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Goethes «Walpurgisnacht»-Trilogie

«Heidentum, Teufeltum, Dichtertum»

von Thomas Höffgen (Autor:in)
©2015 Dissertation 332 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch wird erstmals der werkübergreifende Walpurgisnacht-Komplex von Johann Wolfgang Goethe in seinem literarhistorischen, poetologischen und ideengeschichtlichen Gesamtzusammenhang erschlossen. Dreimal hat sich Goethe im Laufe seines Lebens mit der Sage vom Hexensabbat auf dem Blocksberg poetisch auseinandergesetzt. Dennoch blieben die bisherigen Untersuchungen auf die zwei Walpurgisnacht-Szenen des Faust (1808/1832) beschränkt. Thomas Höffgen leistet einen profunden Forschungsbeitrag zur weniger bekannten Ersten Walpurgisnacht (1799) und gelangt zu einer grundlegenden Neubewertung der weltberühmten Faust-Szenen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Archetyp, Stereotyp, Neotyp
  • Goethes Walpurgisnacht-Trilogie
  • Die Erste Walpurgisnacht
  • Tragische Walpurgisnächte
  • Die Geschichte der Walpurgisnacht
  • Das Spannungsfeld
  • „Mythos“ versus „Fabel“
  • Deutungsperspektive
  • I. Archetyp: Heidentum
  • I.1 Die Erste Walpurgisnacht: Geschichte, Quellen, Form, Funktion
  • Die ‚Ur-Walpurgisnacht‘
  • Ballata. Naturmagie und Aufklärung
  • „Etwas Historisches“
  • Quellenkunde
  • Die Edda
  • Altes und Neues – Jambus und Trochäus
  • I.2 Der alte heil’ge Brauch: Verehrung des Pantheos
  • Es lacht der Mai!
  • Naturmythologie
  • Der Brocken
  • Der Allvater
  • Wotan, ein Nationalgott?
  • Das Maifeuer
  • Biel
  • I.3 Der Teufel, den sie fabeln: Die Christianisierung Europas
  • Der Mahner aus dem Volke
  • Der historische „Botenbericht“
  • Parteyische Kirchengeschichte
  • Die Irminsûl
  • Heldendichtung
  • Der Wendepunkt
  • „Historisch erste Walpurgisnacht“?
  • Die Verteufelung der Natur
  • Verkleidungskult
  • Aufklärung und Satire
  • II. Stereotyp: Teufeltum
  • II.1 Faust. Der Tragödie Erster Teil: Teufelsbund und Hexensabbat
  • Faust I
  • Arbeitsphasen
  • Frühneuzeitliche Quellen
  • Der historische Faust
  • Die Hexenprozesse und das Faustbuch
  • Faust. Zwischen Aufklärung und Romantik
  • II.2 Die Dritte im Bunde: Gretchen als Hexe
  • Die Gretchen-Tragödie
  • Susanna Margaretha Brandt
  • Vom Teufel beredet
  • Gretchen als Hexe
  • Hochgerichts erscheinung
  • Gretchen im Spiegel der Verteufelung
  • II.3 Blockes-Berges Verrichtung: Die verteufelte Walpurgisnacht
  • Die Blocksberg-Sage
  • Johannes Praetorius
  • Blocksberg-Perspektiven. Zur Naturauffassung in der frühen Neuzeit
  • Der Hexenflug
  • Unterhalb des Brockengipfels
  • Auf dem Brockengipfel
  • Einzelne Audienzen
  • II.4 Teuflische Komödie: Die Walpurgisnacht als Frühneuzeitsatire
  • Paralipomena
  • Teuflische Visionen
  • Der liturgische Bruch
  • Die Flugsalbe
  • Komische Walpurgisnacht
  • Walpurgisnachtstraum
  • Flickwerk? Zur Beziehung von Walpurgisnacht und Traum
  • Frühneuzeitsatire
  • Intermezzo
  • Die Götter Griechenlandes: Vom Harz bis Hellas
  • Griechische Walpurgisnacht?
  • Die Götter Griechenlandes
  • Neue Mythologie
  • Klassisch-romantische Mythopoesie
  • Klassische Walpurgisnacht
  • III. Neotyp: Dichtertum
  • III.1 Faust. Der Tragödie Zweiter Teil: Faust und Helena
  • Helena. Eine Tragödie
  • Helenas Antezedenzien
  • Von Homer bis Goethe
  • „Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht zur Schau“
  • Faust als Germanenfürst
  • III.2 Hymnen der Mysterien: Fausts Weg nach Eleusis
  • Das Fest der Peloria
  • Eleusinische Walpurgisnacht-Mysterien
  • Neue Mythen und Mysterien
  • Der Mütter-Mythos
  • Faust als ‚zweite Pythia‘
  • Persephoneien
  • Faust als ‚zweiter Orpheus‘
  • Das eleusinische Meerfest
  • III.3 Homunkulus, der werdende Gott: Heidnische Dämonologie
  • Mystizismus und Dämonologie
  • Männlein in der Phiole
  • Das Dämonische bei Goethe
  • Die Dämonologie des Plutarch
  • Interpretatio pagana
  • Zwischenruf
  • Mephistopheles. Ein Lustspiel
  • Homunkulus als Entelechie
  • Ein neuer Mythos
  • III.4 Eine neue Walpurgisnacht: Goethes pantheistische Moderne
  • Eine neue Naturphilosophie
  • Herders Gott in der romantischen Rezeption
  • Walpurgisnacht-Romantik
  • Zur Musikalität der Klassischen Walpurgisnacht
  • Die heilige Revolution
  • Schluss
  • Die Wiedergeburt der Walpurgisnacht aus dem Geiste der Poesie J. W. Goethes
  • Goethes Ideengeschichte der Walpurgisnacht
  • Literaturverzeichnis

