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Spalten – Herta Müllers Textologie zwischen Psychoanalyse und Kulturtheorie

von Monika Leipelt-Tsai (Autor:in)
©2015 Monographie 275 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch wird der Zusammenhang zwischen Textur und Spalten anhand der Texte von Herta Müller untersucht. Diese tendieren häufig zu Textbildern und vereinzelt zum Format der Spalte, und bieten in ihrer Prozessualität der textologischen Methode ein besonders fruchtbares Analysefeld. Die Vieldeutigkeit des Begriffs Spalten eröffnet der Textologie nicht nur Lektüreansätze, vielmehr spielt er bereits auf die Spaltung des Textes zur Verortung in Kategorien, Genres und Wissensmodi an. Müller hat diese widersprüchlichen Textpraktiken unablässig im Schreiben thematisiert und literarisiert. Spalten produzieren Ordnung, doch Müller spaltet auch Texte auf, um sie totalitären Zensurpraktiken zu entziehen und sich auf andere Weise anzueignen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Spalten – Herta Müllers Texte. Eine Einleitung
  • 0.1 Zu „spalten“, „Spalten“ und „Spaltung“. Eine Entfaltung
  • 0.2 Spalte
  • 0.3 Provenienz und Aufteilung dieses Buches
  • Muttersprache – Fremdsprache. Herta Müllers Prosatext „In jeder Sprache sitzen andere Augen“
  • 1.1 Poetologie
  • 1.2 Muttersprache
  • 1.3 Lücken, Spalten
  • 1.4 Fremdheit
  • 1.5 Tauschwert
  • 1.6 Aneignen
  • 1.7 Judofürze, oder das Politische der Sprache
  • 1.8 Fremde Mutter-Sprache
  • 1.9 Poetik der Verknüpfung
  • Aufbruch und Bruch in Herta Müllers Roman „Atemschaukel“
  • 2.1 Schaukeln
  • 2.2 Verfahren. Flunkern
  • 2.3 VerIrrung
  • 2.4 Abgesondert
  • 2.5 Die in Gang gesetzte Zeit
  • 2.6 The next day the deportations about to begin …
  • 2.7 Aufbrüche
  • Genus und Riss in Herta Müllers Erzählung „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“
  • 3.1 Familienähnlichkeit als Abgrenzung
  • 3.2 Mehr als ein literarisches Genre, und ein Er(d)beben
  • 3.3 Die Frage des Namens
  • 3.4 Erzählmodi, und die Poetik im „Riß in der Pupille“
  • 3.5 Vater – Falter
  • 3.6 VerSehen. Ein Spalt im Lesefluss
  • 3.7 Genus dicendi, und das Nichtwissen von Gender
  • 3.8 Treuebruch
  • 3.9 Repetitones: Die Spaltung der Beziehung und die Frage des Namens
  • 3.10 Kreuztragende
  • 3.11 Konsum als Religion des Kapitalismus
  • 3.12 Eine andere Form von Familienchronik
  • Weltliteratur an den Rändern. Unheimeligkeit (Unhomeliness) in Herta Müllers Prosatext „Das Land am Nebentisch“
  • 4.1 Unheimeligkeit (in) der modernen Welt
  • 4.2 Im Konflikt
  • 4.3 Zwischen den Zeiten
  • 4.4 Drehungen der Landschaft
  • 4.5 Unvertraute Vertrautheit
  • 4.6 Wie ein Schimmer
  • 4.7 Eine Zeitverschiebung
  • 4.8 Eine Gegenwart, die keine ist
  • 4.9 Oszillierend zwischen den Zeilen und Welten
  • 4.10
  • Die Dichterin als ‚Schneiderin‘: Spalten und Spaltung in einer Collage Herta Müllers
  • 5.1 Abspaltung von Autorschaft
  • 5.2 EntZiffern?
  • Literatur

