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Propädeutik der Unterrichtsmethoden in der Waldorfpädagogik

von Angelika Wiehl (Autor:in)
©2015 Dissertation 282 Seiten

Zusammenfassung

Das Theoriekonzept der waldorfpädagogischen Unterrichtsmethoden von Angelika Wiehl beschreitet Neuland, da zum Theoriebestand der Waldorfpädagogik bisher wenige wissenschaftliche Arbeiten vorliegen – und das, obwohl seit 2000 das wissenschaftliche Interesse an der Waldorfpädagogik stetig steigt. Als zentralen Punkt hebt die Autorin hervor, dass die Unterrichtsmethode mit dem Weg identisch sei, den die Erkenntnis geht. Das Buch stellt argumentativ klar begründet ein neues Forschungsfeld vor, das eine große Relevanz für den zukünftigen Dialog zwischen der Allgemeinen Pädagogik und der Waldorfpädagogik hat. In der Propädeutik der waldorfpädagogischen Unterrichtsmethoden wird die Waldorfpädagogik als ein entwicklungsoffenes Arbeitsfeld vorgestellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Geleitwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Methodenkompetenz und Methodenreflexion
  • 1.2 Anthroposophie als methodische Grundlage
  • 1.3 Unterrichtsmethode und „geistige Übung“
  • 1.4 Irritationen und Perspektiven waldorfpädagogischer Grundlagen
  • 1.5 Vorgehensweise
  • 2. Methodendiskussion und Waldorfpädagogik
  • 2.1 Zum Wandel des Methodenbegriffs in der Schulpädagogik
  • 2.1.1 Methode als Lehr- und Lernkunst
  • 2.1.2 Methode als autopoietisches Handeln
  • 2.1.3 Methode der Unterrichtspropädeutik und Unterrichtspraxis
  • 2.2 Variable und exemplarische Methodenprofile für den Unterricht
  • 2.2.1 Orientierungshorizonte für Unterrichtsmethoden
  • 2.2.2 Das methodische Gestalten des Unterrichts
  • 2.2.3 Methoden der Lernstufen und Lernprozesse
  • 2.2.4 Lernen – eine „wunderbare Art der Übung“
  • 2.2.5 Das Lernen lernen: Methodenkompetenz und Selbstkompetenz
  • 2.3 Waldorfpädagogik in der Methodendiskussion
  • 2.3.1 Methodenreflexion und Waldorfpädagogik
  • 2.3.2 Steiners Position zur Unterrichtsmethode
  • 2.3.3 Waldorfschule als Methodenschule
  • 2.4 Methodenbewusstsein und Ganzheitlichkeit der Waldorfpädagogik. Ausblick
  • 3. Methodenschlüssel zur Waldorfpädagogik
  • 3.1 Anthroposophie als Erkenntnismethode
  • 3.1.1 Anthroposophie: eine „Versuchsmethode“ des Erkennens
  • 3.1.2 Die anthroposophische Erkenntnismethode als „geistige Übung“
  • 3.1.3 Steiners Freiheitsphilosophie contra neurophysiologische Determiniertheit
  • 3.2 Quellenstudium zu Steiners Pädagogik. Eine Bestandsaufnahme
  • 3.2.1 Steiners Erfahrungen als Hauslehrer
  • 3.2.2 Steiners Rezeption der Pädagogik und Psychologie
  • 3.3 Steiners pädagogische Erkenntnismethode
  • 3.3.1 Die Methodik der pädagogischen Anthropologie Steiners
  • 3.3.2 Das triadische Denkprinzip der pädagogischen Anthropologie Steiners
  • 3.4 Steiners Methodik als Prinzip und Fragment. Eine Bilanz
  • 4. „Herbart als pädagogischer Impulsgeber“. Rudolf Steiners Verständnis und Kritik der „Herbartschen Strömung“
  • 4.1 Die Rezeption Herbarts und der Herbartianer in Rudolf Steiners Schriften und Vorträgen
  • 4.2 Steiners Einschätzung der herbartschen Denkweise
  • 4.2.1 Philosophische Positionen: Realismus versus Monismus
  • 4.2.2 Die Definition des Ich-Begriffs bei Herbart und Steiner