Einleitung*

Archetyp, Stereotyp, Neotyp

Goethes Walpurgisnacht-Trilogie

Dreimal hat sich Johann Wolfgang Goethe im Laufe seines Lebens mit dem Mythos von der Walpurgisnacht dichterisch auseinandergesetzt, so oft wie mit keinem anderen, doch eine umfassende Studie zu dem Walpurgisnacht-Gesamtkomplex liegt bis dato nicht vor. Der Grund dafür scheint in der Forschungsgeschichte begründet und gleichermaßen trivial wie tragisch: Dass der Dichter nämlich an der Zahl drei Walpurgisnächte zu Papier brachte, ist weitestgehend unbekannt, und das ‚corpus walpurgicum‘ wird auf die beiden weltberühmten Faust-Szenen reduziert, in denen der Dichter die Hauptfiguren auf den Hexensabbat führt – seit Beginn der Goetheforschung sind die Walpurgisnacht-Szene des Faust. Der Tragödie Erster Teil (1808) und die Klassische Walpurgisnacht des Faust. Der Tragödie Zweiter Teil (1832) Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Untersuchung. Erstaunlich unerforscht hingegen ist die Ballade Die Erste Walpurgisnacht (1799), gleichwohl sie – namentlich, thematisch und entstehungszeitlich – als Vorarbeit zu den epochalen Faust-Szenen gelten muss. Sie ist, polemisch formuliert, der blinde Fleck der Walpurgisnacht-Forschung, denn ohne ihren Einbezug bleibt auch die Interpretation der gleichnamigen Tragödien-Teile fragwürdig – sie entbehrt ihres Fundamentes. Die vorliegende Untersuchung soll nun nicht nur einen dringend benötigten Beitrag zur Untersuchung der Ersten Walpurgisnacht leisten, sondern erstmals auch den dreiteiligen Walpurgisnacht-Gesamtkomplex von Goethe in seinem literarhistorischen, poetologischen und ideengeschichtlich intonierten Kontext erschließen. Denn durch das Perspektiv der Ballade, so die These, lässt sich zum einen die bisherige Lesart der zwei Faust-Szenen grundlegend novellieren und zum anderen, darauf basierend, eine übergeordnete dialektische Deutungsperspektive präsentieren: eine von Goethe werkübergreifend konzipierte, gedanklich geschlossene Walpurgisnacht-„Trilogie“. ← 11 | 12 →