← 6 | 7 → Spalten – Herta Müllers Texte. Eine Einleitung

0.1 Zu „spalten“, „Spalten“ und „Spaltung“. Eine Entfaltung

Herta Müller ist eine transnationale Schriftstellerin, die im rumänischen Banat aufgewachsen ist und jetzt in Deutschland lebt. In Herta Müllers Texten gibt sich die Spaltung als Chiffre ihres Schreibens zu lesen. Deshalb eröffnen ihre Texte das Denken von Spalten und Spaltung als spannende Frage. Der Begriff „Spalten“ im Titel dieses Buches lässt bereits anklingen, dass die Texte Müllers spalten, und zugleich, dass im Folgenden daran gearbeitet wird, sie auf ihren Sinn hin zu spalten. Wie nun im Folgenden beim Forschen nach Spalten und der Spaltung als Figuration entfaltet wird, lässt der mehrdeutige Begriff ‚Spalten‘ ganz viele Lesarten zu, die sich fruchtbar mit Müllers Texten verknüpfen lassen. Dabei wird der geschriebene wie zu lesende Text in seiner Prozessualität ins Interesse gerückt. In der Textologie als einer Erforschung von Texten, die rhetorische Strukturen, Metaphern, grammatische Besonderheiten und intertextuelle Bezüge nicht vernachlässigt, wird der materiellen Dimension der Texte eine größere Relevanz eingeräumt.1 Dies lässt sich auch in der Intermedialität der Texte Herta Müllers zwischen Bild und Schrift eröffnen, welche eine besondere Textologie generieren.

In der deutschen Sprache2 eröffnet die Überschneidung des Begriffs ‚Spalten‘ als Handlung und als Öffnung interessante Konstellationen. In den Texten von Herta Müller spielt diese Überschneidung eine wichtige Rolle, welcher sich ← 7 | 8 → meine Untersuchungen widmen, denn der Begriff „Spalten“ spielt bereits auf die Spaltung des Textes zur Verortung in Kategorien, Genres und Wissensmodi an. Welche Differenz und Besonderheit gibt es bei Spalten und Spaltung? Das Lemma „spalten“ ist im Duden als unregelmäßiges Verb verzeichnet, und kann „(der Länge nach, entlang der Faser) in zwei oder mehrere Teile zerteilen“,3 „sich (…) spalten lassen“, „sich teilen, (zer)trennen“, „bewirken, dass die Einheit von etwas nicht mehr besteht“ sowie „die Einheit verlieren, aufgeben; sich teilen, trennen“ bedeuten. Das Verb ‚spalten‘ besitzt demnach zugleich aktivische und passivische Bedeutung: Wenn etwas ‚spaltet‘, so kann es Agens sein, d.h. sich selbst (zer)teilen bzw. trennen, und andererseits Patiens sein, d.h. ein anderes Objekt (zer)teilen respektive trennen. In beiden Fällen, beim Sichspalten und Gespaltenwerden, erscheint als Ergebnis die Aufgabe einer Einheit, wenn etwas in mindestens zwei Teile geteilt wird. Das Spalten als Aktivität kann ein trennendes Verfahren bezeichnen, z.B. beim Holzfällen mit der Axt. Ebenso benennt es im fachsprachlichen Gebrauch ein trennendes Verfahren in der Chemie und Physik, das etwas Neues produzieren kann. Das Verfahren des Spaltens wurde in früheren Zeiten auch in der Rhetorik angedeutet: Anstatt sprichwörtlich ‚mit dem Zaunpfahl‘ zu winken, konnte laut dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm aus dem 19. Jahrhundert die deutsche Redensart „einem mit der spaltaxt winken“4 verwendet werden, wenn ein recht deutlicher Hinweis zu geben war. Spalten als Tätigkeit beinhaltet durchaus immer etwas Gewalttätiges, indem (vom Selbst oder vom Anderen) eine Grenze überschritten wird, bei der eine (un)bestimmte Art von Verletzung infolge einer Berührung mit etwas Fremdem stattfindet.5

Was wird durch das Spalten produziert? Ist seine Bedeutung auf die Zerstörung einer Einheit beschränkt? Dies kann unter anderem im Rückblick auf Grimms Deutsches Wörterbuch entfaltet werden, wo es unter dem Stichwort „SPALT“ erläutert wird als „eine durch spalten entstandene öffnung im holz, ← 8 | 9 → stein u. s. w.“.6 Der Spalt entsteht so aus einer sich öffnenden Lücke in einem festen Material. Wird diese Lücke größer, ergibt sich eine Abspaltung. Das Wort ‚Spalt‘ bezeichnet demnach diese entstandene Öffnung. Es kann darüber hinaus aber auch ein dadurch entstandenes abgespaltenes materielles Stück bezeichnen, d.h. laut Grimms Wörterbuch „concret, das durch spalten gewonnene stück“7 wie beispielsweise ein Holzscheit.8 Der Spalt kann dabei sein grammatisches Geschlecht wechseln:

