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Gesprochene Sprache in der philologischen Sprachausbildung

Theoretische Grundlagen – Empirische Befunde – Exemplarische Anwendungen

von Magdalena Thien (Autor:in)
©2016 Monographie 382 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch ist ein Beitrag zu den intensiv geführten Diskussionen über die Beschreibung des Gegenstandsbereichs Sprache für den Fremdsprachenunterricht. Seit der Jahrtausendwende mehren sich seitens der didaktisch interessierten Sprachforschung im In- und Ausland verstärkt Stimmen, welche die ausschließliche Ausrichtung des DaF-Unterrichts an der Schriftsprache bezweifeln. Sie fordern die Fachgemeinschaft zu Überlegungen auf, welche Normen und Varietäten der deutschen Sprache in den unterschiedlichen Vermittlungskontexten von Sprache einzubeziehen sind. Die Autorin möchte die Relevanz der Vermittlung gesprochener Sprache im germanistischen Sprachunterricht herausstellen und damit eine breite Diskussion über theoretische und methodische Grundsatzfragen der Übertragung der linguistischen Erkenntnisse in die philologische Sprachpraxis entfachen wie auch eine Debatte über das Design der philologischen Sprachausbildung anregen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Philologische Sprachausbildung – Versuch einer Konturengebung für eine wenig beachtete Sprachdidaktik
  • 2.1 Metagermanistische Überlegungen vor dem polnischen hochschulischen Hintergrund
  • 2.2 Verortung im Kontext anderer Vermittlungsformen von DaF in Polen
  • 2.3 Konstituierung der Disziplin und Positionierung im Wissenschaftsgefüge
  • 2.4 Relevanz und Stellung in der wissenschaftlichen Reflexion
  • 2.5 Grundlegende Profilmerkmale
  • 2.6 Ausgewählte Leitvorstellungen und Arbeitsfelder
  • 2.6.1 Sprachauffassung
  • 2.6.1.1 Norm und Wandel
  • 2.6.1.2 Variation
  • 2.6.1.3 Fehler
  • 2.6.1.4 Kommunikative Praktiken
  • 2.6.1.5 Interkulturelle Orientierung
  • 2.6.1.5.1 Höflichkeit
  • 2.6.1.5.2 Indirektheit
  • 2.6.1.5.3 Smalltalk
  • 2.6.1.6 Zwischenfazit
  • 2.6.2 Sprachbewusstsein und Reflexion über Sprache
  • 2.6.3 Philologische Sprachkompetenz
  • 2.7 Innovation im Studienangebot
  • 2.8 Spezifik der polnischen Germanistik
  • 2.9 Subjekte der Didaktik
  • 2.9.1 Fremdsprachenlernen im Erwachsenenalter
  • 2.9.2 Interessen und Vorkenntnisse
  • 2.10 Schlussbetrachtung
  • 3. Gesprochene Sprache – Versuch einer Annäherung an ein komplexes Gegenstandsfeld
  • 3.1 Gesprochene Sprache als Gegenstand der neueren linguistischen Forschung
  • 3.1.1 Was ist und umfasst die deutsche Gegenwartssprache?
  • 3.1.2 Beschreibungskonzepte der gesprochenen Sprache
  • 3.1.3 Systemdebatte
  • 3.1.4 Standarddebatte
  • 3.1.5 Zwischenfazit
  • 3.2 Gesprochene Sprache als Gegenstand des DaF-Unterrichts
  • 3.2.1 Besonderheiten gesprochener Sprache aus der Perspektive des fortgeschrittenen DaF-Unterrichts im Ausland
  • 3.2.1.1 Laute und lautliche Veränderungen
  • 3.2.1.2 Syntaktische Kategorien
  • 3.2.1.2.1 Mittel der sprachlichen Kürze
  • 3.2.1.2.2 Ursprüngliche Subjunktionen mit Verbzweitstellung
  • 3.2.1.2.3 wo als Subjunktion
  • 3.2.1.2.4 Dativ-Possessiv-Konstruktionen
  • 3.2.1.2.5 Artikelwörter in Verbindung mit einem Eigennamen und als Personalpronomen
  • 3.2.1.2.6 Progressive am-Konstruktionen
  • 3.2.1.2.7 Varianten der Präpositionaladverbien
  • 3.2.1.2.8 Tempusgebrauch
  • 3.2.1.2.9 Gebrauch des Konjunktivs
  • 3.2.1.2.10 Zwischenfazit
