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Die Jugendstrafe wegen «schädlicher Neigungen» gemäß § 17 II Fall 1 JGG

Gemessen an den Grundsätzen angemessenen Strafens

von Janina Konze (Autor:in)
©2015 Dissertation 200 Seiten

Zusammenfassung

Schon seit einiger Zeit vermehrt sich die Kritik an der Erziehungsstrafe des § 17 II Fall 1 JGG. Die Autorin greift diese Kritik auf und befasst sich mit der Frage, ob die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen als intensiver Eingriff des Staates in die Rechte des Bürgers rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht. Dabei erfasst sie sowohl straftheoretische Grundlagen als auch allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben. Sie überprüft, ob mit der Jugendstrafe des § 17 II Fall 1 JGG ein legitimer Zweck verfolgt wird, zu dessen Erreichung die Maßnahme speziell als Strafe geeignet, erforderlich und angemessen ist. Mit dem klaren Verdikt der Verfassungswidrigkeit präsentiert die Autorin anschließend wertvolle Reformanstöße zur Gestaltung einer zweckrational legitimierten Jugendstrafe und ihres Vollzugs.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einführung und Grundlagen
  • I. Einführung
  • II. Allgemeine Grundlagen
  • 1. Die Begriffsverwendung
  • 2. Das Erfordernis der verfassungsrechtlichen Legitimation staatlicher Maßnahmen
  • III. Die Grundlagen eines eigenständigen Jugendstrafrechts
  • 1. Die Ausgangslage: Normenlernen und Normakzeptanz junger Menschen und ihre verminderte Schuldfähigkeit
  • 2. Der Stellenwert der Erziehung im JGG
  • 3. Die Jugendstrafe im System des JGG
  • B. Die Regelung des § 17 II Fall 1 JGG
  • I. Der historische Hintergrund der Regelung
  • 1. Die allgemeine Entwicklung des Jugendstrafrechts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
  • 2. Von der Jugendgerichtsbewegung zur Schaffung des RJGG 1923
  • 3. Die Verabschiedung des RJGG 1943 und die Einführung „schädlicher Neigungen“ in das deutsche Jugendstrafrecht
  • 4. Die Bereinigung des RJGG 1943 nach dem Zweiten Weltkrieg und die Verabschiedung des JGG 1953
  • 5. Übernahme der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen in das JGG und die Folgezeit
  • 6. Zwischenbilanz
  • II. Die Voraussetzungen der Anordnung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen nach § 17 II Fall 1 JGG
  • 1. Das Vorliegen von „schädlichen Neigungen“
  • a. Erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel
  • b. Die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten als Störung der Gemeinschaftsordnung
  • c. Die Notwendigkeit einer längeren Gesamterziehung
  • d. Das Hervortreten in der Tat – Die Straftat als Symptom für schädliche Neigungen
  • e. Der Zeitpunkt des Vorliegens der schädlichen Neigungen
  • f. Zwischenbilanz – Was bleibt von der Definition?
  • 2. Die Grundlagen der Bemessung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen
  • 3. Keine Geltung der allgemeinen Strafrahmen
  • III. Das Verhältnis der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen nach § 17 II Fall 1 JGG zur Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 II Fall 2 JGG
  • C. Die verschiedenen Formen der Prävention im System rechtlicher Maßnahmen – Strafe als Spezialfall der Prävention durch Reaktion auf begangenes Unrecht
  • I. Der Dualismus von Strafe und Maßregeln der Besserung und Sicherung
  • II. Die herrschende Kritik am dualistischen System des präventiven Freiheitsentzugs
  • III. Die Schuld und die Gefährlichkeit als Legitimationsvoraussetzungen präventiver Maßnahmen
  • 1. Die – aus Legitimationsgründen zwingende – Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen
  • 2. Vorwerfbarer Verhaltensnormverstoß und (straf-)rechtliche Schuld
  • 3. Die Gefährlichkeit als Anordnungsvoraussetzung der Maßregeln
  • IV. Zwischenbilanz: Die Unterscheidung von Maßregel und Strafe erfolgt anhand des zu erreichenden Zwecks
  • V. Die Möglichkeit einer anderen Positionierung zum Präventionsgedanken
  • D. Die Begrenzung staatlicher Eingriffe durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • E. Verstoß des § 17 II Fall 1 JGG gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • I. Der legitime Zweck des § 17 II Fall 1 JGG als staatliche Maßnahme
  • 1. Die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen und der alleinige Zweck einer wohlmeinenden Erziehungshilfe zugunsten des Jugendlichen
  • 2. Die Erziehung als Legalbewährung im Sinne einer Gefahrenabwehr – Anknüpfung der Jugendstrafe an die Gefährlichkeit des jungen Täters
  • II. Die Geeignetheit der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zur Gefahrenabwehr
  • Exkurs: Die Geeignetheit des Aufenthalts in der Jugendstrafvollzugsanstalt zur Bewältigung schädlicher Neigungen
  • III. Die Erforderlichkeit der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zur Abwehr von Gefahren, die von Personen ausgehen
  • Exkurs: Die Maßregeln – Ein kritischer Blick auf die Vollzugswirklichkeit
  • IV. Die Angemessenheit der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen
  • 1. Strafe ist die angemessen missbilligende Reaktion auf das spezifische personale Fehlverhalten des Täters
  • 2. Bedeutung für die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen
  • a. Überschreitung der schuldangemessenen Strafe
  • b. Bestrafung innerhalb der „Grenzen der Schuld“
  • c. Die „Spielraumtheorie“ – „Schuldkonkretisierung“ durch spezialpräventive Aspekte?
  • V. Zusammenfassung und Ergebnis der Überprüfung
  • F. Überlegungen zur Gestaltung einer auch zweckrational legitimierten Jugendstrafe und ihres Vollzugs
  • I. Bisherige Überlegungen in der Literatur
  • II. Eigene Reformanstöße
  • 1. Der legitime Zweck der Strafe vor dem Hintergrund eines zweckrational legitimierten Strafrechts
  • a. Zur spezialpräventiven Zwecklegitimation der (Jugend-)Strafe
  • b. Generalpräventive Strafzwecke und die unangemessene Zurückdrängung von Individualrechten
  • c. Vereinigungstheorien
  • d. Die Abwendung eines Normgeltungsschadens durch eine angemessen missbilligende Reaktion als legitimer Zweck der (Jugend-)Strafe
  • 2. Die Ausgestaltung der Jugendstrafe als eine Schuldstrafe – Der Schutz der Verhaltensnorm durch angemessen missbilligende Reaktion ist auch im Jugendstrafrecht der Legitimationsgrund der Strafe
  • 3. Mögliche Einwände gegen eine Jugendstrafe, die zur Wiederherstellung der Normgeltungskraft eingesetzt wird
  • 4. Strafzumessung und Strafmilderungsvorschrift
  • 5. Das Gewicht des personalen Fehlverhaltens junger Menschen als begrenzendes Kriterium der Strafbegründung
  • 6. Die Jugendstrafe im System strafrechtlicher und alternativer Rechtsfolgen – Flexibilität ist gewährleistet
  • 7. Mindestmaß und Höchstmaß der Jugendstrafe
  • 8. Der Gedanke der Erziehung im Rahmen einer angemessen missbilligenden Reaktion auf die begangene Straftat
  • 9. Die Berücksichtigung der Jugendlichkeit des Täters auf Vollzugsebene (Erziehungsvollzug)
  • 10. Ausgestaltungsvorschlag eines Stufenvollzugs unter beispielhafter Einbeziehung des „Projekt Chance“ in Creglingen-Frauental und des „Seehaus“ in Leonberg
  • 11. Ein unverzichtbarer Bestandteil: Nachsorgeprogramme im Anschluss an die Inhaftierung
  • G. Zusammenfassung und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