„in diesem sinne auch mit umschlag ins neutrale geschlecht (nach scheit): ein spalt holz“.9

Damit wird deutlich, dass der Spalt das Produkt des Spaltens bezeichnen kann, und zwar beides, sowohl die Öffnung als auch das daraus neu entstandene Stück Material. Die letztere Bedeutung scheint heute wenig gebräuchlich, denn sie findet sich im Wörterbuch „Duden online“10 nicht mehr. Alte Formen des grammatisch männlichen Wortes ‚Spalt‘ bezeichnen auch Spalten in Dingen, wie im Gemäuer oder in der Sparbüchse, oder beschreiben die „beschaffenheit einzelner körpertheile. vom schlitzauge asiatischer völker11 sowie „spalt oder schrunden im hindern, fissura12. Beides sind Beispiele von Öffnungen des menschlichen Körpers, die in Grimms Wörterbuch angeführt werden. Der Begriff ‚Spalt‘ wurde aber auch im übertragenen Sinne verwendet, z.B.:

„3) von unsinnlichem. im sinne von zwietracht statt des häufigeren zwiespalt, von dem es sich durch das fehlen des gegensatzes unterscheidet, indem das gewicht auf die störung an sich gelegt wird. (von dem im kampfe mit dem Frühling unterlegenen Winter)“.13

← 9 | 10 → Damit wird aufgrund des Fehlens einer Opposition (wie das Nomen ‚Eintracht‘ im Unterschied zu ‚Zwietracht‘) von den Grimms beim grammatisch männlichen Wort „spalt“ eine Gewichtung auf die Störung an sich impliziert, so dass das Kompositum „zwiespalt“ eine Wirkung bezeichnet, welche als unangenehm wahrgenommen wird. Das Produkt des Spaltens kann zudem auch durch eine neuhochdeutsche „nebenform zu spalt“14 bezeichnet werden, die diese einschränkt:15 das Substantiv „die Spalte“. Auch heute kann ein durch Spalten gewonnenes Stück „ein Spalt“ oder auch „eine Spalte“ genannt werden, z.B. ein Apfelspalt oder eine Apfelspalte, die von einem Apfel abgeschnitten sind. Im heutigen Gebrauch scheint das maskuline grammatische Geschlecht vergleichsweise weniger dafür verwendet zu werden, denn es wird im „Duden online“ vermisst (s.o.). Unter dem Lemma „die Spalte“16 werden im „Duden online“ vor allem die Bedeutungen „längerer Riss in einem festen Material“, „blockartiger Teil (…) untereinandergesetzter Zeilen“ im Druckwesen sowie „halbmondförmiges Stück einer (Zitrus)frucht“ aufgeführt. Demgemäß steht „Spalte“ wie das Wort „Spalt“ ebenfalls synonym für eine Öffnung und zugleich für das daraus entstandene Stück Material. Wenn im „Duden online“ ferner die Größe von „Riss“ als übergreifender Begriff entscheidet, ob etwas zugleich „Spalte“ genannt werden kann, erscheint demnach die Semantik von „Spalte“ und „längerer Riss“ als synonym, wobei die attributive Bestimmung von „Riss“ eine begriffliche Hierarchie nahelegt. Laut dem „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ bedeutet der Begriff ‚Riss‘ neben „Ritze“ und „das Auseinanderreißen“ auch „durch (Zer)reißen eines festen Körpers entstandener Spalt“ und besaß etymologisch gesehen im Mittelhochdeutschen als riʒ die Bedeutung „Riß, Ritze, Wunde“.17 Mithin scheint die Semantik von ‚Riss‘ also auf eine durch ihre Entstehung bzw. Herstellung bestimmte Art von Spalte zu weisen. So erweist sich das Wort „Spalte“ in seiner Bedeutung teilweise mit der Semantik des Wortes „Riss“ verflochten. Ferner trägt auch das Wort „Bruch“ neben seiner Semantik „das Brechen“, „das Gebrochene“ und „Stelle, wo etwas gebrochen ist“18 im althochdeutschen bruh neben „Bruch“ noch die Bedeutung „Riß, abgebrochenes Stück, Ausbruch“ und ← 10 | 11 → hat unter anderem im mittelniederdeutschen brö-ke zusätzlich die Bedeutung „Spalt“.19 Es erweisen sich mit Rückblick auf die Etymologie demnach neben der Bedeutungsauffächerung der Begriffe ‚Spalt‘ bzw. ‚Spalte‘ deren semantische Überschneidungen zu ‚Riss‘ und ‚Bruch‘.