  • 3.2.1.3 Lexikalisch-semantische Kategorien
  • 3.2.1.4 Dialogische Strukturen
  • 3.2.1.5 Zwischenfazit
  • 3.2.2 Vorschläge des Einbezugs gesprochener Sprache in den DaF-Unterricht
  • 3.2.3 Unterrichtliche Handicaps gesprochener Sprache – Perspektive des philologischen Sprachunterrichts
  • 3.2.3.1 Problematik der unterrichtlichen Ausbildung von mündlichen Fertigkeiten
  • 3.2.3.2 Problematik der Lehrwerke und lehrwerkunabhängigen Materialien
  • 3.3 Schlussbetrachtung
  • 4. Feldstudie zur Bestimmung der Kriterien zur Vermittlung von gesprochenem Deutsch im philologischen Studium in Polen
  • 4.1 Methodologische Grundlagen
  • 4.1.1 Ziele, Fragestellungen und Annahmen der Untersuchung.
  • 4.1.2 Forschungsdesign
  • 4.1.3 Stichprobenauswahl
  • 4.1.4 Erhebungs- und Auswertungsmethoden
  • 4.1.5 Probleme bei der Untersuchungsdurchführung
  • 4.2 Ergebnisse der Befragung von Studierenden der Germanistik und anderer philologischer Studienfächer mit Schwerpunkt der deutschen Sprache
  • 4.2.1 Charakterisierung der Probanden auf Basis ihrer sprachbiographischen Angaben: Umfrageergebnisse
  • 4.2.1.1 Allgemeine persönliche Angaben
  • 4.2.1.1.1 Hochschule, Fach, Semester
  • 4.2.1.1.2 Fachwissenschaftliche Disziplin
  • 4.2.1.1.3 Hochschule des Abschlusses des Bachelor-Studiums
  • 4.2.1.1.4 Alter und Verteilung der Geschlechter
  • 4.2.1.2 Differenzierte introspektive und evaluative Angaben
  • 4.2.1.2.1 Art des Spracherwerbs
  • 4.2.1.2.2 Aufenthalte in Ländern des deutschsprachigen Raumes
  • 4.2.1.2.3 Form des Deutschlernens vor der Aufnahme des Studiums
  • 4.2.1.2.4 Gründe für das Studium eines philologischen Faches
  • 4.2.1.2.5 Beherrschung von Teilkompetenzen
  • 4.2.1.2.6 Wünsche bezüglich der unterrichtlichen Förderung von Teilkompetenzen
  • 4.2.1.2.7 Beurteilung der sprachpraktischen Lehrveranstaltungen
  • 4.2.1.3 Angaben in Bezug auf gesprochenes Deutsch
  • 4.2.1.3.1 Kontakt zum gesprochenen Deutsch
  • 4.2.1.3.2 Erfahrungen im Kontakt mit Muttersprachlern
  • 4.2.1.3.3 Selbsteinschätzung der Beherrschung des gesprochenen Deutsch
  • 4.2.1.3.4 Umstände des Erwerbs von Wissen über gesprochene Sprache
  • 4.2.2 Charakterisierung der Probanden auf Basis ihrer sprachlichen Urteile: Testergebnisse
  • 4.2.3 Korrelationen zwischen sprachbiographischen Angaben und sprachlichen Urteilen
  • 4.2.3.1 Art des Spracherwerbs und sprachliche Urteile
  • 4.2.3.2 Aufenthalte in deutschsprachigen Ländern und sprachliche Urteile
  • 4.2.4 Resümee und Diskussion der Untersuchung
  • 5. Umriss einer Didaktik gesprochener Sprache für die philologischen Sprachausbildung
  • 5.1 Profilmerkmale der Didaktik – Schlussfolgerungen aus der theoretischen und empirischen Betrachtung
  • 5.2 Lernziele und Lerninhalte
  • 5.2.1 Fachwissenschaftliche Lehrveranstaltungen
  • 5.2.2 Sprachpraktische Übungen
  • 5.3 Lernbedürfnisse – Konsequenzen der Feldstudie
  • 5.4 Lehrverfahren – Exemplarische Anwendungen für die philologische Unterrichtspraxis
  • 5.4.1 Sensibilisierung für gesprochene Sprache am Beispiel der Muttersprache der Studierenden
  • 5.4.2 Arbeit mit authentischen zielsprachlichen Gesprächen und Transkripten
  • 5.4.3 Arbeit mit primär digitalen Texten
  • 5.4.4 Arbeit mit Texten mit stilisierter Mündlichkeit
  • 5.4.4.1 Literarische Texte
  • 5.4.4.2 Videomitschnitte aus dem Komikbereich
  • 5.5 Schlussbetrachtung
  • 6. Zusammenfassung und Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang

Vorwort

Als Teilnehmerin der Tagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache im Jahr 2007 in Berlin habe ich den Vortrag von Herrn Prof. Reinhard Fiehler über gesprochenes Deutsch und seinen Stellenwert für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht gehört, in dem ich Antworten auf einige meiner bis zu diesem Zeitpunkt eher noch intuitiven als wissenschaftlichen Überlegungen zum Fremdsprachenlernen im institutionellen Lehr- und Lernkontext im Ausland bekommen habe. Als Sprecherin des Deutschen als Fremdsprache und Auslandsgermanistin, die in ihrer Sprachlernbiographie viel mehr mit geschriebenem als gesprochenem Deutsch zu tun hatte und deren mündliche Sprachproduktionen von gewissen Konsequenzen dieser Tatsache gezeichnet sind und gleichzeitig auch viel frappierende Ähnlichkeit mit der Mündlichkeit anderer polnischer Germanisten aufweisen, musste ich einsehen, dass einige relevante Eigenschaften, Funktionen und Erscheinungsformen von Sprache in dem von mir erfahrenen DaF-Unterricht womöglich außer Acht gelassen bzw. nicht genug expliziert wurden.

Durch den Vortrag inspiriert habe ich dann 2009 eine kleine Pilotuntersuchung an meiner Heimatuniversität in Olsztyn (Polen) unter Studierenden der Germanistik durchgeführt, die mich darin bestätigt hat, dass das Thema für fortgeschrittene DaF-Lernende, insbesondere Studierende der Germanistik und anderer germanistischer Fächer mit Schwerpunkt der deutschen Sprache im Ausland eine besondere Relevanz haben könnte und weiterer Forschungen und Überlegungen bedarf. Jetzt zum Ende des Jahres 2014 kann ich eine Arbeit abschließen, die ein Artefakt wissenschaftlicher Überlegungen, empirischer Untersuchungen und praktischer Erfahrungen ist und zur Optimierung der philologischen Sprachdidaktik beitragen möchte.

Ein umfangreiches wissenschaftliches Vorhaben abzuschließen ist ohne Hilfe und Unterstützung kaum möglich. So auch in diesem Fall. Aus diesem Grund möchte ich all denjenigen, die mich auf diesem Weg stets begleiteten und unterstützten, an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen.

Frau Prof. Dr. Kazimiera Myczko danke ich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und viele wertvolle konstruktive Hinweise.