Die Erste Walpurgisnacht

Goethe schrieb Die Erste Walpurgisnacht im Juli 1799, rund 30 Jahre später wurde sie von Felix Mendelssohn Bartholdy als weltliche Kantate vertont (Uraufführung 1833). „Das Gedicht ist wenig beachtet worden“, schreibt Eibl, „vielleicht deshalb, weil es bei der gelegentlichen Nennung mit der Walpurgisnacht im Faust I verwechselt wurde“.1 De facto ist die philologische Fachliteratur auf wenige Aufsätze beschränkt.2 Allein von Seiten der Musikwissenschaft hat es Bestrebungen gegeben, Die Erste Walpurgisnacht – jene ‚Gemeinschaftskomposition‘ von Goethe und Mendelssohn – genauer zu untersuchen. Folglich führt den Stand der Forschung der US-amerikanische Professor für „Music Literature“, John Michael Cooper, mit seiner Monographie Mendelssohn, Goethe, and the Walpurgis Night. The Heathen Muse in European Culture (2007). Wiewohl Cooper kaum Bezug nimmt auf die gleichnamigen Folgedichtungen Goethes, sondern auf der Ebene des musikwissenschaftlichen Vergleichs zwischen Dichtung und Gesangsstück verharrt (sowie Einiges über die Kulturgeschichte der Walpurgisnacht und deren Rezeption in der Goethezeit zu Tage bringt), ist er sich dem werkübergreifenden Stellenwert der Ballade sicher, wenn er schreibt: „‘Die Erste Walpurgisnacht‘ served Goethe as a kind of compact Vorstudie to the Walpurgis Night episodes in the two parts of his Faust tragedy – one that adopts a substantially different perspective but distills many of the same issues into a smaller undertaking“.3 Freilich greift Cooper mit der Verwendung des Wortes „Vorstudie“ auf einen ← 12 | 13 → Strang der älteren Walpurgisnacht-Forschung zurück, denn „als Vorstufe zur Walpurgisnacht im Faust“4 (gemeint ist der Faust I) hat schon Witkowski 1894 die Ballade bezeichnet, allerdings ohne diese Beziehung zu konkretisieren. In der neueren Goetheforschung herrscht über diese Frage, sofern sie denn gestellt wird, Uneinigkeit: Während Mahl 2005 betonte, dass die Ballade „keine Vorstufe der ‚Walpurgisnacht‘ in Faust. Der Tragödie Erster Teil5 sei, versuchte Bergengruen 2010 die Faust I-Walpurgisnacht auf die „Gedankenfiguren“ zurückzuführen, „die in der Ballade entfaltet werden“.6 Auf die Klassische Walpurgisnacht nehmen weder Witkowski, noch Mahl oder Bergengruen Bezug. Von einem zusammenhängenden Textkorpus geht niemand aus, außer eben Cooper, der Die Erste Walpurgisnacht mit „both parts of the tragedy“7 in Verbindung bringt. Im Folgenden soll dieser – eher beiläufig formulierte – Forschungsansatz von Cooper aufgegriffen und durch eine fundierte philologische Untersuchung des Gesamtzusammenhangs der drei Dichtungen verifiziert werden, um Die Erste Walpurgisnacht als ‚Ur-Walpurgisnacht‘ im Œuvre Goethes geltend zu machen, das heißt als eine Dichtung, die das Grundkonzept der gleichnamigen Folgedichtungen bereits in sich trägt.

Tragische Walpurgisnächte

Freilich ist schon das ein Novum, von einem gemeinsamen Konzept der Faust-Szenen zu reden, wo doch immer – durchaus begründet – deren Gegensätzlichkeit hervorgehoben wurde.8 Dies mag indes dem Stoff geschuldet sein, verwundert es doch sehr, wie grundverschieden Goethe diese ← 13 | 14 → Stücke, die ja den selben Mythos aufgreifen, modelliert hat: Während der Faust I mit einem Hexensabbat aufwartet, wie er sich nach alter Sage auf dem Blocksberg abspielt, in der Nacht zum Mai mit Unholden und Hexen, erscheint die griechische Faust II-Walpurgisnacht vor antiker ägäischer Szenerie, im Hochsommer mit lieblichen Naturgeistern, als völlig frei erdichtete Walpurgis-Variante. Das Kontrastprogramm der Szenen lässt sich insbesondere an den von Goethe jeweils konsultierten Quellentexten ablesen: Als der Dichter um die Jahreswende 1800/1801 die Walpurgisnacht zu Papier brachte, referierte er auf jene Vorstellung vom Hexensabbat, die in den frühneuzeitlichen Werken christlicher Gelehrter vertreten wird, in suggestiven Dämonologien, die den zeitgenössischen Diskurs der „Hexentheoretiker“ zur sogenannten „Hexenfrage“ widerspiegeln9 und die das Stereotyp vom Blocksbergspuk bis heute definieren. Nicht nur die Ausleihbücher der Weimarer Bibliothek legen nahe, dass sich der Dichter zum besagten Zeitpunkt intensiv mit diesen Dämonologien auseinandersetzte.10 Vor allem die zahllosen, zuweilen wörtlichen Übernahmen von Motiven in den eigenen Text lassen darauf schließen, dass ihm bei der Ausführung der Szene sehr daran gelegen war, das frühneuzeitliche Diktat von der Walpurgisnacht – die suggerierte Sabbatliturgie – en détail poetisch auszuführen.11 Ganz anders verhält es sich mit der Klassischen Walpurgisnacht, ← 14 | 15 → an der Goethe zwischen 1826 und 1830 arbeitete (wobei erste Entwürfe des Faust II ebenfalls auf das Jahr 1800 zu datieren sind). Hier scheint die Frage nach den Quellen obsolet. Gleichwohl der Dichter vielfach auf antike Texte anspielt, solche von Homer und Hesiod, Euripides und Aristophanes, Platon und Plutarch, um nur einige zu nennen, handelt es sich bei der Klassischen Walpurgisnacht ganz offenbar um „Goethes eigene Erfindung“, mithin um einen wundersamen Neotyp von der Walpurgisnacht, der jedweder philologischen Evidenz entbehrt: „In der antiken Literatur“, schreibt Trunz, „gibt es keine Walpurgisnacht“.12 Entsprechend ist die Szene nicht der christlichen Imagination vom Hexensabbat nachempfunden, zumal angesiedelt im vorchristlichen Thessalien, sondern erscheint als Geisterfest nach eigenem Gutdünken Goethes, was sich insbesondere im Pantheistischen der Dichtung niederschlägt. Darüber dass nun dennoch eine innere Stringenz besteht zwischen der Walpurgisnacht und Klassischen Walpurgisnacht, gibt der Text selbst Auskunft, durch die Worte Mephistopheles‘ (V.7742ff.):

