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Russische Kinderliteratur im europäischen Exil der Zwischenkriegszeit

von Nadia Preindl (Autor:in)
Dissertation 278 Seiten
Reihe: Russian Culture in Europe, Band 11

Zusammenfassung

Als Folge der Oktoberrevolution und der dadurch bewirkten Emigration zahlreicher russischer Intellektueller entwickelte sich in den Zufluchtsländern während der 1920er- und 1930er-Jahre eine erhebliche Produktion an Kinderliteratur. Als Ergebnis extensiver Quellenarbeit in europäischen und amerikanischen Archiven machen die Studien bewusst, welchen Beitrag die russischen Emigranten trotz schwierigster Lebensbedingungen im Bereich des Genres Kinderbuch leisteten. In der Rekonstruktion theoretischer Diskussionen sowie literarischer Thematisierungen von Flucht, Aufwachsen in der Fremde, Erinnerung und Identität zeichnet die Autorin die Spannungsfelder zwischen den Sprachen und Kulturen sowie Traditionsbewahrung und Assimilierung nach. Neben überraschenden Erkenntnissen liefert das Buch durch die systematisierende Zusammenführung von vergessener Literatur einen Beitrag zur Literatur- und Kulturgeschichte Russlands sowie Europas.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorbemerkung und Danksagung
  • Einführung
  • Forschungslage
  • Literaturgeschichtlicher Kontext
  • Kindheit im Exil: Die Rolle des Kinderbuches
  • Beschreibung und Typologisierung der Quellen
  • Theoretische Diskussionen
  • Kinderliteratur im Spiegel der pädagogischen Kritik
  • Kinderliteratur durch das Prisma der Literaturkritik
  • Literarische Reflexe: Einzelanalysen
  • Aleksandr Jablonovskij: „Priključenija Miši Šišmareva“
  • Saša Černyj: Čudesnoe leto
  • Michail Osorgin: „Vyše ličnych otnošenij“
  • Varvara Cechovskaja: „Po protekcii”
  • Zusammenfassung / Резюме / Summary
  • Deutsche Zusammenfassung
  • Резюме на русском языке
  • English Summary
  • Quellenkorpus
  • Vorbemerkung
  • Monografien
  • Sammelbände, Almanache
  • Kinderzeitschriften
  • Zeitungsbeilagen für Kinder
  • Kinderrubriken in Exilzeitungen
  • Anhang
  • Werkverzeichnis Zelenaja Paločka (1920–1921, No. 1–8)
  • Werkverzeichnis Cveten’ (1922)
  • Werkverzeichnis Russkomu Mal’čiku (2.5.1926)
  • Werkverzeichnis Molodaja Rossija (1927)
  • Werkverzeichnis Kolos (1928)
  • Werkverzeichnis Russkaja Zemlja (1928)
  • Werkverzeichnis Ogon’ki (1932–1933, No. 1–9)
  • Bibliografie
  • Abbildungsverzeichnis
  • Personenregister

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Vorbemerkung und Danksagung

Der vorliegenden Monografie liegt die überarbeitete und ergänzte Fassung der im November 2014 am Institut für Slawistik der Universität Wien approbierten Dissertation „Russische Kinderliteratur im europäischen Exil zwischen 1918 und 1939“ zugrunde. Sie wurde in Folge eines Forschungsaufenthaltes an der Universität Stanford sowie am Archiv des „Museum of Russian Culture“ (San Francisco) im April 2015 mit neuem Quellenmaterial ergänzt und inhaltlich überarbeitet.

Mit der Themenstellung „Kinderliteratur im Kontext der russischen Emigration“ begibt sich die vorliegende Studie erstmals auf ein bisher völlig vernachlässigtes Gebiet russischer Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Kinderliteratur nimmt hierin allzu häufig den Status einer als zweitrangig gewerteten Literatur ein, deren Erforschung lediglich am Rande (literatur-)wissenschaftlicher Untersuchungen stattfindet. Der determinierende Umstand des Exils als Movens für das Verfassen von kinderliterarischen Texten fügt diesem Literaturbereich eine bedeutungsvolle Facette hinzu, impliziert jedoch zugleich die Gefahr doppelter Vernachlässigung. Diesem Defizit möchte diese Studie bewusst entgegenwirken. Sie macht jenen so reichhaltigen und nicht wegzudenkenden Aspekt des russischen Kulturerbes im 20. Jahrhundert sichtbar und schafft durch die Dokumentation der kinderliterarischen Hervorbringungen die Grundlage für fortführende Untersuchungen.

