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Kompetenz – Funktion – Variation / Competencia – Función – Variación

Linguistica Coseriana V

von Gerda Hassler (Band-Herausgeber:in) Thomas Stehl (Band-Herausgeber:in)
©2017 Konferenzband 402 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band enthält Beiträge der V. Internationalen Tagung zur Linguistica Coseriana. 26 Autoren behandeln theoretische Aspekte des Werks Coserius, seine Stellung in der Geschichte und Gegenwart der Sprachtheorien, sprachliche Kompetenz, Kreativität und Fixierung, Funktionen im Text und im Diskurs sowie Variation von Sprachen. Die Beiträge geben theoretisch orientierte Antworten auf einige von Coseriu aufgeworfene Fragen, sie sind empirisch fundiert und beinhalten auch historiographische Überlegungen. Dabei geht es nicht um eine Exegese der Texte Coserius, sondern um produktive Weiterentwicklungen einer kompetenzorientierten, funktionalen und auf sprachliche Variation bezogenen Linguistik.
Este volumen contiene contribuciones a la V. Conferencia Internacional sobre Linguistica Coseriana. 26 Autores tratan aspectos teóricos de la obra de Coseriu, su postura con respecto a la historia y presente de las teorías del lenguaje, competencia lingüística, creatividad y fijación, funciones en el texto y discurso, así como la variación de lenguas. Las contribuciones ofrecen respuestas teóricas sobre algunos planteamientos de Coseriu, están fundamentadas empíricamente y contienen también reflexiones historiográficas. No se trata de una exégesis de los textos de Coseriu, sino de desarrollos productivos de una lingüística funcional orientada a la competencia lingüística y que tiene en cuenta a la variación lingüística.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover / Cubierta
  • Titel / Título
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben / Sobre el autor/el editor
  • Über das Buch / Sobre el libro
  • Zitierfähigkeit des eBooks / Esta edición en formato eBook puede ser citada
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung (Gerda Haßler / Thomas Stehl)
  • 1. Theoretische Aspekte des Werks Coserius
  • Determinación y entorno: 60 años después (Johannes Kabatek)
  • ¿Una poética de la designación? Posibilidades y límites de una distinción coseriana (Jorge Wiesse Rebagliati)
  • El funcionalismo en la concepción de Coseriu. Su aplicabilidad a lenguas europeas y extraeuropeas (Wolf Dietrich)
  • Coserius integrale Linguistik des Sprechens vom Standpunkt einer kritischen Linguistik der Faktizität (Ana Agud)
  • Unity of significatum in foreign language learning. Preliminary distinctions (Dina Vîlcu)
  • 2. Coseriu in der Geschichte und Gegenwart der Sprachtheorien
  • Significado, logos e interpretación en Coseriu y Ortega y Gasset (Jesús Martínez del Castillo)
  • The Structure of Semiotics (Husserl, Saussure, Peirce, Coseriu) (Dumitru-Cornel Vîlcu)
  • Coseriu oltre Coseriu. Andare con Coseriu al di là dello strutturalismo (Frank Jablonka)
  • The Coseriu–Chomsky ‘Debate’ Revisited: Integrating Wittgenstein. Ways in Understanding Linguistic Knowledge/Competence (Floarea Vîrban)
  • La relación de la teoría coseriana con la traducción: un enfoque pionero (Ana María Gentile)
  • Eugenio Coseriu en mis recuerdos y en mis notas de clase (Raúl Ávila)
  • 3. Kompetenz, Kreativität und Fixierung
  • Creatividad, variación y fijación en el discurso repetido y la técnica del hablar (Gerda Haßler)
  • On the Importance of Coseriu’s Three Types of ‘Linguistic Competence’ for the Study of Phraseological Units (Cristinel Munteanu)
  • Competencia, confianza, vulnerabilidad y cortesía (Manuel Casado Velarde)
  • Written and Spoken Italian in the XVI Century. The Plurality of Functional Languages and its Impact on Standardization Processes (Liubov Zholudeva)
  • 4. Funktionen im Text und im Diskurs
  • Elokutionelles Wissen. Bilderhandschriften und mündliches Tradieren im alten Mexiko (Jens Lüdtke)
  • Investigating text-typological knowledge as part of expressive competence. Challenges and prospects (Emma Tămâianu-Morita)
  • Considérations sur une approche fonctionnelle du texte littéraire. Une perspective de la théorie cosérienne (Oana Boc)
  • Horizonte textual de integración correlativa. Presupuesto implícito, ontológico y textual, de Eugenio Coseriu (Antonio Domínguez Rey)
  • 5. Variation und Einzelsprachen
  • Von den Bedeutungen zu den „Sachen“. Eugenio Coserius Konzeption der „Fachsprache“ als Transzendierung der Einzelsprache (Jörn Albrecht)
  • Imata ruwaspa (‘¿Qué haciendo?’) / imata nispa (‘¿Qué diciendo?’) – De las oraciones interrogativas del quechua peruano a la función pragmática y modal de estar+gerundio (Verónica Böhm)
  • Le roumain de Moldavie et ses problèmes. Les réflexions « froides » d’Eugenio Coseriu sur un sujet « incendiaire » (Eugenia Bojoga)
  • Una dicotomía: norma prescriptiva vs norma culta en el portugués brasileño (confrontando reglas y usos de pronombres personales) (Dmitry Gurevich)
  • Concepciones pre-coserianas en los monumentos lingüísticos portugueses de los siglos XVI y XVII (Marina Kossarik)
  • Las hablas andaluzas y la conciencia lingüística de los hablantes (Antonio Martínez González)
  • Historische Sprache und Funktionelle Sprache: Strukturierung und Periodisierung (Thomas Stehl)
  • Reihenübersicht