Interessanter Weise kann durch Spalten auch eine Geschlechtung der Sprache (z.B. im Deutschen der bestimmte Artikel ‚der‘, ‚die‘ und ‚das‘ sowie im Französischen le bzw. la) produziert werden,20 wie bereits oben beim Umschlag von „spalt“ ins neutrale grammatische Geschlecht erwähnt wurde. Geschlechtung als eine Ordnung ist auch eine Form von Spaltung und erfordert ein Wissen. Das grammatische Geschlecht von „Spalte“ ist feminin und bringt nicht zuletzt das Feminine und den weiblichen Körper ins Spiel. Eine noch heute umgangssprachliche ordinäre Bedeutung von ‚Spalte‘ steht für „Gesäßspalte“, eine andere vulgäre steht für die weibliche „Scham“.21 Wie in der alten Verwendung von „SPALT“ bei Grimm (s.o.) werden damit auch Öffnungen des menschlichen Körpers bezeichnet, die in Verbindung mit der Haut stehen und auf eine Erotik anspielen können. Das Weibliche der Spalte lässt sich auch in den Schreibweisen der verdichteten Textkörper lesen. Weibliches Schreiben kann durch Lücken und Öffnungen spielerisch die Repräsentationsfunktion unterlaufen und Polyvalenzen eröffnen, was im Folgenden kurz angedeutet werden soll. Denn dies ist kein Mangel, sondern ein signifikanter Zug des weiblichen Schreibens. Für die écriture feminine lässt sich neben Herta Müller, deren Text vom mit Sprache verknüpften Kopfglück (s.u.) beispielhaft im visuellen Bereich mit der Sprache spielt, auch die prominente französische Schriftstellerin und Philosophin Hélène Cixous anführen, deren Buch „Insister – À Jacques Derrida“ gerade ins Deutsche übersetzt wurde. Den französischen Titel könnte man mit ‚Insistieren – Auf Jacques Derrida‘22 übersetzen, was als eine Emphase von Cixous‘ Beharren auf dem ← 11 | 12 → Denken und Schreiben ihres verstorbenen, langjährigen Freundes Derrida gelesen werden kann. Zugleich sind darin auch andere Lesarten versteckt, worauf Cixous selbst in einem Interview hinweist:

„ ‚Insister‘ sieht zunächst sehr unschuldig aus, als ob es einfach ‚insistieren‘ meint. Es gibt hier jedoch eine Art Geistersignifikanten, nämlich die ‚inner sister‘, die innere Schwester.“23