Herrn Prof. Dr. Reinhard Fiehler danke ich für seine Anregungen und hilfreichen Kommentare zu meinen Texten über gesprochene Sprache im DaF-Unterricht sowie für die bereichernden fachlichen Diskussionen in all den Jahren, als ich als DAAD-Stipendiatin am Institut für Deutsche Sprache geforscht habe. ← 11 | 12 →

Ein besonderer Dank gebührt Dr. habil. Antje Stork, die das Manuskript mit größter Sorgfalt gelesen, Korrekturen und Verbesserungsvorschläge eingebracht hat.

Dem Herausgeber der Reihe „Danziger Beiträge zur Germanistik“, Herrn Prof. Dr. Andrzej Kątny, danke ich für die Aufnahme dieses Buches in die Reihe; dem Verlag Peter Lang danke ich für die hervorragende Zusammenarbeit.

Zu danken ist darüber hinaus mehreren Kollegen wie auch Studierenden von den beteiligten Germanistikinstituten in Polen für die Bereitwilligkeit, mit der sie dieses Forschungsprojekt unterstützt haben.

Dem DAAD danke ich für die Möglichkeit zur Literaturrecherche in Mannheim (2009 und 2013) und Berlin (2009).

Mein Dank gilt auch meiner Heimatuniversität, Uniwersytet Warmińsko-Mazurski w Olsztynie, die mir ebenfalls mehrere Forschungsaufenthalte sowie die Teilnahme an zahlreichen inländischen und ausländischen Tagungen wie auch die Veröffentlichung dieser Monographie ermöglicht hat.

1.  Einleitung

In der fremdsprachendidaktischen Diskussion der letzten zwanzig Jahre lässt sich verstärkt das Bemühen verzeichnen, objektive Kriterien für die Beschreibung von Sprachkompetenz sowie Kompetenzbeschreibungen und -profile zu erstellen. Dieser Entwicklung trägt vor allem der „Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen“ Rechnung, indem er Werkzeuge der Standarisierung, Normierung und Diagnose für Verantwortliche im Bildungswesen, für Lehrwerkautoren, Lehrende, Lehrerausbilder, Prüfungsanbieter1 etc. zur Verfügung stellt (vgl. Europarat 2001: 14). Seine Gedanken wie auch andere Erkenntnisse aus der Fachdiskussion über Kompetenzen, Standards und Ergebnisse im Fremdsprachenunterricht sind auch bereits auf der bildungsdirektiven Ebene angekommen. Sowohl in Deutschland als auch in Polen und anderen nicht deutschsprachigen Ländern werden zunehmend Bildungsstandards für den DaF-Unterricht diskutiert, die festlegen, welche Kompetenzen die Lernenden bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. Die Aufstellung von Bildungsstandards wird gleichzeitig von der Entwicklung standarisierter Tests zur Überprüfung der erreichten Kompetenzen begleitet. Damit hat sich die fremdsprachendidaktische Fachdiskussion verstärkt vom input zum output verlagert, so dass man seit der Jahrhundertwende eine grundlegende Neuorientierung des Fremdsprachenunterrichts sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bildungsbereich konstatieren kann (vgl. Bausch/Burwitz-Melzer/Königs/Krumm 2009: 7).