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Gerda Haßler & Thomas Stehl

(Universität Potsdam)

Einleitung

In diesem Band stellen wir Beiträge vor, die aus der vom 8. bis 10. Oktober 2015 an der Universität Potsdam durchgeführten internationalen Tagung Kompetenz – Funktion – Variation. Linguistica Coseriana V hervorgingen.

In den letzten zehn Jahren hatten bereits vier dem sprachtheoretischen Erbe von Eugenio Coseriu (1921–2002) gewidmete internationale Tagungen stattgefunden: 2007 in Aix-en-Provence (Frankreich), 2009 in Cluj (Rumänien), 2011 in Almería (Spanien) und 2013 in Udine (Italien). Wir griffen das Anliegen dieser Tagungen nicht nur auf, sondern wollten die Diskussion zum heutigen Stand der Forschungen im Umfeld der Konzepte ‘Kompetenz’, ‘Funktion’ und ‘Variation’ anregen.

In der nichtformalen Linguistik haben die Begriffe ‘Kompetenz’, ‘Funktion’ und ‘Variation’ in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Weiterentwicklung und Diversifizierung gefunden. Einige Ansätze gehen dabei von Coseriu aus, verbinden dessen theoretische Skizzen jedoch mit empirischen Untersuchungen und stellen Verbindungen zu anderen Erklärungen sprachlicher Kompetenz, Theorien der funktionalen Linguistik und Modellen der Variationslinguistik her.

Der Begriff der ‘Kompetenz’ umfasst nicht nur die Kenntnis des Systems der Einzelsprache, sondern neben diesem idiomatischen Wissen auch das allgemein-sprachliche, elokutionelle Wissen und das expressive Wissen der Diskurskompetenz. Der für eine Linguistik der parole zentrale Kompetenzbegriff wurde von Coseriu – angeregt durch die Generativistik – geprägt. Sprachliches Wissen wurde von ihm im Leibniz’schen Sinne als cognitio clara distincta inadaequata bestimmt, d.h. als nicht reflexiv, jedoch als deutlich und den Erkenntnisgegenstand sicher identifizierend, begründet. Dabei stellen sich die Fragen, ob diese Erklärung angesichts des heutigen Forschungsstands zur sprachlichen Kompetenz noch standhält und wie der prozedurale Charakter der Sprachkompetenz erklärbar ist. Auch die zu historisch tradierten Normen gewordenen Diskurstraditionen werden als Bestandteil sprachlicher Kompetenz erworben und weitergegeben. Welches Erklärungspotential kommt jedoch den Diskurstraditionen zu und inwiefern sind sie als mehr oder weniger einheitliches Phänomen in verschiedenen Sprachen wiedererkennbar? ← 9 | 10 →