Hier dachte ich lauter Unbekannte,
Und finde leider Nahverwandte;
Es ist ein altes Buch zu blättern:
Vom Harz bis Hellas immer Vettern!13

Diese – scheinbar paradoxe – nahverwandte Gegensätzlichkeit der beiden Faust-Szenen zu ergründen und synthetisieren, ist ein erklärtes Ziel der vorliegenden Untersuchung, mithin die Neudeutung der „Gegensätzlichkeit“ als einer „Polarität“.14 Es soll gezeigt werden, dass sich nicht ein ← 15 | 16 → roter Faden zieht durch den Walpurgisnacht-Gesamtkomplex von Goethe, sondern zwei, die eng verwoben eine Einheit bilden und sich zurückführen lassen auf das poetische Programm der ‚Ur-Walpurgisnacht‘, in der gleichsam die Konzeptionen der Walpurgisnacht und Klassischen Walpurgisnacht schon angelegt sind. Um dem von Goethe vollzogenen ‚Spagat‘ zwischen Harz und Hellas beizukommen, soll außerdem – in einer Art Intermezzo – das Gedicht Die Götter Griechenlandes (1788) von Friedrich Schiller herangezogen und in die Interpretation des Walpurgisnacht-Gesamtkomplexes integriert werden, jene mythopoetische Ballade, in der die Christianisierung der heidnischen Hellenen kirchenkritisch abgehandelt wird.