Diese begrüßenswerten und nötigen Entwicklungen haben allerdings Perspektivierungen für eine angemessene Ausgestaltung von jeweils adressatenspezifisch ausgelegten Inhaltsstrukturierungen des Fremdsprachenunterrichts rar gemacht (vgl. ebd.), obwohl Kompetenzen bekanntenweise nicht ohne Rekurs auf Inhalte diskutiert werden können2. Auch infolge der Pragmatisierung des ← 13 | 14 → Fremdsprachenunterrichts ist die zentrale didaktische Frage nach den spezifischen adressatengerechten Inhalten zur Förderung des Bildungsprozesses in den Hintergrund getreten. Die Pragmatisierung hatte, so Gnutzmann (2009: 61), „eine Abwertung der Inhaltsfrage zur Folge, die sich in Forderungen nach ‚Entrümpelung‘ des Lernstoffes äußerte, die wiederum zur Exemplarität, aber auch Unverbindlichkeit und Trivialisierung von Inhalten führte“. Auch wenn die Abkehr vom bildungsorientierten Fremdsprachenunterricht, welcher die praktische und mündliche Kommunikationsfähigkeit nicht beachtet hat, einen bedeutenden Wendepunkt in der fremdsprachendidaktischen Reflexion und fremdsprachenunterrichtlichen Praxis darstellt, so ist der Verzicht auf die Überlegung, was Sprache ist, umfasst und wie ihre Erscheinungs- und Funktionsformen in den unterschiedlichen Formen und Ausgestaltungen des Fremdsprachenunterrichts mit seinen spezifischen Zielsetzungen und Lernergruppen vermittelt werden sollten, kritisch zu hinterfragen. Zu Recht stellt Grucza (2010b: 269f.) fest, „dass die Wirkung des Sprachunterrichts keineswegs nur von der Intensität oder der didaktischen Qualität seiner Ausübung (abhängt), sondern im Wesentlichen auch davon, was dabei unter ‚Sprache‘ verstanden wird […]“. Diese Feststellung ist insofern relevant, als die Linguistik im Zuge ihrer raschen Entwicklung in den vergangenen Jahren viele neue Perspektivierungen auf den Gegenstand Sprache gewonnen hat, die, so Eisenberg (2004: 22f.), unmittelbar von Bedeutung für die Lehrerausbildung sind, so dass wir sie „selbstbewußt und mit absolut gutem Gewissen zur Wirkung bringen (sollten)“.

So wurden im Zusammenhang mit der in den letzten Jahren intensiv betriebenen empirischen Untersuchung des realen Sprachgebrauchs zahlreiche Erkenntnisse gewonnen, welche die Frage nach den sprachlichen Varietäten und ihrer Relevanz für den mutter- wie auch fremdsprachlichen Deutschunterricht ← 14 | 15 → stärker in den Blick gerückt haben. Seit der Jahrtausendwende mehren sich seitens der didaktisch interessierten Sprachforschung im In- und Ausland verstärkt Stimmen, welche die ausschließliche Ausrichtung des DaF-Unterrichts an der Schriftsprache bezweifeln und die Fachgemeinschaft dazu auffordern, zu überlegen, welche Normen und Varietäten der deutschen Sprache in den unterschiedlichen Vermittlungskontexten von Sprache einzubeziehen sind3. Die meiste Aufmerksamkeit der Fachdiskussion gilt dabei der Vermittlung der gesprochenen Sprache, was angesichts der Tatsache, dass diese Varietät „im Vergleich zu formeller Schriftsprache onto- und phylogenetisch primär ist, kognitiv geringere Anforderungen stellt, in der Gesellschaft den kommunikativen Nähebereich abdeckt und damit auch quantitativ bei der Masse der Bevölkerung den größeren Kommunikationsraum ausfüllt“ (Elspaß 2010: 420), nicht verwunderlich ist. Die Notwendigkeit ihrer Vermittlung liegt aber auch darin, dass sie, wie Bartmiński (20103: 116f.) konstatiert, die wichtigsten Sinnverleihungen beinhaltet sowie elementare Denkstrukturen und Wahrnehmungen der Welt verfestigt4, so dass ihre Beherrschung die Teilhabe an der fremdsprachlichen Kultur ermöglichen kann.