Zumal umfassende Quellenarbeit und die systematische Erfassung von kinderliterarischen Arbeiten russischer Emigranten vor Beginn dieser Studie ausstanden, zeigte sich die Auffindung der literarischen Zeugnisse als die schwierigste Hürde während der langjährigen Forschungsarbeit. Der Grund hierfür liegt in der weiten geographischen Verstreuung der Quellen über den europäischen und amerikanischen Kontinent, ihrer zumeist geringen Auflagenzahl und ihres äußerst fragmentarischen Erhalts. Im Laufe der Recherche offenbarte sich zudem, dass eine Vielzahl von kinderliterarischen Texten als selbstständige Werke, mehrheitlich aber innerhalb russischer Exilperiodika sowie eigens für Kinder redigierter Beilagen und Rubriken in unregelmäßiger Abfolge publiziert wurde, was die Sichtung zusätzlich erschwerte.

Die kinderliterarischen Funde ergaben nach erster Betrachtung ein äußerst diffuses Bild, sodass es zunächst galt, den tatsächlichen Entstehungskontext des jeweiligen Zeugnisses zu erschließen. Zahlreiche Werke erschienen zwar in europäischen Zufluchtsländern russischer Emigranten während der 1920er- und ← 7 | 8 → 1930er-Jahre, erwiesen sich nach näherer Untersuchung jedoch nicht als „originär“ in der Emigration verfasste Werke, sondern Wiederabdrucke von Texten, deren Ursprung vor der (literatur-)geschichtlichen Zäsur durch die Oktoberrevolution lag. Die Eruierung der genauen Publikationsumstände und -motive jedes einzelnen Zeugnisses, die insbesondere im Kontext von Exil zumeist nur lückenhaft dokumentiert ist, erfordert naturgemäß eine separate, autoren- bzw. verlagsspezifische Untersuchung.

Nun sind es gerade diese Umstände, die jeglichen Untersuchungen im Bereich der historischen Kinderliteratur- bzw. Exilforschung solch besondere Anziehungskraft verleihen und jeden neuen Fund, der das vielschichtige Mosaik komplettiert und vergrößert, gleichsam zu einem Anlass für ein Freudenfest werden lassen.

Der anfänglichen Hypothese folgend, dass Kinderliteratur gerade im Kontext von Flucht und Heimatverlust ein besonderer Stellenwert zugeschrieben wurde und es folglich Bestrebungen gegeben haben muss, das Schreiben kinderliterarischer Texte zu forcieren, erschloss sich im Laufe der Studie ein eindrucksvolles Bild. Unter schwierigsten materiellen und physischen Lebensumständen insbesondere unmittelbar nach der Flucht aus Russland, begleitet von psychischen Extrembelastungen, gelang es russischen Emigranten, für die im Exil heranwachsende Kindergeneration schriftstellerisch und verlegerisch tätig zu werden. Die Intensität und widrigen Begleitumstände dieser Bemühungen sind bei näherer Betrachtung und eingehender Lektüre deutlich spürbar und lösen nicht selten emotionale Ergriffenheit aus.

Wie soll sich die Herangehensweise von Seiten der Erwachsenen im Dialog mit Kindern, die einen außerordentlichen Erfahrungshorizont aufweisen und fernab ihrer geographischen Wurzeln und vertrauten sprachlichen und kulturellen Bezüge aufwachsen, manifestieren? Welche Projektionen erfahren sie von Seiten der Erwachsenen? Auf welche Russlandbilder rekurriert die erwachsene Generation und welche Identifikationsangebote unterbreitet sie den Kindern? Welche Zukunft wird ihnen prophezeit, und ist es zielführend, sie als Opfer ihrer Umstände zu sehen? Der Themenkomplex „Kindheit im Exil“ wirft eine schier endlos scheinende Reihe an Fragen auf, die dessen Komplexität deutlich erkennbar machen.