← 10 | 11 → A. Einführung und Grundlagen

I. Einführung

In der öffentlichen Diskussion nimmt die Situation junger Menschen stets einen besonderen Stellenwert ein. Die mit jugendspezifischen Themen oft einhergehende Emotionalität ist in Anbetracht ihrer Brisanz nicht verwunderlich. So blickt unsere Gesellschaft in eine vom demographischen Wandel geprägte Zukunft. Sie fragt nach einem Investitionsprogramm in Bildung und Ausbildung und diskutiert auch über den Umgang mit straffälligen jungen Menschen. Das Jugendstrafrecht stellt insofern ein Instrumentarium zur Verfügung, das der verminderten Verantwortlichkeit von Jugendlichen gerecht werden möchte. Die Strafen des allgemeinen Strafrechts werden durch ein System von Maßnahmen ersetzt, die auch erzieherisch wirken sollen.

Die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen nach § 17 II Fall 1 JGG ist dabei eine von zwei Möglichkeiten, Jugendliche nach deutschem Strafrecht mit Strafe zu sanktionieren. Sie stellt zumindest formal einen Fall von „echter“ Kriminalstrafe im Jugendstrafrecht dar.1 Dennoch ist sie an einige Voraussetzungen geknüpft, die dem allgemeinen Strafrecht zunächst fremd sind. Ihre Verhängung ist zum einen stets von der Feststellung „schädlicher Neigungen“ des Jugendlichen abhängig. Zum anderen ist die Jugendstrafe vorrangig am Gedanken der Erziehung zu bemessen. Zwar soll sie auch dem Ausgleich von Schuld dienen, die Straflänge muss jedoch vor allem die erforderliche erzieherische Einwirkung ermöglichen, § 18 II JGG.

Aufgrund der erzieherischen Ausrichtung der Jugendstrafe und ihrer Bemessung ist § 17 II Fall 1 JGG seit jeher hoch umstritten. Forderungen, die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zu reformieren oder gänzlich abzuschaffen, waren jedoch bislang von keinerlei Erfolg gekrönt. Trotz fortwährender Kritik hält sie sich de lege lata hartnäckig im deutschen Jugendgerichtsgesetz. Ein Blick in die jugendrichterliche Praxis verrät zudem, dass die Verhängung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen keine Randerscheinung ist. Vielmehr stützen sich annähernd 70 % aller verhängten Jugendstrafen auf § 17 II ← 11 | 12 → Fall 1 JGG.2 Der Erziehungsgedanke als solcher ist durch das 2. JGGÄndG im Jahre 2007 nochmals bestätigt worden. Um so bedeutsamer ist es daher, die durchaus vorhandene Kritik an der Jugendstrafe aufzunehmen und bei Bedarf „nachzulegen“.

Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur grundlegenden verfassungsrechtlichen Überprüfung der Jugendstrafe nach § 17 II Fall 1 JGG leisten und mögliche Reformanstöße präsentieren. Aufgrund ihrer Ausrichtung auf die Erziehung könnte sich eine problematische Orientierung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen an der Spezialprävention ergeben. Es stellt sich die Frage, ob sie vor diesem Hintergrund überhaupt zweckrational legitimiert sein kann. Auch die Jugendstrafe muss die allgemeinen Legitimationsbedingungen erfüllen, die an sämtliche staatliche Eingriffe gestellt werden. Das bedeutet, dass sie im Hinblick auf den mit ihr angestrebten Zweck jedenfalls dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen muss. Es soll untersucht werden, ob die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen überhaupt einen legitimen Zweck verfolgt und ob sie zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist.

Zur Überprüfung der verfassungsrechtlichen Legitimation der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen ist neben der Herausarbeitung ihrer Anordnungsvoraussetzungen, vor allem eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Prävention im System rechtlicher Maßnahmen notwendig. Insbesondere ist hierbei auf den Dualismus von Strafe und Maßregel mit ihren jeweiligen Legitimationsbedingungen einzugehen. Soweit ein legitimer Zweck des § 17 II Fall 1 JGG genau herausgearbeitet ist, können die anschließenden Fragen nach der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit einer wegen schädlicher Neigungen verhängten Strafe gestellt werden. Nachfolgend sollen Anstöße für die Reform der Jugendstrafe gegeben werden.

II. Allgemeine Grundlagen

1. Die Begriffsverwendung

Um Missverständnissen vorzubeugen, ist es sinnvoll, die hier verwendeten Begriffe vorab klar zu definieren. Als Maßregeln sind die Maßnahmen des Staates ← 12 | 13 → gemeint, die allein zur Besserung und Sicherung eingesetzt werden, also rein spezialpräventiv wirken sollen. Sie sollen der Schutzaufgabe dienen, die Allgemeinheit vor gefährlichen Personen zu schützen, indem sie diese bessern oder sichern. Der Begriff Strafe bzw. Sanktion bezeichnet hingegen die Reaktion auf eine hinreichend schuldhaft begangene Straftat.3 Durch den Einsatz von Strafe wird Unrechtsverhalten in der Vergangenheit angemessen missbilligt und die Geltungskraft der übertretenen Verhaltensnorm geschützt. Der Begriff der Maßnahme ist der Oberbegriff für sämtliche Reaktionsmöglichkeiten des Staates, umfasst also sowohl die Maßregeln der Besserung und Sicherung als auch die Sanktionen als Mittel der Ahndung einer Straftat.4 Das Strafrecht im eigentlichen Sinne bezieht sich nur auf die Strafe bzw. die Sanktion – als Reaktion auf hinreichend schuldhaft begangenes Unrecht – an sich. Durch diese Begriffsverwendung ist von vornherein eindeutig, von welcher staatlichen Maßnahme die Rede ist, so dass eine Irreführung durch zu undifferenzierte Bezeichnungen vermieden wird.