Das französische Wort „Insister“ kann so als „mehrsprachiges Titelwort“24 gelesen werden. Es „nennt mit dem Insistieren und dem Insistierer“25 auch Cixous als die Schwester bzw. sister, die ihren Text Jacques Derrida widmet und anscheinend ihren Dialog mit dem Verstorbenen im Transit zwischen Diesseits und Jenseits weiterführt. Wer spricht hier, und wer wird angesprochen? Man weiß es nicht genau, denn diese unübersetzbare, listige Wortspielerei kann nicht vereindeutigt werden. Mit der écriture feminine bringt Schrift nicht einen einzigen, bestimmten Signifikanten hervor, sondern bleibt unentscheidbar. So kommt noch eine Lesart als Vokation hinzu, wenn mit „-sister“ Jacques Derrida in dieser weiblichen Form als Schwester angerufen wird. Damit wird u.a.26 nicht nur eine sehr familiäre Beziehung bezeichnet, sondern die Weiblichkeit des Angesprochenen herausgestellt, wenn es eben nicht brother heißt. So wird in ihrer Formulierung auch auf das Schreibverfahren Derridas als ein tendenziell weibliches Schreiben verwiesen, was nicht dem Schreiben von Frauen gleichzusetzen ist. In diesem Sinne eines Schreibens, das zur Ökonomie der Verausgabung tendiert,27 kann Derrida von Cixous als eine Weiblichkeit angerufen werden,28 da Derrida eben ← 12 | 13 → dieses weibliche Schreibverfahren des subversierenden Spiels mit der Sprache verwendet. Er erscheint in diesem Sinne tatsächlich als eine Schwester von Hélène Cixous. Damit wird weibliches Schreiben nicht im biologistischen, sondern im soziokulturellen Sinn aufgefasst.29 Cixous spielt hier mit den Phonemen der Sprache und ihren Bedeutungen, indem sie an verschiedene Sprachen anknüpft. Die semantischen Variationen kann man nicht sehen, sondern nur beim lauten Lesen hören bzw. als verdeckte (herumgeisternd zugleich an- und abwesende) „Geistersignifikanten“ assoziativ mit Paratexten verknüpfen. Wird die Schrift als Spur gelesen, so lässt sich ihr nicht nur eine einzige Semantik zuordnen, sondern es lässt sich eine Pluralität von Bedeutung eröffnen. Wenn die prominente Hélène Cixous als arrivierte Pariser Professorin so etwas praktiziert, wird damit auch eine dezidierte Kritik an der gegenwärtigen Hochschulpraxis geübt, an der alles normiert erscheint und Wissen als eindeutig hergestellt werden soll. Weibliches Schreiben kann durch Spalten und Öffnungen ein (un)gewisses Spiel mit den Signifikanten betreiben, welches den Text vieldeutig schillern lässt. Mehrdeutig ist laut Grimms Wörterbuch auch die Pluralform „Spalten“, wenn sich das genus nicht eindeutig zuordnen lässt. So heißt es ebendort in der Spalte 1849 unter dem Lemma „SPALT“:

heute wird ausschlieszlich die consonantische pluralform spalten gebraucht, wodurch die feineren unterschiede zwischen masc. und fem. vielfach verwischt sind.“30

Nach dem Verlorengehen älterer Pluralformen erscheinen demnach die Differenzen des grammatischen Geschlechts im Plural „verwischt“ und unklar, wenn die plurale Form ebenso dem grammatisch maskulinen Nomen ‚der Spalt‘ wie dem grammatisch femininen Nomen ‚die Spalte‘ zugehörig scheint. Als Spalten bezeichnet man zum Beispiel die Lücken in einem Gewebe oder einer Textur. So finden sich Spalten in Tabellen und gedruckt in der Zeitung. Spalten sind ferner ← 13 | 14 → ein Layoutmerkmal von Lexika, welche durch diese Zuordnung fordern, als Wissen in Spalten gelesen zu werden. So erzeugen Spalten ein Ordnungsverfahren, wenn in einem Wörterbuch nicht allein die Seiten, vielmehr auch die Spalten gezählt werden, wie beispielsweise im Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Im Unterschied zu einem Verlorengehen von Differenz (beispielsweise bei dem grammatischen Geschlecht in den o.g. Pluralformen), welches bewirkt, dass Semantik „verwischt“ und vereinheitlicht wird, kann in der Gegenbewegung dazu differenziert und entfaltet werden. Etwas zu spalten oder in Spalten zu setzen kann auch bedeuten, etwas zu ordnen.