  • 4.2.3 Charakterbildung nach „fünf sittlichen Ideen“ oder durch die Entwicklung von Denken, Fühlen und Wollen
  • 4.2.4 Der konträre Wissenschaftsansatz bei Herbart und Steiner. Eine vorläufige Auswertung
  • 4.3 Steiners Kritik der Herbartschen Pädagogikgrundsätze
  • 4.3.1 Einige Grundbegriffe der Herbartschen Pädagogik
  • 4.3.2 Rudolf Steiners Kritik an der Formalstufen-Lehre
  • 4.3.3 Kulturstufen-Konzepte der Herbartianer als methodische Frage
  • 4.3.4 Zum Verhältnis von Erziehungskunst und Wissenschaft
  • 4.3.5 Steiners Herbart-Auseinandersetzung in der Konsequenz für die Waldorfpädagogik
  • 5. Die Unterrichtsmethodik der Waldorfschule nach Rudolf Steiner
  • 5.1 Stellenwert der Unterrichtsmethode in der Waldorfpädagogik
  • 5.2 Welche Methoden braucht der Waldorflehrer?
  • 5.2.1 Intuitionsmethode und intuitive Fähigkeiten in der Pädagogik
  • 5.2.2 „Staunkraft“ und phänomenologisches Verstehen
  • 5.2.3 Elementare Übungen zur Praktischen Ausbildung des Denkens
  • 5.3 Exkurs: Vorspiel der Methodendiskussion
  • 5.4 Lerndispositionen und Unterrichtsmethoden
  • 5.4.1 Nachahmungslernen und künstlerische Methode
  • 5.4.1.1 Die Nachahmung als Veranlagung und intentionale Wahrnehmung
  • 5.4.1.2 Nachahmung und Gehirnprozesse
  • 5.4.1.3 Nachahmungslernen nach Steiner
  • 5.4.1.4 Nachahmung und künstlerisches Lernen
  • 5.4.2 Gedächtnisbildendes Lernen im Schulalter
  • 5.4.2.1 Die Funktionen des Gedächtnisses
  • 5.4.2.2 Gedächtnisbildung nach Steiner
  • 5.4.2.3 Gedächtnisbildung im Schulalter
  • 5.4.2.4 Gedächtnis und Unterricht
  • 5.4.3 Urteilslernen und Autonomie im Jugendalter
  • 5.4.3.1 Das Jugendalter als Übergangsphase
  • 5.4.3.2 Urteilsbildendes Lernen nach Steiner
  • 5.4.3.3 Vom logischen zum dynamischen Erkennen nach Steiner
  • 5.4.3.4 Die Ausbildung der Urteilsfähigkeit als pädagogisch-methodische Herausforderung
  • 5.5 Steiners propädeutische Unterrichtsmethodik für die Waldorfschule
  • 5.5.1 Unterrichtsmethoden für bildhaftes Lernen
  • 5.5.1.1 Phantasie, Vorstellung und Imagination im Unterricht
  • 5.5.1.2 Vom Bild zur Schrift
  • 5.5.1.3 Vom bildhaften Erleben zum kausalen Erkennen
  • 5.5.1.4 Vom Phänomen zum Begriff
  • 5.5.1.5 Bildkompetenz
  • 5.5.1.6 Bildhafter Unterricht
  • 5.5.2 Erzählen, Darstellen, Charakterisieren
  • 5.5.2.1 Formen des Erzählens
  • 5.5.2.2 Erzählen im Unterricht
  • 5.5.2.3 Beschreiben, Schildern und Darstellen
  • 5.5.2.4 Charakterisieren
  • 5.5.2.5 Erzählmethoden und Lernen
  • 5.5.3 Unterrichtsmethoden für urteilendes Lernen
  • 5.5.3.1 Urteilsbildung im Unterricht
  • 5.5.3.2 Unterrichtsmethoden und Urteilsbildung
  • 5.5.3.3 Genetische Unterrichtsmethode
  • 5.5.3.4 Urteilsbildung als Erkenntnisübung
  • 5.5.4 Methoden des rhythmischen Unterrichts
  • 5.5.4.1 Rhythmus und Unterrichtsgestaltung
  • 5.5.4.2 Epochenunterricht
  • 5.5.4.3 Betrachten und Betätigen
  • 5.6 Das propädeutische Konzept der waldorfpädagogischen Unterrichtsmethoden. Auswertung und Perspektive
  • 6. Die waldorfpädagogischen Unterrichtsmethoden. Fazit
  • 6.1 Steiners Beitrag zur Unterrichtsmethodik der Schulpädagogik
  • 6.2 Schwierigkeiten der Rezeption und Umsetzung der waldorfpädagogischen Unterrichtsmethoden
  • 6.3 Ausblick
  • Abbildungen und Tabellen
  • Literaturverzeichnis