Diese Studie erhebt nicht den Anspruch, diese Fragen in der ihnen geschuldeten Fülle und Differenziertheit ein für alle Mal zu beantworten. Vielmehr exemplifiziert sie, welche Heterogenität die literarische Auseinandersetzung zu einem bestimmten historischen Moment zeigt und welche Vielfalt ihre Funktionen, Motive und Ausdrucksformen kennzeichnet. Zumal sich der Entstehungszeitpunkt ← 8 | 9 → des rekonstruierten Materials über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren erstreckt, widerspiegelt sich darin naturgemäß eine Reihe von gesellschaftskulturellen Veränderungsprozessen und Stimmungen. Die geographische Verstreutheit der russischen Emigranten, das Fehlen eines einheitsstiftenden Zentrums sowie der vorherrschende politische Meinungspluralismus im Exil tragen hierzu maßgeblich bei.

Die Rekonstruktion und Erforschung der literarischen Hervorbringungen für die Kinder russischer Emigranten bilden vor dem Hintergrund der sich parallel vollziehenden sowjetischen Kinderliteraturentwicklung und damit einhergehenden ideologischen Einengung ein notwendiges Korrektiv zum bislang einseitig konturierten Bild russischer Kinderliteraturentwicklung im 20. Jahrhundert.

Diese Studie versteht sich als dringendes Plädoyer, Kinderliteratur als unverzichtbaren Teil des kulturellen Gedächtnisses russischer Emigranten mit zu bedenken, dem sich die Literatur- und Kulturwissenschaften weder in noch außerhalb Russlands entziehen dürfen. Die wissenschaftliche Untersuchung dieses Forschungsbereichs befindet sich damit lediglich am Beginn eines Weges, der von zahlreichen aufzuarbeitenden Desideraten gesäumt ist.

Die vorliegende Publikation wäre nicht ohne die intensive Recherchearbeit an US-amerikanischen und europäischen Bibliotheken und Archiven möglich geworden. Sie geht auf Aufenthalte am Amherst Center for Russian Culture (Amherst College), an der Beinecke Rare Book & Manuscript Library (Yale University), dem Bakhmeteff Archive of Russian and East European Culture (Columbia University), der Cotsen Children’s Library (Princeton University), dem Special Collections Department und Hoover Archiv (Stanford University), dem Archiv des Museum of Russian Culture (San Francisco), der Rare Books Division und Slavic and Baltic Division der New York Public Library sowie der Slovanská knihovna der Tschechischen Nationalbibliothek und der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin zurück.

An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater Prof. Fedor Poljakov für seine tatkräftige Unterstützung seit Beginn der Forschungsarbeit und die Aufnahme der Monografie in die Reihe „Russian Culture in Europe“. Prof. Lazar’ Fleishman verdanke ich wertvolle Hinweise sowie neue Sichtweisen auf das Themengebiet nicht nur während des Verfassens der Dissertation, sondern auch während des nachfolgenden Forschungsaufenthaltes an der Universität Stanford. Die herzliche Aufnahme von Prof. Stanley Rabinowitz während meiner Arbeiten am Archiv des „Amherst Center for Russian Culture“ ermöglichte mir die Sichtung wertvollen Quellenmaterials und gab unvergessliche Einblicke in die vielfältigen Kulturschätze russischer Emigranten. Des Weiteren bin ich Dr. Andrea Immel ← 9 | 10 → (Princeton), Dr. Tanya Chebotareva (Columbia), Dr. Margarita Menialenko (San Francisco), Yves Franquien (San Francisco), Aleksej Arsenjev (Novi Sad), Dr. Lukaś Babka (Prag), PD Dr. Gertraud Marinelli-König (Wien), PD Dr. Ernst Seibert (Wien) und Dr. Gunda Mairbäurl (Wien) für ihre offenen Ohren und Unterstützung bei den Recherchen bzw. der Vorbereitung zur Publikation zu Dank verpflichtet.

Kariem Hussein danke ich für seine Argusaugen und fachmännische Hilfe in technischen Fragen.

Der innigste Dank gilt meiner geliebten Familie. Sie hat mich fortwährend in sämtlichen Belangen meines Lebens bedingungslos, geduldig und mit positivem Zuspruch unterstützt. Dieses Buch widme ich Magda, Peter und Amir.

Wien, im März 2016

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht. Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen der russischen Zitate von der Autorin.