Den Anspruch der Beschreibung der Funktion sprachlicher Einheiten erheben viele Richtungen der Sprachwissenschaft, häufig ohne sich gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen oder ein Bewusstsein der Polysemie des Wortes Funktion in der Linguistik zu entwickeln. Bei Coseriu gründen sich Funktionen auf Strukturen, darüber hinaus behandelt er aber auch funktionale Kategorien und Funktionen von Formen. Das Konzept einer ‘funktionellen Sprache’ verbindet die sprachinternen Funktionen von Strukturen der langue mit den sprachexternen, kommunikativen Funktionen der funktionellen Sprachen in der parole. Das Konzept der funktionellen Sprache ermöglichte Coseriu eine elegante Lösung für die Annahme eines Sprachsystems: nur die in sich homogene, nicht variierende funktionelle Sprache stellt sich in ihrer Struktur als systematisch dar, während eine historische Sprache eine Architektur hat, in der zahlreiche funktionelle Sprachen kombiniert und kombinierbar sind. In diesem Zusammenhang wurden Fragen wie die folgenden diskutiert: Was leisten strukturell-funktionale Ansätze mit dieser Perspektive, und in welchen Richtungen wurden sie in den letzten Jahren weiterentwickelt? Welche Möglichkeiten bieten Korpora für die Beschreibung sprachlicher Funktionen? Wie hat sich die generative Linguistik durch die Einbeziehung funktionaler Kategorien verändert?

Mit seinem Modell der diatopischen, diastratischen, diaphasischen und diachronischen Variation hat Coseriu einen Ansatzpunkt für variationslinguistische Forschungen geschaffen, der vielfach aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Insbesondere mit der Annahme distinkter, aber als Gradata ineinandergreifender Übergangsformen zwischen Kontaktvarietäten von Diglossien und Pluriglossien, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Nähe- und Distanzsprache erweiterten sich die Möglichkeiten einer differenzierten Betrachtung sprachlicher Variation. Auf der Objektebene sind Sprachvariation und Sprachwandel als Auswirkungen der Historizität natürlicher Sprachen identisch. Auf der Betrachtungsebene erscheint Sprachwandel als Voraussetzung für Sprachvariation oder Variation als Bedingung für künftigen Wandel. Welche Entwicklungen in der Sprachgeschichtsschreibung tragen einer Zusammenführung von Objekt- und Betrachtungsebene Rechnung? Wenn ein Idiolekt über mehrere funktionale Sprachen verfügt, ist diese Variationskompetenz dann mit dem Beherrschen mehrerer Sprachen vergleichbar? Wie ist die sprachliche Kompetenz eines mehrsprachigen Individuums zu erklären? Wie ist sprachliche Variation in Sprachkontaktsituationen zu beschreiben?

Auf der Tagung wurden Beiträge vorgetragen, die theoretisch orientierte Antworten auf einige der genannten Fragen gaben, die empirisch fundiert sein und historiographische Überlegungen beinhalten konnten. Es ging dabei nicht um eine Exegese der Texte Coserius, sondern um produktive Weiterentwicklungen ← 10 | 11 → einer kompetenzorientierten, funktionalen und sprachliche Variation berücksichtigenden Linguistik. Die Herausarbeitung der Produktivität der mit den Begriffen Kompetenz, Funktion und Variation verbundenen Ansätze und ihre Weiterentwicklung stand dabei im Vordergrund. In diesem Zusammenhang erfolgte auch eine Verständigung über die Arten und Umfänge der Empirie. In einigen Beiträgen wurde eine Betrachtung historiographischen Arbeitens als Gewinn für die heutige linguistische Forschung vorgenommen.

Die in diesen Band aufgenommen Beiträge sollen einen Eindruck von der Diskussion geben. Sie werden in allen Fällen in der jeweiligen Sprache des Vortrags abgedruckt, was die Mehrsprachigkeit der Tagung veranschaulichen soll. Dass elf der sechsundzwanzig Beiträge in spanischer Sprache gehalten wurden, ist jedoch ein deutliches Zeichen der Verschiebung der Produktivität der von Coseriu entwickelten Ansätze in den spanischen Sprachraum.