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Vorwort

Die Arbeit über die Propädeutik der Unterrichtsmethoden in der Waldorfpädagogik geht von den Erfahrungen aus, die ich während meiner über fünfundzwanzigjährigen Tätigkeiten an Waldorfschulen und Waldorflehrerseminaren gesammelt habe. Dabei tauchte wiederholt die Frage nach den Grundlagen und Prinzipen der Methoden des Waldorfunterrichts auf, die Rudolf Steiner von der Gründung der ersten Waldorfschule an zwar exemplarisch, aber nicht konzeptionell ausgearbeitet hat.

Im Laufe meiner Tätigkeit in der Waldorflehrerausbildung entwickelte ich Kurse zur Methodik waldorfpädagogischer Unterrichte mit einem künstlerischen und rhythmisierenden Duktus. Die dafür erprobten Unterrichtsmethoden verlangten eine Systematisierung, eine jahrgangsspezifische Ausformung und eine schriftliche Darstellungsform, um sowohl im Rahmen der Lehrerbildung als auch in der alltäglichen Unterrichtspraxis darauf zurückgreifen zu können. Nach dem Selbstverständnis der Waldorfpädagogik widerspricht aber eine Praxisanleitung für Unterrichtsmethoden der Idee des künstlerisch-schöpferischen und individualisierten Unterrichtens. Ein Forschungsvorhaben tat sich auf: Waldorfmethodik impliziert weder ein Regelwerk, noch kann sie eine Methodensammlung für die Anwendung im Unterricht sein; sie ist selbst nur ein Entwurf, den es für die sich entwickelnden Kinder und für spezifische Unterrichtssituationen auszugestalten gilt. Waldorfmethodik bedeutet also ein propädeutisches Methodenkonzept.

Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Dissertation als eine Auseinandersetzung mit den unterrichtsmethodischen Prinzipien der Waldorfpädagogik entstanden. Sie legt themenbezogen ihre eigene Methodik offen und diskutiert die erkenntnisphilosophischen Grundlagen der Waldorfmethodik.

Eine die waldorfpädagogischen Denkansätze auslotende Forschungsarbeit vorlegen zu können, verdanke ich dem Betreuer meiner Dissertation, Prof. Dr. Jost Schieren, der sich für eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem methodischen Konzept der Waldorfpädagogik im erziehungswissenschaftlichen Kontext interessierte. Auch Prof. Dr. Bernd Fichtner danke ich, weil er im Rahmen seiner sorgfältigen Begutachtung die vorliegende Untersuchung als eine wesentliche Erweiterung des allgemeinen schulpädagogischen Methodenverständnisses erkannte. Bereichernd war im Vorfeld der Austausch mit Johannes Kiersch, der mir aus seiner umfassenden Kenntnis auf anthroposophischem, waldorfpädagogischem und erziehungswissenschaftlichem Felde Anregungen zu weiteren Studien gab. Nicht vermissen möchte ich die Gespräche mit Urs Dietler im Rudolf Steiner Archiv; er brachte mir die Fülle an Dokumenten, Handschriften und Büchern aus Steiners Bibliothek nahe und prüfte einige Quellen für mich. Ebenso gilt mein Dank Cornelius Ries für die Abbildungen zur Buchstabeneinführung und Geographie. Schließlich bin ich den beiden Impulsgebern meiner Forschungsarbeit zu Dank verpflichtet: Prof. Evi Pfefferle, meiner Waldorfschulkollegin, und Prof. Dr. Michael Zech, der mein Forschungsinteresse auf eine Dissertation hinlenkte. Meinen Eltern, Verwandten, Freunden, Kollegen und allen, die mich durch ihr Interesse am Fortgang meiner Arbeit gefördert haben, möchte ich herzlich danken. Mein größter Dank richtet sich an meinen Ehemann Thomas Wiehl, der alle Hochs und Tiefs meines Forscherinnendaseins neben der Berufstätigkeit begleitete.