Gesprochene Sprache stellt jedoch, auch wenn sie als „eine prominente Varietät“, die „im Unterschied zu den Fachsprachen oder zu Dialekten – für viele Lernergruppen relevant“ ist (Thurmair 2013: 104), ein komplexes und nicht eindeutig zu definierendes linguistisches Konzept dar, dessen Implementierung in den Sprachunterricht nicht einfach ist und dementsprechend auch kontrovers diskutiert wird5. So können die zahlreichen Argumente, Postulate und Plädoyers für die Berücksichtigung der Besonderheiten gesprochener Sprache im DaF-Unterricht, die durch authentische Belege aus veröffentlichten Korpora untermauert werden, noch nicht als ein holistischer, plausibler und ausreichender Vorschlag für die Einbeziehung der Forschungsergebnisse der ← 15 | 16 → Gesprochene-Sprache-Forschung in den DaF-Unterricht gesehen werden. Sie fokussieren meistens einzelne Phänomene der Gesprochensprachlichkeit, ohne sie in ein ganzheitliches didaktisches Konzept einzubetten, bzw. praktische Umsetzungsvorschläge zu unterbreiten, die die komplexen Lehr- und Lernvoraussetzungen der einzelnen Vermittlungsformen von Fremdsprache berücksichtigen würden.

Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Darstellung versuchen, die gewonnenen Erkenntnisse der Sprachforschung zu bündeln und eine bisher ausstehende sowohl theoretisch als auch empirisch begründete, adressatengerechte und interdisziplinär angelegte Didaktik des gesprochenen Deutsch zu skizzieren. Damit soll sie zur Inhaltsorientierung im Fremdsprachenunterricht in Bezug auf die Beschreibung des Gegenstandsbereichs Sprache beitragen. Die erste leitende Überlegung ist dabei, dass sich ohne eine umfassende und tiefgründige Reflexion über die linguistischen Grundlagen des Fremdsprachenunterrichts viele seiner relevanten Bereiche wie Formulierung der Lernziele, die Auswahl des Lernstoffes, die Entwicklung der Curricula und Lernmaterialien, die Einschätzung der Lerneräußerungen und die Messung der Leistungen (vgl. Fandrych 2010: 174) der Optimierung, Neustrukturierung und Innovation entziehen, so dass damit längerfristig Nachteile für die Subjekte der Didaktik entstehen. So wie Aguado (2009: 9) in Bezug auf die Problematik der Standarisierung im Fremdsprachenunterricht feststellt, dass „Standards nicht in Stein gemeißelt sein (dürfen) und bei Bedarf verändert werden können (müssen)“, so müssen auch die linguistischen Grundlagen des Fremdsprachenunterrichts angesichts der raschen Entwicklung der Linguistik immer wieder neu reflektiert werden, damit es nicht zu einer Auseinanderentwicklung von Sprachbeschreibung und Sprachdidaktik kommt, welche dann den Verlust ihrer Schnittstellen zur Folge hat (vgl. Neuland 2012: 18). Die zweite leitende Überlegung ist, dass jegliche Diskussionen, auch diejenigen auf dem Feld der linguistischen Inhaltsorientierung und Kompetenzbestimmung, differenziert erfolgen, d.h. die unterschiedlichen Formen und Ausgestaltungen des Fremdsprachenunterrichts mit seinen spezifischen Zielsetzungen und Lernergruppen fokussieren müssen. So bedarf auch der philologische Sprachunterricht einer eigenständigen Perspektive auf den Gegenstand Sprache, die im Folgenden ebenfalls diskutiert wird.

Die Darstellung ist wie folgt aufgebaut: Im ersten Schritt wird das Augenmerk auf die philologische Sprachausbildung und ihre Subjekte gelenkt (Kap. 2), damit Einsichten gewonnen werden, die für die Vermittlung des gesprochenen Deutsch in diesem Lehr- und Lernkontext von Fremdsprache relevant sein könnten. Dieser erste Schritt ist jedoch insofern erschwert, als die philologische ← 16 | 17 → Sprachausbildung bis jetzt nicht hinreichend erforscht und begründet wurde, obwohl Philologiestudierende in Polen seit langem in großen Zahlen ausgebildet werden. Da jedoch davon ausgegangen wird, dass sich kein in sich geschlossenes, universell gültiges Modell des Einbezugs gesprochener Sprache in den DaF-Unterricht entwerfen lässt, sondern dass jegliche Vorschläge die unterschiedlichen Erscheinungsformen, Zielsetzungen und Voraussetzungen des DaF-Unterrichts berücksichtigen und damit zielgruppenspezifisch ausformuliert werden müssen, ist eine tiefgründige und umfassende Reflexion über diese Vermittlungsform von Sprache unumgänglich.