Spalten können auch in der Musik die Zwischenräume verschiedener Kanten oder Zungen auf Aerophonen (i.e. Rohrblatt- und Luftblattinstrumenten wie z.B. Mundharmonika, Oboen, Pfeifen und Flöten)31 heißen, die durch Ablenkung oder Unterbrechung des Luftstroms Töne erzeugen. Töne werden demnach im Wechselspiel von Öffnen und Schließen von Spalten erzeugt.32 Im geologischen Diskurs sind Spalten offene Fugen im Boden. Dabei kann durch das Spalten von Kontinentalplatten etwas ganz Neues entstehen, z.B. entsteht in der Afar-Senke in Nordostafrika durch Spaltung die Geburt eines neuen Ozeans.33 Auch das Substantiv „Spaltung“ als eine Ableitung von „Spalten“ wird dafür eingesetzt. Bereits die Brüder Grimm nennen neben der „holzspaltung“ auch „[des] erdreichs spaltung“.34 Das Nomen ‚Spaltung‘ bezeichnet beides, die „handlung des spaltens, [sowie den] zustand des gespaltenseins“.35 Im juristischen Diskurs bezeichnet „Abspaltung“36 im Handelsrecht den Übergang von für sich abgrenzbaren Teilen, z.B. von Betrieben, auf andere Rechtsträger, wobei der ursprüngliche Rechtsträger bestehen bleibt. Eine „Aufspaltung“ beschreibt ← 14 | 15 → die Auflösung des bisherigen Rechtsträgers, wenn das Vermögen auf einen oder mehrere andere übertragen wird.37 Meinungsverschiedenheiten in Glaubenssachen innerhalb einer religiösen Gemeinschaft, nach denen eine Trennung erfolgt, werden als „Kirchenspaltung“38 oder „Schisma“ bezeichnet. Spaltungen und Verwerfungen durchziehen u.a. auch Künstlergruppen und erzeugen neue Ausrichtungen von Kunst, wie z.B. in der Berliner Secession.39 Die Sezession als Spaltung eines Landes kann als Folge eines Krieges entstehen, so im amerikanischen Bürgerkrieg 1861 bis 1865, was im Begriff des „Sezessionskriegs“ gekennzeichnet wird.

Spaltung kann trennen und zugleich produzieren. In der Kernphysik wird eine spontane oder induzierte Trennung des Atomkerns als „Kernspaltung“40 bezeichnet, welche zur Produktion von Energie genutzt werden kann. Auch im biologischen Diskurs ist die Wichtigkeit der Spaltung besonders hervorzuheben, denn durch sie findet die ungeschlechtliche41 Fortpflanzung statt. In einem Lehrbuch für Abiturienten, welches bezeichnender Weise den Namen „Wissenspeicher“ trägt, liest man in der Spalte unter dem Schlagwort „Spaltung“:

„Spaltung ist die Zweiteilung kernloser Organismen. Spaltungen können unter günstigen Bedingungen innerhalb einer Stunde mehrmals hintereinander ablaufen.“42

← 15 | 16 → Durch diese Spaltung ergibt sich eine Zellteilung, aus der zwei selbstständige Organismen entstehen, bei denen immer wieder neue Spaltungen erfolgen. Somit wird Spaltung hier zur Voraussetzung für viele Wachstums-, Fortpflanzungs- und Entwicklungsvorgänge und erscheint im biologischen Diskurs als Anfang des Lebens überhaupt.43 Die Spaltung als Handlung bzw. Zustand wirkt somit nicht allein destruktiv oder ergibt den Verlust einer Einheit, vielmehr erscheint sie zugleich produktiv. Wird lebende Materie gespalten, so hängt es vom gespaltenen Objekt ab, ob das Spalten Leben oder Tod erzeugt. Wird beispielsweise ein Mensch vom Kopf her mit einer Axt gespalten, so ist er nicht mehr lebensfähig. Werden hingegen Siamesische Zwillinge bei einer Operation gespalten, ermöglicht dies ihr eigenständiges Leben. Die Möglichkeit zum Wachstum ist demnach entscheidend für die Beschaffenheit des Objekts einer solchen Spaltung. Das Wachstum baut auf der Zellteilung auf. Es gibt daher kein Wachstum ohne Spaltung.