Wolfsburg, 2015

Angelika Wiehl

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1. Einleitung

Methode hat keinen Inhalt, es sei denn, sie reflektiert sich selbst. Das Methodenbewusstsein erwacht erst an der Tätigkeit. Methode bedeutet ihrer Wortabstammung nach: Weg zum Ziel. Der in den Blick zu nehmende Weg ist die waldorfpädagogische Unterrichtsmethodik, deren erkenntnistheoretische und anthropologische Grundlagen den Gegenstand dieser Untersuchung bilden. Angestrebt wird eine theoretische Begründung methodischer Prinzipien für den waldorfpädagogischen Unterricht.

Im Kontext der zeitgenössischen Pädagogik und ihrer Methodenkonzepte werden die Prinzipien der Unterrichtsmethodik in der Waldorfschule diskutiert. Die Untersuchung folgt den Ausführungen Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik und bezieht ergänzend Veröffentlichungen zur waldorfpädagogischen Unterrichtspraxis ein. Es geht also in erster Linie um das Erschließen der Quellen unterrichtsmethodischer Konzepte der Waldorfpädagogik. Im Sinne der klassischen Propädeutik beansprucht die vorliegende Forschungsarbeit eine wissenschaftliche „Vorbildung“ des Verständnisses und der Prinzipien zu sein, die Steiner für die Unterrichtsmethodik der Waldorfschule antizipiert hat.

In seinen Ausführungen zur Waldorfpädagogik trennt Steiner nicht zwischen Methodik und Didaktik und steht damit in der Tradition der Didaktiker von Johann Amos Comenius bis Otto Willmann. Steiner beleuchtet den engen Zusammenhang zwischen „der eigentlichen Methode“, dem „Wissensstoff“ und „der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten“ (GA 294, S. 7). In diesem Sinne, nämlich die „Bildungsarbeit“ als Ganzes im Auge behaltend, denkt auch Otto Willmann, dessen Werke Steiner rezipierte (vgl. Kap.4.1.), über die Didaktik als Bildungslehre (1923) nach:

„Was die alten Didaktiker suchten, war eine Disziplin, welche Lehren und Lernen im Kleinen und im Großen, im Einzelnen und im Ganzen, als Leistung des Individuums und als kollektive Tätigkeit untersuchen und regeln sollte, eine Wissenschaft, in welcher die Unterrichtslehre und die Lehre vom Bildungswesen ungetrennt vereinigt wären. Ihre Nachfolger haben diese Vereinigung aufgegeben; sie beschränkten sich auf den individualen Gesichtspunkt und bildeten die Methodik aus, aber verloren die Bildungsarbeit als Ganzes aus den Augen. Diese Verengung und Aufgabe hat ihren Vorteil gehabt, aber es darf bei ihr nicht bewenden bleiben; es gilt die Verstiegenheit der alten Didaktiker, welche mit ihrer Lehrkunst das geistige Leben normieren wollten, zu vermeiden, aber ihre großen Perspektiven festzuhalten“ (Willmann 1923, S. V f).