2. Das Erfordernis der verfassungsrechtlichen Legitimation staatlicher Maßnahmen

Als öffentlich-rechtliche Eingriffe des Staates in die Rechte des Einzelnen müssen staatliche Maßnahmen immer formell und materiell berechtigt sein. Das bedeutet, dass sie zunächst in der Sache legitimiert sein müssen. Die allgemeinen Legitimationsbedingungen staatlicher Eingriffe müssen für alle Maßnahmen des Strafrechts im weiteren Sinne gelten.5 Das Strafrecht hat sich dabei zum Ziel gesetzt, das friedliche Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft zu schützen.6 Das Institut der Strafe als öffentlich-rechtliche Maßnahme hat gleichzeitig aber massive Folgen für den Betroffenen. Der Staat nimmt durch den Einsatz von Strafe einen Eingriff vor, welcher besonders intensiv wirkt. Ihm wird die Freiheit auf bestimmte Zeit entzogen bzw. eine Geldstrafe auferlegt. Sie wird daher als das schärfste staatliche Mittel – als ultima ratio – bezeichnet.7 ← 13 | 14 → Aber auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung stellen einen massiven Eingriff in die Freiheitsrechte des Betroffenen dar. Die schärfste Maßnahme des Maßregelrechts ist die Sicherungsverwahrung einer Person, die vorgesehen ist, wenn diese Person nach Verbüßung der Freiheitsstrafe eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.

Es ergibt sich bereits aus fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsätzen, dass ein Eingriff in verfassungsrechtlich verbürgte Rechte einer Person ohne legitimen Zweck nicht vorgenommen werden darf. Darüber hinaus muss der Eingriff zur Erreichung dieses Zwecks nicht nur geeignet sein, vielmehr muss das gewählte Mittel zur Erreichung dieses Zwecks zudem erforderlich und angemessen sein.8 So ist die Verhängung von Strafe und Maßregel ebenfalls nur dann berechtigt, wenn sie einen Zweck verfolgt, welcher vom Aufgabenbereich des Staates umfasst wird. Aufgaben, die dem Staat nicht obliegen oder gar Maßnahmen, die jeglichen Zweckes entbehren, sind unzulässig und damit nicht legitimierbar.9 So kann insbesondere eine Strafzwecklehre, die eine zweckfreie Strafe fordert, spätestens seit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht mehr vertreten werden.10 Nach der klassischen absoluten Straftheorie wäre die Strafe nur eine bloße Antwort auf das Verbrechen11; ihr Zweck läge allein im „Ausgleich“ des begangenen Unrechts. Ein solcher Zweck staatlichen Handelns kann jedoch vor dem Hintergrund der Aufgabe des Staates, verfassungsrechtlich anerkannte Güter und Interessen zu schützen, nicht legitim sein. Der bloße Hinweis auf ausgleichende Gerechtigkeit genügt als Legitimationsgrund für den Einsatz von Strafe nicht.12 So ist die Strafe grundsätzlich nur im Hinblick auf ihre soziale Notwendigkeit zu legitimieren.13 Strafe darf – wie jeder staatliche Eingriff – nur für ← 14 | 15 → Zwecke eingesetzt werden, die zum Aufgabenbereich des Staates gehören.14 Nach überwiegender und auch der hier zugrunde gelegten Ansicht ist die Aufgabe des Strafrechts ganz allgemein zunächst als Rechtsgüterschutz zu bezeichnen.15