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Einführung

Детинаше будущее. Детирадость нашего грустного настоящего. Надо создать для наших маленьких друзей, разделяющих с нами наши тяжелые будни изгнания, побольше праздников. Надо дать им возможность проводить детство так, как должен проводить его ребенок: учиться и спокойно отдыхать.1

Die Machtergreifung der Bolschewiken durch die Oktoberrevolution von 1917 und der damit einhergehende Massenexodus russischer Intellektueller zogen einen folgenschweren Umbruch im russischen Gesellschaftsgefüge nach sich. Der Exodus aus dem zerfallenden russischen Zarenreich, den der Historiker Karl Schlögel auf ein bis zwei Millionen Flüchtlinge schätzt, setzte sich vorwiegend aus Mitgliedern der höheren und mittleren Gesellschaftsschicht zusammen2. Charakteristisches Strukturmerkmal der russischen Massenfluchtbewegung in europäische Zufluchtsländer bildete neben dem überproportional hohen Anteil von Anhängern der Intelligenz das Vorhandensein einer signifikanten Anzahl an Kindern und Jugendlichen, die sich als Opfer geschichtlicher Kataklysmen mit Beginn der 1920er-Jahre im Exil wiederfanden. Auf Grund des Fehlens einer offiziellen Registrierungsinstanz für russische Flüchtlingskinder können statistische Angaben zum zahlenmäßigen Anteil und der Verstreuung über die russischen Grenzen hinweg naturgemäß nur vage ausfallen. Nach Einschätzung des nach Paris emigrierten Publizisten und Zemgor-Mitarbeiters Vadim Rudnev befand sich gegen 1924 die Hälfte aller Emigrantenkinder nach der Flucht aus Russland in den slawischen und limitrophen Exilländern, die andere Hälfte in den westeuropäischen Emigrationszentren Deutschland und Frankreich3.

Um Kontinuität der russischen Kultur im Exil zu gewährleisten, entfalteten sich in den Zufluchtsländern während der Zwischenkriegszeit rege literarische Aktivitäten, die den Zusammenhalt der russischen Kultur, trotz geographischer ← 11 | 12 → Zerstreuung über unterschiedliche Lebensräume, gewährleisten sollten.4 Einer im Herkunftsland verbundenen Elterngeneration stand eine im Ausland heranwachsende zweite Generation gegenüber, die sich infolge von Vertreibung oder Flucht, erzwungenen Ortswechseln und dem hiermit einhergehenden Verlust des vertrauten sprachlichen und kulturellen Umfeldes zwischen den Sprachen und Kulturen ihrer Heimat und dem Exilland bewegte oder bereits zur Gänze außerhalb Russlands aufwuchs.

Die folgenschwere Spaltung der russischen Literaturentwicklung in eine ideologisch reglementierte Inlands- sowie eine sich außerhalb Russlands frei entwickelnde Exilliteratur nach 1917 wirkte sich ebenso auf den Bereich der Kinderliteratur aus. Während Kinderliteratur im sowjetischen Russland der schrittweisen Vereinnahmung für ideologische Zwecke unterlag, konnte sie sich zeitgleich in den Zentren der russischen Emigration bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges frei entfalten. Sie knüpfte an eine reiche Kinderliteraturtradition vor 1917 an, die auf Grund der Beiträge prominenter russischer Schriftsteller und Künstler zu Jahrhundertbeginn einen merklichen qualitativen und quantitativen Aufschwung erlebte.5

Im Verständnis von Kindheit als schützenswerten Lebensabschnitt, gepaart mit der Sorge um Identitätsfragen der im Ausland heranwachsenden Kinder, ergriffen russische Emigranten unter schwierigsten Lebens- und Publikationsumständen beachtenswerte Initiativen zur Schaffung und Fortführung der Kinderliteraturtradition in der Fremde. Trotz geographischer Zerstreutheit und einer prekären wirtschaftlichen Lage, welche zum einen die Publikationsmöglichkeiten erheblich erschwerte, zum anderen die Zahl potentieller Abnehmer deutlich verringerte, brachten russischen Emigranten wertvolle literarische Zeugnisse hervor und sicherten damit die Kontinuität der Kinderliteraturproduktion jenseits der russischen Grenzen.6 ← 12 | 13 →