Die Geschichte der Walpurgisnacht

Bisweilen gilt es hier, die wissenschaftliche Methodik zu erweitern und das Phänomen Walpurgisnacht als solches kultur- und religionshistorisch zu betrachten, das heißt es Goethe gleichzutun, der sich zum Zeitpunkt der Niederschrift der Ersten Walpurgisnacht intensiv mit der Christianisierung Europas im Mittelalter auseinandersetzte: In einem Brief von 1812 an Carl Friedrich Zelter (den musikalischen Ziehvater Mendelssohns) gibt er als Hauptquelle für die Ballade den Text eines „Altertumsforschers“ an, der den „historischen Ursprung“ der Sage von der „Hexen- und Teufelsfahrt“ in die Zeit der Germanenmission verordnet, als die „deutschen HeydenPriester […] aus ihren heiligen Hainen vertrieben und das Christenthum dem Volke aufgedrungen“15 wurden; um welchen Autoren es handelt, wird – weil Goethe es „nicht anzugeben“16 weiß – ein Gegenstand der Untersuchung sein. Tatsächlich spielt die pantheistisch-frühlingshafte Eingangsstrophe des Gedichtes in einem eben solchen Hain mit eben solchen Heidenpriestern, und schon Cooper hat bemerkt, dass Goethe bei ← 16 | 17 → der Konzeption dieser Passage die germanische Mythologie bemüht hat.17 Hier wird also ein Archetyp von der Walpurgisnacht behauptet, wie ihn die Germanen mutmaßlich seit Alters her begingen. Schon der Titel der Ballade lässt den Schluss zu, dass es sich um eine erste, das heißt ursprüngliche Walpurgisnacht handelt18; auch in diesem Sinne ist Die Erste Walpurgisnacht als Ur-Walpurgisnacht im Œuvre Goethes zu verstehen. Entsprechend der Tendenz des im Brief erwähnten Textes suggeriert die Ballade aber auch, dass diese heidnische Walpurgisnacht im Zuge der christlichen Mission im Mittelalter zu einem Götzendienst und Satanskult verkehrt wurde, wie denn die Heidenpriester der Ballade sich bald in Teufelsfratzen wandeln, eine These übrigens, die sich unter Einbezug frühmittelalterlicher Quellen, Missionsberichte und Gebrauchstexte als nicht unhaltbar erweisen wird. Dass dem Gedicht ein Anspruch auf Historizität zu Grunde liegt, hat Goethe in einem Brief von 1831 an Mendelssohn mitgeteilt: Es sei „im eigentlichen Sinne hoch symbolisch intentionirt“ und thematisiere die sich in der „Weltgeschichte“ immerfort abzeichnende Verdrängung eines „Alten“ durch „auftauchende Neuerungen“.19 Offenkundig spiegelt die Ballade – am Beispiel der Walpurgisnacht – einen Paradigmenwechsel in der Weltgeschichte wider, nach dem Dafürhalten der vorliegenden Untersuchung jenen durch die interpretatio christiana der missionierenden Kirche initiierten religiösen Transformationsprozess vom mittelalterlichen Heidentum zum neuzeitlichen Teufeltum. In der Tat ist dieser Zwiespalt ebenfalls im Titel der Ballade angelegt, lässt der sich doch genauso gut auf einen ersten Hexensabbat nach christlichem Stereotyp beziehen. ← 17 | 18 →

Das Spannungsfeld

Die in der ambivalenten Geschichte der Walpurgisnacht begründete Ambiguität der Ersten Walpurgisnacht schlägt sich auch in der stilistischen Gestaltung nieder; schon Mahl hat festgestellt, dass das Gedicht formal und inhaltlich deutlich zweigeteilt ist.20 Topologisch ist die Szene unterteilt in „Heiden auf dem Berg“ (sakral) und „Christen in dem Tal“ (profan). Vor allem durch das Metrum wird die Ballade stark zäsiert: Wenn die Heiden frühlingsfroh den alten Brauch begehen, dann misst der Vers den Jambus und hinterlässt eine heiter-positive Stimmung. Wenn die Christen aber ihren kriegerischen Auftritt haben, setzt rhythmisch der Trochäus ein und evoziert eine gewaltsam-negative Atmosphäre. So legt nicht erst die suggestive Rhetorik der Ballade (Heiden: „alter heil’ger Brauch“, Christen: „dumpfe Pfaffenchristen“21) nah, dass die Sympathie des Dichters für eine dieser widerstreitenden Parteien deutlich überwiegt, zumal es – mit nur einer Ausnahme – die Heiden sind, nicht die Christen, die in dem Gedicht zu Wort kommen: Allem Anschein nach handelt es sich bei der Walpurgisnacht-Ballade Goethes um eine Hymne an das Heidentum und ein Spottgedicht auf das Christentum.