Diese grundlegenden Eingriffvoraussetzungen des Staates müssen auch für die Maßregeln gelten. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind ebenfalls Eingriffe des Staates in grundrechtlich verbürgte (Freiheits-)Rechte des Betroffenen und bedürfen daher der Legitimation. Durch die Verhängung einer Maßregel werden mitunter sogar auf unbestimmte Zeit Freiheitsrechte beschnitten. Hier hat der Betroffene die Strafe oft bereits verbüßt und ihm wird ein darüber hinausgehender Entzug der Freiheit auferlegt. Es ist darzulegen, weshalb die betroffene Person über das Maß der Schuld hinaus in ihrer Freiheit beschränkt werden darf und weshalb die Verhängung einer (längeren) Strafe kein geeignetes bzw. kein angemessenes Mittel ist.16 Auch hier ist Bezug auf den legitimen Zweck, und zwar speziell auf den der Maßregeln zu nehmen. In einer rechtsstaatlichen Ordnung müssen die verschiedenen Maßnahmen des Staates durch den mit ihnen jeweils verfolgten unterschiedlichen Zweck legitimiert und daher auch mit Blick auf diesen differenziert beurteilt werden. Daher ist aufzuzeigen, welcher Zweck durch welche Maßnahme genau erfüllt werden soll und ob gerade dieses Mittel geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen.17

← 15 | 16 → Bei der Legitimation der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen nach § 17 II Fall 1 JGG dürfen insoweit keine anderen Maßstäbe angesetzt werden. Die Jugendstrafe nach § 17 II JGG ist als echte Kriminalstrafe ausgestaltet.18 Sie muss also eine angemessene Reaktion auf die begangene Tat – genauer: auf das verwirklichte personale Verhaltensunrecht nebst Folgen sein. Vor allem ist zu bedenken, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe in der Entwicklungsphase der Jugend jedenfalls nicht weniger, vielleicht sogar deutlich spürbarer sein dürfte als bei erwachsenen Tätern. Es muss gefragt werden, ob die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen gerade als Strafe geeignet, erforderlich und angemessen ist, um einen legitimen Zweck zu erfüllen, der dem staatlichen Aufgabenbereich entspricht.

III. Die Grundlagen eines eigenständigen Jugendstrafrechts

1. Die Ausgangslage: Normenlernen und Normakzeptanz junger Menschen und ihre verminderte Schuldfähigkeit

Für ein friedliches Zusammenleben in einer Gemeinschaft ist es unabdingbar, Verhaltensregeln aufzustellen, die die verschiedenen Interessen und Belange des Einzelnen in einen angemessenen Ausgleich mit den Belangen der Gemeinschaft bringen. Um einen effektiven Schutz aller Interessen und Belange zu gewährleisten, ist es jedoch vor allem wichtig, dass die aufgestellten Verhaltensnormen von den einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft akzeptiert und befolgt werden. Es sollte einleuchten, dass von Menschen geschaffene Ge- und Verbote nicht von Geburt an bekannt sind. Vielmehr ist deren Befolgung vor allem der Aneignung und Verinnerlichung sozialer Werte und dem Willen des Menschen geschuldet, in einer friedlichen Gemeinschaft zu leben.19 Das Erlernen und Verinnerlichen von Verhaltensnormen ist ein Prozess, der die Kindheit und die Jugend eines Menschen prägt und auch noch darüber hinausgeht. So ist die Zeit von Kindheit und Jugend im Wesentlichen durch Entwicklung gekennzeichnet. Dazu gehört nicht nur körperliches Wachstum, sondern auch die Ausprägung der eigenen Persönlichkeit. Junge Menschen erlernen die Fähigkeit, das eigene Handeln zu reflektieren und dementsprechend zu handeln, erst im Laufe ihrer Lebensjahre. Die Entwicklung von Moral, Verantwortungsbewusstsein und Empathie ← 16 | 17 → sind wesentliche Faktoren für das Erlernen und für die Verinnerlichung sozialer Normen. So durchläuft ein junger Mensch in der Kindheit sowie in der Jugend verschiedene Stufen der Normakzeptanz und des Normenlernens.20 Zu den Regeln, die gesellschaftliches Zusammenleben ermöglichen, gehören auch die strafrechtsrelevanten Ge- und Verbote. So müssen auch die dem Strafrecht vorgelagerten Ge- und Verbote der sozialen Verhaltensnormen erst in einem Sozialisationsprozess erlernt und so zu einer inneren Leitlinie für das eigene Handeln gemacht werden.21