Forschungslage

Sowjetische Kinderbücher bilden bis in die Gegenwart einen beliebten Gegenstand internationaler (Kunst-)Ausstellungen und ihre Erforschung erfährt insbesondere seit dem letzten Dezennium merklichen Aufschwung.7 Anknüpfend an die literaturwissenschaftliche Untersuchung der frühsowjetischen Kinderliteratur der 1920er-Jahre von Gertraud Marinelli-König, drängte sich die Frage nach der sich vor diesem Hintergrund parallel vollziehenden Kinderliteraturentwicklung in der russischen Emigration auf.8 Ein Blick auf die Forschungsliteratur zu den kulturellen Tätigkeiten russischer Emigranten im Zuge der „ersten Emigrationswelle“ erweckt zunächst den Eindruck, dass im Bereich der Kinderliteratur keinerlei erwähnenswerte literarische Aktivitäten jenseits der russischen Grenzen stattfanden. So konstatiert Marc Raeff in seiner kulturgeschichtlichen Untersuchung zur russischen Diaspora während der Zwischenkriegszeit ein auffälliges Defizit an russischsprachiger Literatur für Kinder.9 Seiner Ansicht nach wies die vorrevolutionäre Kinderliteraturtradition des „Silbernen Zeitalters“, die sowohl auf literarischer als auch künstlerischer Seite von Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Oktoberrevolution 1917 herausragende Schriftsteller und Illustratoren anzog, keine Kontinuität in der ← 13 | 14 → Emigration auf: (…) One type of literature of paramount importance for the development of children in prerevolutionary Russia was, strangely enough, rather deficient in Russia Abroad; namely, journals and books exclusively for the young.10

Erste Zeugnisse für die Existenz einer Exil-Kinderliteratur bietet dementgegen Michail Filins Anthologie Anja v strane čudes11. Filin bündelt darin ausgewählte Prosa- und Lyrikwerke emigrierter russischer Schriftsteller, ohne sie jedoch einer literaturwissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Die sechste Auflage des vom Autorenkollegium Irina Arzamasceva und Sof᾿ja Nikolaeva verfassten Lehrbuches zur russischen Kinderliteraturentwicklung von ihren folkloristischen Wurzeln bis in die Gegenwart räumt der im Exil entstandenen Kinderliteratur der 1920er- und 1930er- Jahre zwar ein selbstständiges Kapitel ein, beschränkt die Überblicksdarstellung jedoch auf das kinderliterarische Schaffen von Saša Černyj und Aleksej Tolstoj.12

Ben Hellmans Geschichte der russischen Kinderliteraturgeschichte gibt einen weitreichenden Überblick über die Entwicklung der russischen Kinderliteratur und ihre Periodisierung von ihren Ursprüngen 1574 bis 2010 unter Bezugnahme auf literarästhetische Tendenzen der Allgemeinliteratur sowie literaturkritische Diskurse des jeweiligen Zeitabschnittes. Referenzen zu kinderliterarischen Tätigkeiten in der russischen Emigration finden sich bei Hellman auf Saša Černyj, Aleksandr Kuprin sowie Aleksej Tolstoj und Ivan Šmelev in rein bibliografischer Form13.

Das seit dem letzten Dezennium merklich zunehmende Interesse an der russischen Kinderliteraturgeschichte des 20. Jahrhunderts lenkte die Aufmerksamkeit überdies auf den Bereich der Illustrationsgestaltung, vorwiegend vorrevolutionärer sowie sowjetischer Kinderbücher14. Der Katalog Russian artists and the children’s book der niederländischen Kinderbuchsammler Serge-Aljoša Stommels und Albert Lemmens beinhaltet ein detailreiches Kapitel über die ← 14 | 15 → grafische Gestaltung illustrierter Kinderbücher aus der Feder von emigrierten Künstlern und gibt Aufschluss über die stilprägenden Einflüsse ihrer Arbeiten auf die Entwicklungstendenzen der Illustrationskunst in den europäischen Gastländern Belgien und Frankreich während der 1930er-Jahre15. Derselben Thematik widmete sich eine im September 2010 in Sankt Petersburg abgehaltene Konferenz anlässlich des 100-jährigen Geburtsjubiläums der russischen Künstlerin Elisabeth Ivanovsky. Die Publikation der Ergebnisse akzentuierte den Wirkungsbereich russischer Emigranten im Bereich der Illustrationskunst, ließ gemäß Themenstellung und ihrem Fokus auf Bilderbücher jedoch die Textebene der kinderliterarischen Erzeugnisse außer Acht.16 Vereinzelte Hinweise auf grafische Arbeiten im Bereich des Kinderbuches von emigrierten Künstlern finden sich im Begleitkatalog17 zur veröffentlichten Dissertation des Kinderbuchsammlers Michail Seslavinskij sowie innerhalb von Sammlungsbeschreibungen und Ausstellungskatalogen, die sich dem illustrierten russischen Kinderbuch des 20. Jahrhunderts widmen und eine erste Bekanntschaft ermöglichen.18