In einem zweiten Schritt soll über gesprochene Sprache als ein komplexes linguistisches Gegenstandsfeld mit einer hohen didaktischen Relevanz nachgedacht werden (Kap. 3). Hier werden zuerst einige relevante Beschreibungskonzepte und -kategorien in Bezug auf den Forschungsgegenstand ‚gesprochene Sprache‘ diskutiert, die zum einen den aktuellen Stand der linguistischen Fachdiskussion abbilden und zum anderen von Relevanz bei der Betrachtung von gesprochener Sprache als Gegenstand des DaF-Unterrichts sind. Auf dieser Reflexion aufbauend wird im Weiteren über die didaktische Umsetzung der Erkenntnisse der neueren an der kommunikativen Praxis orientierten Sprachforschung nachgedacht, wobei das Augenmerk vordergründig auf die Besonderheiten gesprochener Sprache auf mehreren Sprachebenen aus der Perspektive des fortgeschrittenen DaF-Unterrichts im Ausland gerichtet wird. Zum Schluss werden die bereits vorhandenen Vorschläge des Einbezugs gesprochener Sprache in den DaF-Unterricht diskutiert wie auch die unterrichtlichen Handicaps gesprochener Sprache aus der Perspektive des philologischen Sprachunterrichts fokussiert.

Nach diesem systematisierenden Überblick über den bisherigen Stand der linguistischen und didaktischen Forschung in Bezug auf die gesprochene Sprache werden im empirischen Teil der Arbeit die gewonnenen vielfältigen Daten einer Feldstudie (thematisch gebunden und fokussiert auf die Erfassung der Voraussetzungen, Einschätzungen und Erwartungen der Studierenden der germanistischen Studienfächer in Polen wie auch die Ermittlung ihrer Erkennungsfähigkeit von Strukturen des gesprochenen Deutsch) präsentiert, analysiert und diskutiert (Kap. 4).

Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse aus dem theoretischen und aus dem empirischen Teil der Arbeit wird im Anschluss daran überlegt, wie sich diese in der philologischen Sprachausbildung operationalisieren und konsistent anwenden lassen (Kap. 5). So werden hier curriculare und unterrichtliche Handlungsempfehlungen zur Vermittlung der gesprochenen Sprache im ← 17 | 18 → philologischen Studium unterbreitet. Damit wird versucht, einen Grundstein zu einer durchdachten und konsequenten Konzeption einer Didaktik der gesprochenen Standardsprache für den philologischen Sprachunterricht in Polen zu legen, die durch neuere Erkenntnisse der Sprachforschung und der Sprachdidaktik fundiert wird.

Mit ihrem Ziel, die Relevanz der Vermittlung gesprochener Sprache im philologischen Sprachunterricht herauszustellen, soll diese Darstellung eine breite Diskussion über theoretische und methodische Grundsatzfragen der Übertragung der linguistischen Erkenntnisse in die philologische Sprachpraxis entfachen wie auch eine Debatte über das Design der philologischen Sprachausbildung anregen. Nicht zuletzt soll sie auch an Brückenschlägen zwischen Sprachforschung, Sprachdidaktik und Sprachunterricht mitwirken. ← 18 | 19 →


1 In dieser Abhandlung wird vorwiegend die männliche Form gebraucht. Die jeweils fehlende weibliche Form ist jedoch eingeschlossen und somit mitzudenken.