Wir ordneten die Beiträge fünf Gruppen zu, die durch inhaltliche Zusammenhänge gekennzeichnet sind, wobei die Komplexität der einzelnen Texte auch andere Zuordnungen erlaubt hätte.

Die erste Gruppe der Beiträge ist theoretischen Aspekten des Werks Coserius gewidmet. Sie wird von einem Beitrag von Johannes Kabatek eröffnet, in dem er den 1955/56 im Romanistischen Jahrbuch unter der Überschrift “Determinación y entorno” veröffentlichten Aufsatz von Coseriu behandelt. Er weist dieser Arbeit eine zentrale Rolle in der Entwicklung von Coserius Sprachtheorie zu, insofern in ihr über die strukturalistischen Grenzen hinaus auf eine Linguistik des Sprechens hingewiesen wird. Als programmatischer Entwurf ist dieser Aufsatz auch nach sechzig Jahren noch aktuell.

Jorge Wiesse Rebagliati nutzt die von Coseriu eingeführte Dreiteilung von Bedeutungsphänomenen in Bezeichnung, Bedeutung und Sinn, um eine „Poetik der Bezeichnung“ zu postulieren. Aufgabe dieser Poetik wäre die Beschreibung der Prozesse, in denen in literarischen Texten Sinn konstituiert wird. An verschiedenen Beispielen zeigt der Autor diese Sinnkonstitution ausgehend vom Bezeichnen außersprachlicher Gegebenheiten und leitet daraus Aufgaben für eine Textlinguistik nach Coseriu ab.

Wolf Dietrich geht vom Unterschied des Funktionsbegriffes bei Coseriu zum verbreiteten Begriff der grammatischen Funktion nach Simon Dik aus und sieht diesen Unterschied in der Annahme einer sprachlichen, von der Außenwelt unabhängigen Bedeutung bei Coseriu. Danach werden typologische und funktionale Kategorien aufeinander bezogen und es wird bewiesen, dass ein solcher Funktionsbegriff auch für die Beschreibung und Erklärung außereuropäischer Sprachen produktiv sein kann. Dies wird am Beispiel von für die südamerikanischen Sprachen ← 11 | 12 → neu einzuführenden Funktionen, wie der Reduplikation, der nicht vollendeten Aktion und der Evidentialität, vorgeführt.

Ana Agud mahnt eine kritische Haltung gegenüber linguistischen Kategorienbildungen an und trifft dabei auf das Problem, dass die Faktizität des jedesmaligen Sprechens mit analytischen Kategorien nicht einzufangen ist. Sie fordert von den Linguisten Offenheit für Alles, was zum Sinn der jeweils untersuchten sprachlichen Erscheinungen beizutragen vermag, und das Ausschließen der Verwechslung von Reduktionen und ontologischen Wahrheiten.

Dina Vîlcu untersucht die Möglichkeiten der ausgehend von Coserius Theorie entwickelten „integralen Linguistik“ beim Erlernen einer Sprache in theoretischer und praktischer Hinsicht. Im Mittelpunkt steht dabei das lexikalische significatum, das in Coserius Trias von Bezeichnung, Bedeutung und Sinn eingeordnet wird.

Der zweiten Gruppe wurden Beiträge zugeordnet, die Coseriu in der Geschichte und Gegenwart der Sprachtheorien behandeln und ihn zu anderen Autoren in Beziehung setzen.

Jesús Martínez del Castillo betrachtet die historischen Sprachen als kulturelle Manifestationen und Aktivitäten freier Subjekte und zieht in diesem Sinne Parallelen zwischen Coseriu und Ortega y Gasset. Die mentalen Strukturen existieren nur als soziale Gewohnheiten im Sprechen wie auch im als Sprechen mit sich selbst definierten Denken.

Dumitru-Cornel Vîlcu geht von den drei unabhängig voneinander entwickelten Projekten der Semiotik bei Husserl, Saussure und Pierce aus und setzt sie in Relation zu Coserius Theorie, die er als nicht semiotisch kennzeichnet und im Hinblick auf ihre Semiotizität mit folgender Formel charakterisiert: Wörter sind keine Zeichen, Rede kann Zeichen sein, Text-Diskurs ist meistens Zeichen.