Willmanns umfangreiches didaktisches Werk beschreibt zu einem wesentlichen Teil die „historische Orientierung“ des Bildungswesens am „Bildungszweck“, am „Bildungsinhalt“ und an der „Bildungsarbeit“ mit Bezugnahme auf Herbarts und Zillers Prinzipien für den „erziehenden Unterricht“ (ebd. S. 446 ff). Von dieser Pädagogik Herbarts und der Herbartianer distanziert sich Steiner (vgl. Kap. 4.); aber ähnlich wie in Willmanns Ausführungen sind in Steiners Schriften und Vorträgen die Aussagen über Erziehung und Unterricht eng verknüpft und beziehen sich sowohl auf die Bildungsinhalte, die Lernprozesse als auch auf die methodischen Verfahrensweisen im Unterricht.

Diese Lern- und Bildungsmodalitäten werden seit Herwig Blankertz (1969/2000) als Bestandteile der bildungstheoretischen Didaktik diskutiert (Terhart 2005, S. 3). Sie versteht den „Unterricht als Prozess der bildenden Begegnung“, für den der Lehrer „die Auswahl, Anordnung und Explikation der Inhalte“ trifft und danach die Methoden entscheidet (ebd.). Methoden und insbesondere Unterrichtsmethoden bedürfen ← 13 | 14 → generell einer Realisationsbasis, die didaktisch begründbar ist. Diesen Begründungszusammenhang formuliert die allgemeine Didaktik als Theorie und Wissenschaft des Lehrens und Lernens und schließt die Methodik als Lehre der Vorgehensweisen im Unterricht mit ein (Arnold 2006b; Terhart 2009, S. 161 ff). Die Unterrichtsmethodik beschreibt also die „prozessuale Seite des Unterrichts“, die ihrerseits Entscheidungen über Inhalte, Unterrichtsziele, Medien sowie die Berücksichtigung sozialer, zeitlicher und räumlicher Rahmenbedingungen voraussetzt (Terhart 2009, S. 164). Für diese Untersuchung wird zwischen inhalts- oder fachbezogenen Unterrichtsmethoden und solchen, die Lernprozesse initiieren und strukturieren, unterschieden. Erstere werden nur zum Zweck der Exemplifizierung von Methoden einbezogen und weil Steiner an konkreten Unterrichtsbeispielen seine methodischen Ansätze verdeutlicht. Auf letzteren, also fachunabhängigen bzw. fächerübergreifenden Methoden und ihrer didaktischen Begründung liegt der Fokus (vgl. Kap. 5.). Der hier zu Grunde liegende Begriff der Unterrichtsmethodik meint die Zusammenfassung der Verfahrensweisen des Lehrens und Lernens, die mentale, soziale und handlungsorientierte Techniken einschließen.

Dieser Unterscheidung gemäß soll erforscht werden, in welchem Verhältnis die Methodik der Waldorfpädagogik zu ihrer philosophischen Grundlage, der Anthroposophie, steht. Steiner hat keine Methodik der Waldorfschule vorgelegt oder intendiert, aber exemplarische Unterrichtsmethoden beschrieben, deren didaktisches Begründungskonzept dargestellt wird. Da der Waldorfpädagogik der anthroposophische Gedankenkontext Steiners zu Grunde liegt, zeichnet sich die Frage ab, ob didaktische Gesichtspunkte für Unterrichtsmethoden in Steiners anthroposophischen Denkfeldern zu entschlüsseln sind. Zur Fokussierung dieser Ausgangsfrage wird folgende Aussage Steiners als These überprüft: Anthroposophie ist nicht der Inhalt, sondern die Methode der Waldorfpädagogik (GA 293, S. 15; GA 297, S. 40 f).

Die weiteren Abschnitte des Einleitungskapitels sichten diesen Forschungsansatz vier Perspektiven betreffend:

1. die Methodenkompetenz und–reflexion im Kontext der Waldorfpädagogik,

2. die methodische Seite der Anthroposophie,

3. das Verhältnis von Methode und Übung,

4. die Perspektiven anthroposophischer Erkenntnis für den waldorfpädagogischen Kontext;

schließlich wird die Vorgehensweise der folgenden Kapitel dargelegt.