2 Wenn im Fremdsprachenunterricht von Inhalten die Rede ist, dann hauptsächlich von soziokulturell relevanten Themen. Inhalte, die sich auf die zu vermittelnde Sprache selbst und die diesbezüglichen zu erreichenden Kompetenzen beziehen, werden seltener der Reflexion unterzogen. Klippel (2009: 89) schildert Defizite der fremdsprachendidaktischen Reflexion in Bezug auf die Festlegung von Inhalten wie folgt: „In der Fremdsprachendidaktik wird in den letzten Jahren kaum in größerem Zusammenhang darüber reflektiert, welche Themen und Lernstoffe wichtig sind, wenn wir die Schülerinnen und Schüler zu Sprachbeherrschung und „cultural literacy“ führen wollen. Zwar beklagen einige schon länger die ‚Langweile des Sprachunterrichts‘, und es gibt allerorten Vorschläge für Themen und Texte, die aus motivationalen Gründen berücksichtigt werden sollten, nicht jedoch eine Debatte darüber, was denn Fremdsprachenlernende am Ende ihres Unterrichts über Sprache und Zielkultur(en) wissen sollten und wenig dazu, was an sprachlichen Kompetenzen stabil vorhanden sein muss, um anspruchsvolle Inhalte überhaupt verarbeiten zu können. Man beschränkt sich darauf, funktionale Lernziele und ein Strategierepertoire festzulegen. Somit überlässt man die Auswahl der Inhalte für den schulischen Fremdsprachenunterricht den Autorenteams der großen (Lehrwerk-)Verlage, die sich wiederum an den Lehrplänen orientieren, die zuweilen von denselben Personen auf der Basis der vorangehenden Lehrwerk-Generation erarbeitet wurden. Ein fataler Kreislauf“. An einer anderen Stelle (ebd. 88) stellt sie pointiert fest: „Soft skills sind sexy; Lernstoff gilt als dröge“.

3 An dieser Stelle nur eine kleine Auswahl: Reershemius (1998), Richter (2002), Breindl/Thurmair (2003), Thurmair (2002, 2005), Günthner (2000b, 2002a, 2010a, 2011a), Günthner/Wegner/Weidner (2013), Durrell (1995, 2004, 2006); Fiehler (2008a, 2013), Kilian (2005), Spiekermann (2007), Imo (2009, 2011, 2013a, 2013b), Schneider (2013b), Schneider/Albert (2013), Reeg/Gallo/Moraldo (2012), Moraldo/Missaglia (2013). In der polnischen germansitischen Forschungsliteratur sind es vor allem die Arbeiten von Prokop (1990), Schatte (1993), Tomczyk-Popińska (1994, 1997, 2003, 2006), Bilut-Homplewicz (2005), Pieklarz (2009a) und Pieklarz-Thien (2012), die auf Defizite der Sprachvermittlung im DaF-Unterricht hinweisen.

4 Vgl. das Zitat im Original in der Einleitung von Kap. 3.

5 Eine Zusammenfassung dieser Diskussion ist bei Imo (2009: 40ff., 2013a: 107ff.) zu finden.

Details

Seiten
382
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653055238
ISBN (ePUB)
9783653967302
ISBN (MOBI)
9783653967296
ISBN (Hardcover)
9783631662892
DOI
10.3726/978-3-653-05523-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Deutsch als Fremdsprache Auslandsgermanistik philologische Sprachkompetenz gesprochenes Deutsch
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 382 S., 70 Tab., 14 Graf.

Biographische Angaben

Magdalena Thien (Autor:in)

Magdalena Pieklarz-Thien ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik der Universität Olsztyn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind gesprochenes Deutsch in sprachwissenschaftlicher und fremdsprachendidaktischer Perspektive, fortgeschrittenes Fremdsprachenlernen und interkulturelle Kommunikation.

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