Um die Antithetik der Walpurgisnacht-Ballade – inskünftig unterteilt in ‚Heiden-Hälfte‘ (Jambus) und ‚Teufel-Teil‘ (Trochäus) – adäquat zu analysieren, ist die Integration der Biographie und Weltanschauung Goethes unabdingbar. Sie interferieren deutlich mit dem Gedicht, etwa wenn der Dichter im Jahr 1777 höchstselbst den Brocken im Harz besteigt, um „auf dem Teufels Altar meinem Gott den liebsten Dank“22 zu opfern; hier scheint das später in der Ballade ausentwickelte Kontrastprogramm – Heiden-Gott versus Christen-Teufel – bereits angelegt. Tatsächlich hat sich Goethe Zeit seines Lebens explizit zum Heidentum bekannt sowie seinen Unmut geäußert über das als anti-ästhetisch und physiophob empfundene Christentum.23 Hier sei erinnert an Heinrich Heines Diktum vom „großen ← 18 | 19 → Heiden“24 Goethe. Freilich handelt es sich bei diesem Heidentum des Goethe um eine moderne Form des Pantheismus, die Spinozas All-Gott-Lehre ebenso miteinbezieht wie die vorsokratische Naturphilosophie von Heraklit und Thales; in der Mythologie wähnte Goethe gleichsam ein poetisches Modell, die als alldurchgöttert wahrgenommene Natur dramatisch-bildhaft darzustellen. Dementsprechend widerstrebte ihm die Vorstellung von einem transzendenten, subjektiven Schöpfergott, wie ihn das Christentum diktiert, mithin die Lehre von einem Gegenspieler dieses Gottes, der im Irdischen die Menschen zur Sünde verlockt. Hinzu missfiel ihm die Missionspraxis, mit dem die Kirche dieses – zu allem Übel: eigenmächtig ausgelegte – Christentum zum Teil aggressiv verbreitete.25 Einen denkbar großen Einfluss erhielt er hier durch die Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) des radikalen Pietisten Gottfried Arnold, dessen Bericht über die Germanenmission im Mittelalter sich wiederum mit der Ersten Walpurgisnacht in Verbindung bringen lässt. Diese (und weitere) ← 19 | 20 → Überschneidungen zwischen Dichter und Gedicht sind bemerkenswert. Sie lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Ballade um eine Art persönliches Bekenntnis handelt, in dem der Heide Goethe die Diabolisierung der Natur durch die mittelalterlichen Missionare kirchenkritisch anprangert. So erscheint der von den Heiden der Walpurgisnacht verehrte „Allvater“ als mythologisierte Form des Pantheismus Goethes, vergleichbar mit dem „Allumfasser/Allerhalter“ (V.3438f.) aus dem Faust I.26 Weil dieser von den Kirchenkriegern mit dem „Teufel“ identifiziert wird, ein Symbol für die Dämonisierung des Diesseitigen, werden jene lautstark angeklagt und kirchenkritisch karikiert.

Dieses – hier nur kurz skizzierte – Spannungsfeld zwischen positiv-jambischer Naturverehrung (Stichwort: Pantheismus) und negativ-trochäischer Verteufelung der Natur (Stichwort: Kirchenkritik) wird den Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung bilden. Zu Grunde liegt die Annahme, dass die Doppelperspektive der Walpurgisnacht-Ballade nicht willkürlich gewählt oder bloß dem Stoff geschuldet ist, sondern Grundzüge im Denken Goethes widerspiegelt und des Dichters allgemeine Haltung gegenüber dem Mythos von der Walpurgisnacht offenbart: dass die Ballade einen autoritativen Referenzrahmen eröffnet, der – das erscheint philologisch folgerichtig – auch auf die Walpurgisnächte der Faust-Tragödie angewendet werden muss. Es soll schließlich gezeigt werden, dass sich unter Anwendung dieses in der Ballade angelegten „Lektüreschlüssels“ auf die Walpurgisnacht-Szene des Faust I (Analysepol: Kirchenkritik) und des Faust II (Analysepol: Pantheismus) große interpretatorische Neuerungen für beide Teile der Tragödie ergeben.

„Mythos“ versus „Fabel“

Um den konzeptionellen Clou der goetheschen Walpurgisnacht-Trilogie vollumfänglich zu verstehen, gilt es weiterhin, die bisher gewonnenen Erkenntnisse in den gelehrten Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts zu kontextualisieren. Goethes drei Walpurgisnächte sind Gedichte, die in bemerkenswerter Weise mit den zeitgenössischen philologischen und philosophischen Dialogen, Strömungen und Konzepten in Beziehung treten. ← 20 | 21 → Sie lassen sich nicht einzelnen Epochen zuordnen, auch weil die Epochengrenzen ohnehin verfließen, sondern stehen mit weiten Teilen der modernen Geistesgeschichte von der Frühaufklärung bis zur Spätromantik in Interaktion. Dies betrifft – dem Stoff entsprechend – insbesondere den in der Goethezeit vielfach diskutierten „Mythos“-Begriff.