1.1 Methodenkompetenz und Methodenreflexion

Kein Unterricht funktioniert ohne methodische Vorgehensweise, sei sie nach Vorlagen strukturiert, aus Erfahrung angewendet oder intuitiv gestaltet. Methodenkompetenz bedeutet dann, dass Methoden situationsgerecht und selbstbestimmt im Unterricht angewandt werden können; durch die Methodenreflexion wird dieser Vorgang bewusst eingeleitet und ggf. evaluiert. In der Unterrichtspraxis bieten sich viele Möglichkeiten der Erprobung dieser Kompetenz, weil das temporäre oder sich wiederholende Unterrichtsgeschehen im zeitlichen Ablauf eines gestalteten Prozesses bedarf. Diese Prozessgestalt in die Wege zu leiten, die Lernaktivitäten zu motivieren und zu reflektieren, also die Realisation und die Reflexion der Unterrichtsmethoden sind Arbeitsfelder im Sinne eines methodenkompetenten Handelns. ← 14 | 15 →

Die Kategorisierung der Unterrichtsmethoden wird in der Schulpädagogik meistens für die Tätigkeiten der lehrenden Person vorgenommen, die den Unterricht konzipiert und durchführt, also Lehrmethoden anwendet. Da es bei der Unterrichtsgestaltung vorrangig um die Lernmodalitäten der Lernenden, der Schüler oder Studierenden geht, sind aus deren Perspektive die Methoden des Lernens zu nennen. Für das methodische Handeln können entsprechend drei Ebenen unterschieden werden:

1. die Methoden des Lehrenden zur Konzeption des Unterrichts,

2. die Methoden des Lehrenden in der Unterrichtspraxis,

3. die Methoden der Lernenden oder Studierenden im Unterricht, im selbstständigen Lernen sowie beim Vor- und Nachbereiten des Unterrichts.

In den meisten Veröffentlichungen befassen sich die Autoren mit den unterrichtspraktischen Methoden; bezüglich der Methodenfragen lenken sie das pädagogische Bewusstsein also zuerst auf die Unterrichtspraxis sowie auf die Handlungs- und Methodenkompetenz des Lehrenden. Die Methodendiskussion orientiert sich daher an folgenden Aspekten zur Realisierung von unterrichtsmethodischem Handeln:

 Dem Ansinnen, den Unterrichtsverlauf nach Gesichtspunkten der Ordnung, der Wirksamkeit und der Effektivität einzurichten und zu beurteilen, wird Rechnung getragen;

 Maßstäbe der Beurteilung von Unterrichtsqualität werden gesetzt (Meyer 2004), die an die Pädagogikkonzepte von Comenius bis Herbart und dessen Nachfolger anknüpfen, auch wenn sie Offenheit und Vielfalt in der methodischen Unterrichtsgestaltung einbeziehen;

 reformpädagogische Ansätze gehören vor allem zum Methodenkanon des Grundschulbereichs oder der Freien Schulen.

In der schulpädagogischen Praxis findet verstärkt die Methodenkompetenz der Schüler Beachtung. Sie wird zu einem eigenständigen Unterrichtsinhalt gemacht und durch ein gezieltes Methodentraining für alle intellektuellen Lernprozesse und Fächer einer jeweiligen Schulstufe angemessen eingeübt (Klippert 2005) . Ob und inwieweit dieses Methodentraining das selbsttätige Lernen fördert, wie es Schulpraktiker postulieren, muss noch untersucht werden. Eine inhaltsunabhängige Methodenschulung hat sich jedenfalls als nicht nachhaltig erwiesen (Siebert 2005, S. 63). Dass Schüler über Methodenkompetenzen verfügen sollen, steht außer Frage. Welche Selbstlernmethoden und welche Übungen Erfolg versprechen, ob es überhaupt eines Methodentrainings bedarf, ab welcher Altersstufe solche Vorgehensweisen sinnvoll sind, bedarf ebenfalls weiterer Studien. In die pädagogische Begründung der Methodenkompetenz fließen die durch reformpädagogische und konstruktivistische Einsichten angestoßenen Konzepte und Ideen der Methodenvielfalt ein. Diese wiederum orientieren sich an dem Paradigma: Jeder lernt nur selbst, weil Lernen keine Konstante, sondern ein wandelbarer, selbstschöpferischer Prozess ist, der sich der individuellen Entwicklung gemäß verhält (vgl. Kap. 2.1.2.). In diesem Sinne ist das poietische, das erschaffende und bildende Handeln in Lernprozessen zum Leitbild der Unterrichtsmethodik geworden.