Der Wirkungsbereich russischer Pädagogen in der Emigration bildet einen Untersuchungsgegenstand, der sich in kulturwissenschaftlichen Überblicksdarstellungen niederschlug, darüber hinaus insbesondere durch die Arbeiten der Erziehungswissenschaftler Efim Osovskij und Elena Sedova erhellt wurde.19Die ← 15 | 16 → vorliegende Studie knüpft daran an und beleuchtet vor diesem Hintergrund die theoretischen Diskussionen zu Fragen der Kinderliteratur aus pädagogischer Sicht sowie die vielfältigen Initiativen russischer Emigranten zu ihrer Sammlung, Erforschung und Bewertung.

Literaturgeschichtlicher Kontext

Vorrevolutionäre Kinderliteraturentwicklung zwischen 1890 und 1917

Kinderliteratur der Emigration nach 1917 knüpft durch ihren zeitlichen Beginn an die als „Modernismus“ bezeichnete Entwicklungsphase der Kinderliteratur zwischen 1890 und 1917. Der Modernismus in der russischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte im Bereich der Kinderliteratur einen merklichen Aufschwung. Während der kinderliterarische Korpus durch die breite Rezeption von europäischer Kinderliteratur und durch die aktive Miteinbeziehung von zeitgenössischen Werken der Allgemeinliteratur Erweiterung erfuhr, erhöhte sich der Stellenwert von Kinderliteratur und damit einhergehend das Ansehen der Kinderbuchautoren.20

In Anlehnung an die literaturgeschichtliche Untersuchung von Karajčenceva können innerhalb der kinderliterarischen Entwicklung um die Jahrhundertwende bis 1917 drei Entwicklungslinien festgestellt werden. Werke der sentimentalistisch-moralistischen Strömung, zu denen Karajčenceva Autorinnen wie Anna Doganovič, Vera Želichovskaja, Evgenija Tur, Lidija Čarskaja sowie Pavel Zasodimskij hinzurechnet, zeigten einen dominant didaktisch-moralisierenden Charakter. Ihre Hauptfunktion bestand neben der Unterhaltung in der Vermittlung einer ethischen Wertegrundlage an das Kind, die sich am Ideal der Humanität und dem Mitgefühl gegenüber Schwächeren orientierte. Die parallel verlaufende künstlerisch-realistische Strömung mit kinderliterarischen Werken von Anton ← 16 | 17 → Čechov, Vasilij Nemirovič-Dančenko, Fedor Dostoevskij, Maksim Gor’kij, Aleksandr Kuprin und Dmitrij Mamin-Sibirjak prägte sich in den 1890er-Jahren aus und strebte die Überwindung des vorherrschend moralisierenden Charakters sentimentalistischer Kinderbücher an. Kennzeichen ihrer sprachlichen und thematischen Annäherung an das Kind war eine betont realistische Darstellung russischen Lebens und sozialer Beziehungen anstelle von Verniedlichung und Didaktik.21

Details

Seiten
278
ISBN (PDF)
9783653061796
ISBN (ePUB)
9783653953893
ISBN (MOBI)
9783653953886
ISBN (Paperback)
9783631670200
DOI
10.3726/978-3-653-06179-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
kulturelle Identität historische Kinderliteraturforschung Russische Kulturgeschichte Exilliteratur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 278 S., 22 s/w Abb.

Biographische Angaben

Nadia Preindl (Autor:in)

Nadia Preindl studierte Slawistik und Romanistik an den Universitäten Wien und Moskau. Nach Forschungen an Bibliotheken und Archiven in Europa und den USA wurde sie im Bereich der russischen Literaturwissenschaft an der Universität Wien promoviert. Ihre Forschungsinteressen umfassen die russische Exilliteratur, Kinderliteratur sowie Fragen der kulturellen Identität Russlands.

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