Mit dem Begriff „Spaltung“ bezeichnet auch der psychologische Diskurs eine Störung der integrativen Funktion des Bewusstseins, die als Abwehrmechanismus eingesetzt wird. Spaltung sollte aber in Differenz zur Schizophrenie gesehen werden, einem Neologismus, der in der Moderne erfunden wurde. Die Bezeichnung „Schizophrenie“ stammt als Kompositum des 19. Jahrhunderts aus dem griechischen σχίζειν, was „abspalten“ bedeutet, und φρήν für „Seele, Zwerchfell“.44 Umgangssprachlich wird sie aufgrund der falschen Vorstellung einer „gespaltenen Persönlichkeit“ durch eine fehlerhafte Rückübersetzung des Begriffs45 verwendet, wenn ein Zustand der dissoziativen Identitätsstörung gemeint ist, in dem abwechselnd zahlreiche unterschiedliche Persönlichkeiten gebildet werden. Über die Spaltung wird demnach im psychologischen Diskurs meist eine Herstellung von Wissen produziert. Vergleicht man im Unterschied dazu insbesondere das, was der Psychoanalytiker Jacques Lacan geäußert hat, so produziert der psychoanalytische Diskurs ein weniger totalitär anmutendes Begriffssystem in dieser Wissensdiskussion. Die Figuration der Spaltung scheint im psychoanalytischen Diskurs46 eine besonders wichtige Funktion zu erhalten. Lacan sieht sie als eine Grundlage zur Konstituierung des Subjekts an, worauf er in seinem Buch „Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch ← 16 | 17 → XI“ verweist. Dort führt er ganz beiläufig einen neuen Begriff ein, den Begriff der „béance“, und ich zitiere nachfolgend die von Norbert Haas ins Deutsche übersetzte Fassung:

„Die Beziehung des Subjekts zum Andern entsteht zur Gänze in dem Prozeß einer béance/eines Klaffens.“47

Das Wort „béance“ findet sich nicht in den deutsch-französischen Wörterbüchern, nur das französische Adjektiv „béant“ wird verzeichnet.48 Auch in der „Encyclopédie Wikisource“49 kommt es nicht vor. Das Fehlen im Wörterbuch lässt darauf schließen, dass es kein bekanntes Verfahren ist, da es sonst aufgelistet wäre. „Béance“ scheint unbekannt, es gibt aber dafür eine Formulierung durch das „Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales“: „État de ce qui est béant“,50 was als ‚der Zustand von dem, was klafft‘ übersetzt werden kann. Dieselbe Formulierung wird auch im französischen Online-Wörterbuch „Wiktionnaire. Le dictionnaire libre“51 wiederholt, wo sie sich auf die achte Auflage des „Dictionnaire de l’Académie Française“ bezieht und dazu zwei Beispielsätze angegeben werden. Der erste gehört dem medizinischen Diskurs an und bezieht sich auf die „béance“ als Lücke des Gebärmutterhalses, welche zu einer Fehlgeburt führen kann. Das zweite Zitat über das Erschrecken vor einer klaffenden Öffnung bezieht sich bezeichnenderweise auf den psychoanalytischen Diskurs und ist von Patrick Declerck, einem Schriftsteller und Mitglied der „Société Psychanalytique“ in Paris.52 Auch Lacans Übersetzer Norbert Haas scheint auf diese Problematik gestoßen zu sein, da an dieser Stelle in der deutschen Übersetzung vom ihm das französische Wort „béance“ beibehalten wird und er dies nicht in ← 17 | 18 → einer Fußnote, sondern sogar direkt im Text (s.o.) durch den deutsche Begriff „eines Klaffens“ ergänzt hat. „Klaffen“ ist eine Nominalisierung des deutschen Verbs „klaffen“. Das Verb „klaffen“ bedeutet laut Duden „eine tiefere Spalte o. Ä. in einer üblicherweise geschlossenen (…) Fläche bilden“,53 wird also als eine Art von Spalte umschrieben. Lacans Worte von der „béance“ evozieren die Semantik eines „Klaffens“ als Spalte. Da in den Wörterbüchern keine Übersetzung von „béance“ ausfindig zu machen ist, bleibt der Begriff dabei höchst unscharf. Zugleich findet in Lacans Text durch die Einführung des neuen Begriffs „béance“ als Übersetzung von „Spaltung“ eine Verschiebung statt.54 Denn Lacan bindet ihn gerade nicht durch eine große Geste der Translation an Freuds Terminus an, vielmehr spaltet er durch diese Rhetorik seine Theorie auch von der Freuds ab.