Das Erlernen und die Akzeptanz von (strafrechtsrelevanten) Verhaltensge- und verboten ist wohl ebenso bedingt durch komplexe neuronale Vorgänge im Gehirn wie auch durch die Wechselwirkung mit der Umwelt.22 Ein näheres Eingehen auf diese Vorgänge ist hier nicht erforderlich. Im Hinblick auf die Bearbeitung der vorliegenden Problematik ist es ausreichend, lediglich die grundlegenden Ebenen des Prozesses des Normenlernens herauszuarbeiten: Die ständige äußere soziale Kontrolle und die Etablierung ihrer Normen in der Außenwelt führen grundsätzlich zu der persönlichen Verinnerlichung der Normen.23 Diese Normen, die für ein gesellschaftliches Zusammenleben nötig sind, werden im besten Fall zu einem eigenen moralischen Prinzip, dessen Befolgung einer inneren – persönlichen – Kontrolle zu verdanken ist.24 Die Ebene der äußeren Normensetzung und dem damit einhergehenden Aufzeigen von Grenzen ist unweigerlich der erste Schritt im Hinblick auf die Befolgung und Verinnerlichung von Verhaltensnormen und gerade im Hinblick auf das Normenlernen durch Kinder und Jugendliche unumgängliche Voraussetzung.25 Es wird angenommen, dass sich in dieser Phase des Erlernens und der Erprobung dieser Normen auch das Phänomen einer meist vorübergehenden Periode an Grenzüberschreitungen junger Menschen ergibt.26 Jugenddelinquenz stelle in diesem ← 17 | 18 → Zusammenhang einen Teil des Normenlernprozesses dar, zu dem die Erprobung und Austestung von Normüberschreitungen naturgemäß gehöre.27

Für die Prävention von Jugendkriminalität ist die Frage nach der Ursache der Überschreitung von Verhaltensnormen als mögliche Folge mangelnder Verhaltensnormverinnerlichung – als der strafrechtlichen Reaktion vorgelagerten Frage – von zentraler Bedeutung. Für das Strafrecht selbst bedeutet das soeben Dargelegte zunächst, dass junge Menschen nicht gleichermaßen für das Übertreten einer strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm zur Verantwortung gezogen werden dürfen wie Erwachsene, bei denen grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass ihnen die Verhaltensnormen bekannt sind und sie diese in ausreichendem Maße verinnerlicht haben.28 Jugendliche können weder die Folgen ihres Handelns im gleichen Maße abschätzen wie Erwachsene noch sind ihnen die Verhaltensanforderungen der Gesellschaft entsprechend vertraut.29 Das Maß an Schuld, das ein junger Mensch trotz Überschreitung oder Missachtung einer solchen strafrechtsrelevanten Verhaltensnorm auf sich geladen hat, ist nicht mit dem eines entwickelten, erwachsenen Täters gleich zu setzen.30

Die gezeigte Wertung liegt auch dem Gesetz zugrunde. So gelten Kinder unter 14 Jahren nach den Maßstäben unserer Rechtsordnung als absolut schuldunfähig, § 19 StGB. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren wird davon ausgegangen, dass sie im Gegensatz zu Kindern bereits ein gewisses Maß an Normkenntnis und -akzeptanz entwickelt haben. Sie sind dann für ihr Handeln strafrechtlich verantwortlich, wenn sie zum Zeitpunkt der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug sind, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, § 3 JGG. Die erforderliche Reife im Sinne des § 3 JGG setzt sowohl die Einsichtsfähigkeit als auch die Steuerungsfähigkeit voraus, was sich in der Regel in der Frage der Normkenntnis sowie in der Fähigkeit, entsprechend zu handeln, erschöpft.31 Diese Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und das eigene Handeln darauf auszurichten, muss gemäß § 3 S. 1 JGG bei jeder Verurteilung positiv festgestellt werden.32 Die Schuldfähigkeit ist bei jeder einzelnen ← 18 | 19 → Straftat für den Zeitpunkt der Tat zu überprüfen und kann nicht für einen bestimmten Zeitraum generell festgestellt werden.33 Jugendliche, welche nicht fähig sind, das Unrecht zum Zeitpunkt der konkreten Tat einzusehen, dürfen – in Analogie zu § 20 StGB – nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.34

