzlose Therapie. […] Gemeint ist… die Unzahl der Hysterektomien, die gegen Charcots Einwände erfolgten, der Kauterisationen46 des Gebärmutterhalses, die Charcot selbst vornahm“ und die Neigung vieler dieser gemarterten Frauen zur Drogenabhängigkeit, so daß sie zuletzt als Alkoholikerinnen, Ätheromaninnen oder Morphinistinnen endeten.“47 Augustines hysterische Anfälle sind gut dokumentiert und wurden von Charcot gerne in seinen Vorlesungen vorgeführt. Ihre Krankheit wurde photographisch festgehalten und im zweiten Band der Iconographie photographique de la Salpêtrière von Bourneville und Régnard (1877–1880) veröffentlicht.

← 27 | 28 → b. Der hysterische Anfall nach Charcot

Der von Charcot systematisierte und als solcher zum ersten Mal beschriebene vollständige hysterische Anfall läuft, wie bereits erwähnt, in vier Phasen ab, die sich folgendermaßen beschreiben lassen:

1.die epileptoide Phase

2.die Phase der großen Bewegungen

Details

Seiten
552
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653054194
ISBN (ePUB)
9783653967845
ISBN (MOBI)
9783653967838
ISBN (Hardcover)
9783631662601
DOI
10.3726/978-3-653-05419-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Hysterie Kindesmißbrauch Kindesmißhandlung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 552 S., 1 Tab.

Biographische Angaben

Dorothée Treiber (Autor:in)

Dorothée Treiber studierte Graecistik, Archäologie, Philosophie und Byzantinistik in München, Français pour l’Ètranger in Nizza und Germanistik in Heidelberg.

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Titel: Hugo von Hofmannsthals «Elektra»
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