Es soll kurz erwähnt werden, dass Christian Giguère für die Komparatistik den Aufsatz „La figure de la béance dans la theórie fissurée de Lacan”55 geschrieben hat, auf den hier nicht genauer eingegangen werden kann. Bemerkenswert ist, dass Giguère schreibt, die Moderne habe oft die Tendenz, die Literatur auf den Bereich des verfehlten Begehrens zu beschränken.56 Denn auch im Folgenden soll der Bereich des Begehrens, insbesondere des verfehlten Begehrens nach Wissen, in Verknüpfung mit Lacans literarisch anmutenden Text zur „béance“ entfaltet werden. Wie und in welchem Kontext genau spricht Lacan von der „béance“? Der Buchtext von „Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse“ wurde nicht von ihm selbst publiziert, sondern, wie viele andere seiner Seminare, nach Lacans Vorlesungen des Seminars von 1964 mit seiner Billigung aus den Mitschriften nachträglich durch Lacans Schwiegersohn Jacques-Alain Miller eingerichtet. Lacan selbst misstraute Aufzeichnungssystemen.57 Im ersten Teil des ← 18 | 19 → sechzehnten Kapitels „Das Subjekt und der/das Andere: Alienation“ findet sich ein Verweis auf eine der bekanntesten Lacan‘schen Thesen.58 Lacan geht davon aus, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist und spaltet es in zwei Felder auf, das Feld des Subjekts und das des (großen) Anderen59 (bzw. des Ortes der Signifikantenkette), von welchem das Subjekt die Sprache erlernt. Am Ende dieses ersten Teils des sechzehnten Kapitels verspricht Lacan, „jene Operationen herauszuarbeiten, über die das Subjekt sich in signifikanter Abhängigkeit vom Ort des Andern realisiert“.60 Der zweite Teil des sechzehnten Kapitels beginnt mit den Worten:

„Alles geht aus der Struktur des Signifikanten hervor. Das Fundament dieser Struktur ist in dem, was ich vorläufig die Funktion eines Einschnitts genannt habe, was jetzt aber, in der weiteren Entwicklung meines Diskurses, sich in der topologischen Funktion eines Randes artikuliert.

Die Beziehung des Subjekts zum Andern entsteht zur Gänze in dem Prozeß einer béance/eines Klaffens. Wäre dem nicht so, wäre alles möglich. Die Beziehungen von Wesen im Realen, Sie hier eingeschlossen, alle Lebewesen könnten sich in umgekehrt reziproken Beziehungsbegriffen anspinnen. Die Psychologie, ja die ganze Soziologie beschäftigen sich mit nichts anderem, und mit Erfolg, solang es um den animalischen Bereich geht. Die Einbindung ins Imaginäre motiviert ausreichend sämtliche Verhaltensweisen von Lebewesen. Die Psychoanalyse erinnert uns indessen daran, daß die menschliche Psychologie in eine andere Dimension gehört.“61

Differenziert einzig durch die Adverbien „jetzt aber“ wird hier das, was für Lacan als „Funktion eines Einschnitts“ grundlegend die Signifikantenstruktur bestimmt, unvorbereitet als „Funktion eines Randes“ bezeichnet, welche sich ← 19 | 20 → selbst als solche artikuliert. Das Adjektiv „topologisch“, das dieser Funktion konstelliert wird, gehört der Sprache der Mathematik an, von der es Lacan in den psychoanalytischen Diskurs überträgt. Nach Auskunft des „Lexikons der Mathematik“ sind in der Mathematik

„die topologischen Strukturen (…) die allgemeinsten ‚Baupläne‘ von Mengen (und deshalb auch so unanschaulich).“62

Details

Seiten
275
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056303
ISBN (ePUB)
9783653964745
ISBN (MOBI)
9783653964738
ISBN (Hardcover)
9783631664506
DOI
10.3726/978-3-653-05630-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Gegenswartsliteratur Weltliteratur Collage Autorschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 275 S.

Biographische Angaben

Monika Leipelt-Tsai (Autor:in)

Monika Leipelt-Tsai (Dr. phil.) lebt zwischen den Kulturen. Sie arbeitet derzeit als Assistant Professorin am Department of European Languages and Cultures, NCCU, in Taipeh. Ihr Forschungsansatz ist oft interdisziplinär und betrifft transkulturelle Autoren/Themen bzw. Identitätsbildung in Verbindung mit Gender Studies, Psychoanalyse, Postmodernen und Postkolonialen Theorien im Bereich der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften, insbesondere Lyrik und Prosa des 20. Jahrhunderts, zeitgenössische Literatur, Images der Popmusik.

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