Der tatsächliche Entwicklungsstand eines Jugendlichen/Heranwachsenden folgt jedoch keiner präzisen Abstufung, die beispielsweise dem Alter des Betroffenen entspricht. Vielmehr dürfen Altersgrenzen nur als Orientierungshilfe im Hinblick auf die Entwicklung eines Menschen angesehen werden.35 Es verläuft keine klare Grenze vom Stadium der Jugend zum Erwachsensein; die Entwicklung ist vielmehr als ein fließender Übergang bedingt durch diverse Faktoren zu verstehen.36 So tritt die Volljährigkeit und damit die volle Geschäftsfähigkeit in Deutschland zwar mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein.37 Für das Strafrecht kann jedoch eine solch scharfe Trennlinie zwischen der Phase der Jugend und dem Erwachsensein nicht gezogen werden. Es kommt vielmehr auf die Feststellung der individuellen Verantwortlichkeit einer Person für einen Verhaltensnormverstoß an. Im deutschen Jugendstrafrecht wird jungen Menschen entgegen der gesetzlichen Volljährigkeit, die sich aus dem BGB ergibt, daher eine Übergangsfrist gewährt, innerhalb deren er trotz Volljährigkeit noch auf der Grundlage jugendstrafrechtlicher Normen beurteilt werden kann. Dies ist dann der Fall, soweit die Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung seiner Umwelt ergibt, dass ein Heranwachsender zur Tatzeit nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder es sich nach der Art, den Umständen und den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt, § 105 I JGG. Obwohl die Phase der Adoleszenz in zeitlicher Hinsicht nicht klar abgrenzbar ist38, ist die Anwendung des Jugendstrafrechts maximal bis zum 21. Lebensjahr möglich (vgl. § 1 II JGG).39 Bei der ← 19 | 20 → Bestrafung kommt es stets auf das jeweilige personale Fehlverhalten eines Menschen an, das jeder Einzelne individuell verwirklicht.40

Es bleibt festzuhalten, dass Jugendliche und Heranwachsende schon aus biologischen Gründen ein vermindertes Verantwortungsgefühl haben und die Normen der Gesellschaft und insbesondere die strafrechtsrelevanten Ge- und Verbote erst erlernen, akzeptieren und verinnerlichen müssen. Es kann ihnen nicht der gleiche strafrechtliche Schuldvorwurf gemacht werden wie einem voll verantwortlichen erwachsenen Straftäter.41 Die legitime Strafe kann aus diesem Grund im Hinblick auf Art und Maß nicht die gleiche wie im allgemeinen Strafrecht sein. Strafe und Schuld sind untrennbar miteinander verbunden. Die verminderte Schuld, die bei Jugendlichen und Heranwachsenden aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung gegeben ist, muss zwangsläufig bei der Strafe, als staatlicher Reaktion auf den begangenen Verhaltensnormverstoß, beachtet werden.42 Ohne Frage bedarf es im Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein eines Umgangs mit jungen Menschen, der ihrer verminderten Verantwortlichkeit gerecht wird.

2. Der Stellenwert der Erziehung im JGG

Jugendliche und auch Heranwachsende befinden sich in der Entwicklung. Dies schließt es aus, dass ihnen die volle Verantwortung für ihr Handeln und damit eine für die Anwendung des allgemeinen Strafrechts ausreichende Schuldfähigkeit zugesprochen werden kann. Gleichzeitig gilt ein Mangel an Erziehung oft als Hauptgrund für fehlende Normausbildung.43 So versucht das Jugendgerichtsgesetz durch erzieherische sowie strafende Maßnahmen möglichst umfassend auf jugendliche Rechtsbrecher einzuwirken. Auch wenn der Erziehungsgedanke als Leitprinzip des Jugendstrafrechts niemals unbestritten war44, wird ihm überwiegend eine zentrale Rolle zugesprochen und von vielen als elementar und unverzichtbar für ein wirkungsvolles Jugendstrafrecht betrachtet.45 Und in der Tat befördert der Gedanke der Erziehung die Erkenntnis, dass die Gesellschaft für ← 20 | 21 → ihre Jugend eine ganz besondere Verantwortung besitzt und die Besonderheiten jugendlicher Entwicklung einen differenzierten Umgang mit ihr erfordern.

Details

Seiten
200
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055795
ISBN (ePUB)
9783653965087
ISBN (MOBI)
9783653965070
ISBN (Paperback)
9783631664278
DOI
10.3726/978-3-653-05579-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Jugendstrafrecht Verhältnismäßigkeitsprinzip Erziehungsstrafe straftheoretische Grundlagen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 200 S.

Biographische Angaben

Janina Konze (Autor:in)

Janina Konze studierte Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Marburg tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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