Im Artikel von Frank Jablonka steht die Möglichkeit im Mittelpunkt, auf der Basis der Theorie von Coseriu den Strukturalismus zu überwinden, also auch über Coseriu hinauszugehen. Er bezieht sich dabei auf eine empirische Variationslinguistik als Linguistik der parole und gelangt über die Medienlinguistik schließlich zu Betrachtungen zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Strukturalismus.

Eine Neubetrachtung der Debatte zwischen Coseriu und Chomsky unter Einbeziehung Wittgensteins schlägt Floarea Vîrban vor. Coseriu selbst hat sich nicht nachweisbar mit Wittgenstein beschäftigt, weshalb hier der sprachtheoretische und philosophische Versuch einer Antwort auf die Frage unternommen wird, ob der späte Wittgenstein die Position Coserius oder Chomskys gestärkt habe. Die Autorin kommt zu der Schlussfolgerung, dass eine intensivere Beschäftigung mit allen drei Theorien geeignet wäre, eine Brücke zwischen struktureller und kognitiver Linguistik zu schlagen. ← 12 | 13 →

Ana María Gentile betrachtet Coseriu aufgrund eines 1977 erschienenen Aufsatzes als Pionier der Übersetzungswissenschaft. Seiner Idee, dass die Sprache die außersprachliche Kultur reflektiert, wird Aktualität für die heutige interkulturelle Übersetzung zugesprochen. Eine Quelle der Inspiration für Coseriu wird auch in dem spanischen Humanisten Juan Luis Vives gesehen, der die Sprachen für miteinander vergleichbar und zugleich voneinander sehr unterschiedlich gehalten hatte.

Von seinen persönlichen Erinnerungen an ein Doktorandenseminar am Colegio de México, das Coseriu 1967 erteilte, geht Raúl Ávila aus. Den Doktoranden wurde dort vermittelt, was an der Sprache strukturierbar ist und was nicht und dass der Sprecher im humboldtschen Sinne kreativ ist. Auch die Anwendung von Coserius Diasystem auf die Dialektzonen in Lateinamerika war von nachhaltigem Einfluss.

Das Kompetenz, Kreativität und Fixierung überschriebene Kapitel beginnt mit einem Beitrag von Gerda Haßler, der an Coserius Forderung nach einer Linguistik des Sprechens anknüpft und zugleich die nach 60 Jahren veränderte Situation reflektiert, in der große Korpora zur Verfügung stehen und die Existenz eines Sprachsystems von einigen Linguisten in Frage gestellt wird. Es wird dazu aufgefordert, die These Coserius von der Nichtanalysierbarkeit der „wiederholten Rede“ zu überdenken und gleichzeitig die Tendenz zur Fixierung von Kollokationen ernst zu nehmen. Variation von Phraseolexemen und Fixierung von ursprünglich freien Syntagmen werden an Korpusbeispielen nachgewiesen.

Für die Untersuchung phraseologischer Einheiten betrachtet Cristinel Munteanu drei Typen sprachlicher Kompetenz als wichtig. Er unterscheidet nach Coseriu die universelle Ebene der elokutiven Kompetenz, die historische Ebene der idiomatischen Kompetenz und die individuelle Ebene der expressiven Kompetenz. Der Gebrauch von Phraseologismen, entsprechend diesen unterschiedlichen Ebenen der sprachlichen Kompetenz, wird mit unterschiedlichen Bewusstheitsgraden in Beziehung gesetzt.

Manuel Casado Velarde geht von dem beziehungsreichen Konzept der Sprachkompetenz aus und behandelt es auf pragmatischer Ebene im Zusammenhang mit den Konzepten des Vertrauens, der Verletzbarkeit und der Höflichkeit. Unabhängig von ihren historischen Formen in Raum und Zeit können höfliche Sprechakte die Risiken des Vertrauens kompensieren oder abschwächen und in diesem Sinne als Bestandteil der elokutiven Kompetenz betrachtet werden.