Maßstabgebend ist auch hier wieder die Ur-Walpurgisnacht, deren poetisches Programm mit den zwei Hauptsträngen der modernen Weltbetrachtung um 1800 korreliert: der Aufklärung und Romantik. So trägt die Ballade besonders in der ‚Heiden-Hälfte‘ deutlich volksliedhafte Züge, zumal schon die Form „Ballade“ ein mittelalterliches Tanzlied suggeriert.27 Hier spiegelt sich die durch das ballad revival in England angeregte Hinwendung zur sogenannten „Volkspoesie“ seit Johann Gottfried Herder in den späten 1760er Jahren, die auch den Sturm und Drang mit Goethe stark tangierte und die in der Spätromantik mit den Brüdern Grimm den Grundstein legte für die akademische Disziplin der Germanistik. Ein dezidiertes Ziel dieser vor-/romantischen Bewegung war die Rückführung von anonymen Sagenstoffen auf die germanische Mythologie.28 Die Tendenz dieser „mythologische Schule“ lässt sich deutlich auch an der Ballade ablesen, wo in Referenz auf die Volkssage vom Hexensabbat eine germanische Walpurgisnacht nach den Kriterien der romantischen Volkskunde rekonstruiert wird. Gewiss trägt dieses Rekonstrukt die Handschrift Goethes, ist es doch das modernisierte Heidentum des Autors, das sich in der Dichtung niederschlägt: Mit dem „Allvater“ wird ein Pantheos nach der Façon des Dichters figuriert. Dieses poetologische Verfahren aber, alte (besser: mittelalterliche) Mythen mit modernem Spinozismus neuzuschreiben, entspricht der Kernforderung der sogenannten „neuen Mythologie“, wie – nach Herder und Schiller – insbesondere der Frühromantiker Friedrich Schlegel ← 21 | 22 → sie um die Jahrhundertwende vorbrachte. Auf der anderen Seite scheint die Walpurgisnacht-Ballade vollkommen unromantisch und unmythologisch: Im ‚Teufel-Teil‘ der Dichtung wird das romantisch-pantheistische Naturidyll mit historischer Faktizität konfrontiert. Vor allem in der zweiten Strophe – dem „Botenbericht“ – werden tatsächliche Ereignisse zur Zeit der Sachsenkriege im Mittelalter wiedergegeben, wozu Arnolds frühaufklärerische Kirchenhistorie ihren Teil beigetragen haben mag. Ganz im Impetus der Aufklärung wird hier die Walpurgisnacht mit rationalen Mitteln aufgearbeitet, wie denn auch Goethes Hauptquelle (jener im Brief an Zelter erwähnte Text) den Blocksbergspuk historisch-kritisch zu ergründen sucht. Die Ballade bietet ein Stück poetische Geschichtsaufklärung; das Stilmittel der Wahl ist die Satire, eine Kunstform also, die in der zweiten Hälfte des Aufklärungsjahrhunderts eine Renaissance erlebte; im „Balladenjahr 1797“ erfanden die Weimarer Klassizisten dann auch die Form „Ballade“ neu als eine auf das selbstbestimmte Handeln des mündigen Menschen (hier: der Heiden) gerichtete, an einem humanistischen Bildungsideal orientierte „Ideenballade“.29 Wenngleich im ‚Teufel-Teil‘ die Existenz von Hexenwesen und teuflischen Gespenstern negiert wird, steht sie deshalb aber nicht außerhalb der Diskussion über den Mythos. Ganz im Gegenteil scheint der zentrale Vers vom „Teufel den sie fabeln“ auf die mythenkritische Position des Frühaufklärers Bernard le Bovier de Fontenelle anzuspielen, der in seiner Abhandlung de l’origine du fabel (1689/1724) kategorisch alle Mythen und mythologischen Figuren als Fabelwesen aburteilte.

Offenbar hat Goethe die Walpurgisnacht-Ballade mit zwei unterschiedlichen, ja konträr einander gegenüberstehenden Begriffen von Mythos ausgestattet, welche sich wiederum exakt den zuvor skizzierten Interpretationspolen zuordnen lassen: einem positiv-romantischen in der jambischen ‚Heiden-Hälfte‘ („Mythos“) und einem negativ-aufklärerischen im trochäischen ‚Teufel-Teil‘ („Fabel“). Aufzuzeigen dass sich dieses Spannungsfeld mit dem hier präludierten Bezug zu den mythologisch-dichtungstheoretischen Diskursen der Goethezeit auf die Walpurgisnächte des Faust übertragen lässt, ist die Intention der vorliegenden Untersuchung. ← 22 | 23 →