Seit über 90 Jahren tradieren die Waldorfschulen erfolgreich ihre Lehrplaninhalte und die damit verbundenen Unterrichtsmethoden. Dabei kommt es zwischen Waldorfpädagogik und Schulpädagogik auf der methodischen Ebene zu einem wechselseitigen Einfluss, der kaum reflektiert, noch jeweils pädagogisch begründet wird. Im Zuge der Vergleichbarkeit pädagogischer Konzepte gliedert man die Waldorfpädagogik ← 15 | 16 → einerseits in den Kanon der Reformpädagogik ein; andererseits können waldorfpädagogische Bestrebungen deutlich von reformpädagogischen unterschieden werden (vgl. Hansen-Schaberg 2012). Am Beginn des 20. Jahrhunderts richtet sich das Bestreben der Waldorfpädagogik und der reformpädagogischen Strömungen auf die Erneuerung der Pädagogik, die seit dem 19. Jahrhundert gerade auf methodischem Felde wesentlich von Herbart und den Herbartianern geprägt ist. Etwa zeitgleich zur Gründung der ersten Waldorfschulen ab 1919 erheben verschiedene Reformpädagogen den Anspruch, methodische Neuansätze für den Unterricht zu entwickeln und sich – wie Rudolf Steiner auch – von der damaligen vorherrschenden Herbartschen Pädagogik abzugrenzen (vgl. Kap. 4.). Dass die Entstehung der Waldorfpädagogik im Zeitstrom der pädagogischen Reformbewegung der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts steht, sagt aber nichts über methodische Gemeinsamkeiten oder eine Vergleichbarkeit aus. Nach der spezifischen methodischen Konzeption der Waldorfpädagogik wird hier gefragt, denn Methodenkompetenz im waldorfpädagogischen Zusammenhang bedarf einer didaktischen Begründung der Verfahrensweisen im Unterricht. In folgenden Kapiteln gilt es für die Waldorfpädagogik zu zeigen,

 welche methodischen Grundprinzipien in der zeitgenössischen Unterrichtsmethodik kontextualisiert werden können (vgl. Kap. 2.);

 welche Methodenkompetenzen die Lehrenden und Lernenden auszubilden haben (vgl. Kap. 3. und 5.2.);

 nach welchen Kriterien sich die Methodik der Waldorfschule von anderen Methodenkonzepten unterscheidet (vgl. Kap. 4.);

 welche elementaren Lehr-Lern-Methoden der individuellen Entwicklung und einer sinnstiftenden Lebenserfahrung dienen (vgl. Kap. 5.).

Details

Seiten
282
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653060171
ISBN (ePUB)
9783653957105
ISBN (MOBI)
9783653957099
ISBN (Hardcover)
9783631668320
DOI
10.3726/978-3-653-06017-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
pädagogische Anthropologie Anthroposophie rhythmischer Unterricht bildhafter Unterricht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 282 S., 14 farb. Abb., 3 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Angelika Wiehl (Autor:in)

Angelika Wiehl ist Waldorflehrerin und Dozentin für Pädagogik, Literatur und Ästhetik. Sie baute die Freie Waldorfschule Wolfsburg mit auf, wo sie zwanzig Jahre lang tätig war. Die Autorin ist in der Waldorflehrer- und Erwachsenenbildung tätig und bietet Mediation und Coaching für Pädagogen an. Ihre Promotion erfolgte an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter.

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