Deutungsperspektive

Naturgemäß muss eine Untersuchung zu Goethes Walpurgisnacht-Trilogie mit der Ersten (vom Dichter angefertigten) Walpurgisnacht beginnen, insbesondere wenn die in so bemerkenswerter Weise dessen weltanschaulichen Horizont widerspiegelt. Philologisch folgerichtig erscheint es dann, die Ausgangssituation dieses Gedichtes auch der Interpretation der Walpurgisnacht-Szenen des Faust I und des Faust II zu Grunde zu legen. Methodisch bietet es sich an, das in der Ballade angelegte Doppelperspektiv als eine Art ‚Brille‘ zu benutzen, um bei der Betrachtung der zwei Faust-Szenen den Gesichtspunkt Goethes einzunehmen und diesen der nachfolgenden Analyse zu Grunde zu legen. Freilich handelt es sich um eine ‚Brille‘, deren Gläser grundverschieden fokussiert sind, das heißt zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen durch das selbe Medium ermöglichen. Dies entspricht indes dem Gegenstand, da die Faust-Szenen zwar grundverschieden konzipiert, doch schon dem Titel nach verwandt sind; durch die Interpretationsbrille lassen sie sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen. In der Tat ist es nur naheliegend, die Faust I-Walpurgisnacht nach der im ‚Teufel-Teil‘ der Dichtung vorgefassten Perspektive zu analysieren, thematisieren beide doch die christliche Imagination vom Hexensabbat. Auf der andern Seite bietet es sich an, die Klassische Walpurgisnacht nach den Kriterien der ‚Heiden-Hälfte‘ der Ballade zu erschließen, wird dort doch gleichermaßen eine vorchristliche Walpurgisnacht behauptet.

Dass die kirchenkritischen Gesetze der Walpurgisnacht-Ballade auch im Faust I wirksam sind, lässt sich an der Szene Spaziergang kurz exemplifizieren, in der satirisch auf die Ungerechtigkeit der „Pfaffen“ (V.2831) Bezug genommen wird (V.2836ff.):

Die Kirche hat einen guten Magen,
Hat ganze Länder aufgefressen,
Und doch noch nie sich übergessen;
Die Kirch allein, meine Lieben Frauen,
Kann ungerechtes Gut verdauen.

Hier werden territoriale Ansprüche der Kirche angeklagt, mithin die christliche Mission als solche, die sich laut Arnolds Kirchengeschichte freizügig der Ländereien der bekehrten Stämme in Germanien bedient hat. In der kirchenkritischen Satire steckt Geschichtsaufklärung. Wenn der Dichter ← 23 | 24 → dann im selben Drama seine Hauptfigur zum Blocksberg führt, an einem Hexensabbat teilzunehmen, wie ihn die christlichen Gelehrten suggerieren, gilt es anzunehmen, dass dem eine analoge Motivation zu Grunde liegt und dass es sich bei der Walpurgisnacht also um ein eben solches – wenngleich wesentlich subtileres – Spottgedicht aufs Christentum handelt. Gewicht bekommt diese These durch die Paralipomena zum Text, etwa jene ungedruckte Satansszene, die schon Morris 1899 als ein „Gefäß litterarischer Satire“30 deutete. Aber auch im abgedruckten Walpurgisnachtstraum karikiert der Dichter die orthodoxe Vorstellung, dass alles Heidnische des Teufels ist (V.4271ff.). So bietet es sich an, diese Lesart auch auf die Walpurgisnacht zu übertragen, freilich unter Einbezug des im ‚Teufel-Teil‘ der Ballade vorgegebenen Interpretationskriteriums frühaufklärerischer Fabelkritik mittels der Satire. Auffällig genug, dass die Walpurgisnacht-Szene handlungsmäßig eben dort ansetzt, wo die Walpurgisnacht-Ballade endet: mit der Konfabulation von „verhexten Leibern“, die „im Flug vorüberziehen!“. Doch jagen die Hexen des Faust I wohl keinem Angst ein, sondern laden eher zum (Aus-)Lachen ein, denn sie furzen und stinken (V.3961) und ihre Fluginstrumente stechen und kratzen (V.3976ff.); es handelt sich doch eher um eine ‚Narrentruppe‘. Plausibilität erlangen wird die Deutung der Walpurgisnacht als kirchenkritisch-aufklärerische Satire schließlich durch eine eingehende Auseinandersetzung mit der räumlichen Struktur der Szene. Topographisch lässt sich nämlich feststellen, dass diese gar nicht auf dem Brocken spielt, sondern unterhalb, weshalb ein Satan gar nicht auftritt: Das Zentralmotiv der Sabbatliturgie wird ausgespart, inszeniert wird hier ein Hexensabbat ohne Satan, eine Orgie ohne Höhepunkt – eine ‚teuflische Komödie‘.

Details

Seiten
332
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057720
ISBN (ePUB)
9783653963908
ISBN (MOBI)
9783653963892
ISBN (Hardcover)
9783631665039
DOI
10.3726/978-3-653-05772-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Hexensabbat Kirchenkritik Pantheismus Sachsenkriege Faust
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 332 S.

Biographische Angaben

Thomas Höffgen (Autor:in)

Thomas Höffgen, promovierter Philologe, studierte Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.

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Titel: Goethes «Walpurgisnacht»-Trilogie
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