Liubov Zholudeva behandelt die Vielheit der funktionalen Sprachen und ihren Einfluss auf Standardisierungsprozesse am Beispiel des Italienischen des 16. Jahrhunderts. Im Unterschied zu anderen romanischen Ländern verfügte ← 13 | 14 → Italien jahrhundertelang nicht über eine offizielle Sprache. Die Entwicklung der italienischen Literatursprache ist deshalb nur als ein Nebeneinander mehrerer Muster auf allen historischen Stufen vorstellbar.

Der Funktionen im Text und im Diskurs überschriebene vierte Teil beginnt mit einem Beitrag von Jens Lüdtke, in dem das elokutionelle Wissen als referenzsemantische Entsprechung der Diskurstraditionen am Beispiel der Bilderhandschriften und des mündlichen Tradierens im alten Mexiko behandelt wird. Die Trennung des Sprechens bzw. Schreibens im Allgemeinen und der Einzelsprache zeigt am Beispiel der mexikanischen Bilderschrift einen von der Einzelsprache unabhängigen schriftlichen Ausdruck, der zur Grundlage von Bezeichnungstraditionen und elokutionellem Wissen wurde.

Emma Tămâianu-Morita legt eine Analyse des texttypologischen Wissens, das der expressiven (textuellen) Kompetenz zugerechnet wird, vor. Sie versteht dabei die funktionale und die historische Erklärungsperspektive als komplementär. Der funktionalen Perspektive wird jedoch die primäre Rolle zugewiesen, weil sie Merkmale der Entstehung des Textsinns betont. Die historische Perspektive wird auch insofern als sekundär betrachtet, als der Textproduzent entscheiden kann, ob er traditionelle Modelle aufnimmt oder nicht.

Eine funktionale Betrachtung literarischer Texte vom Standunkt von Coserius Theorie, die von dem rumänischen Linguisten Mircea Borcilă weiterentwickelt wurde, ist Gegenstand des Beitrags von Oana Boc. Die Sprache wird dabei als kreative Tätigkeit im humboldtschen Sinne, nicht als einfaches Kommunikationsmittel betrachtet. Hervorgehoben wird die Poesie als „absolute Sprache“, in der sich der gesamte funktionale Reichtum der Sprache manifestiert.

Eine phänomenologische Deutung erfährt die Beziehung von impliziten Präsuppositionen, ontologischen und textuellen Gegebenheiten im Artikel von Antonio Domínguez Rey. Jedem Terminus, jeder These oder logischen Position wird dabei eine implizite kategoriale Korrelation zugewiesen. Eine Lösung des Paradoxons, das Coseriu zwischen dem Ontischen und der Sprache annahm, wird in der Entfaltung des Poetischen gesehen, das dem sprachlichen Zeichen eine andere Grundlage verleiht.

Im fünften Teil werden verschiedene Aspekte der Variation und der Einzelsprache dargestellt. Als eine Transzendierung der Einzelsprache stellt Jörn Albrecht Coserius Konzeption der Fachsprache dar. Die Einzelsprachen sind lediglich der Ausgangspunkt einer Analyse der Welt und führen zu Einteilungen, die in den Fachsprachen modifiziert werden müssen. Coseriu versuchte, zwischen der objektiven und der intersubjektiven Dimension der Sprache zu vermitteln, und nahm dabei eine Reinterpretation der Texte kanonischer Autoren vor. ← 14 | 15 →

Verónica Böhm zeigt, wie Transpositionen von Interrogativkonstruktionen aus dem Quechua in das in den peruanischen Anden gesprochene Spanisch zum pragmatischen Ausdruck von sozialer Distanz und Höflichkeit werden können. Sie erklärt dieses kontaktlinguistische Phänomen, das vor allem Auswirkungen auf den Gebrauch der Verbalperiphrase estar+Gerundium hat, unter Einbeziehung von Coserius Kompetenzbegriff.

Die Probleme des Rumänischen in der moldauischen Republik werden von Eugenia Bojoga betrachtet. Sie erwähnt dabei auch die persönliche Involviertheit Coserius als in Moldawien geborener Rumäne. Die Konzepte der ‘Alterität’, der ‘Einheit’ und der ‘Ethik der Sprache’ werden auf die Situation in Moldawien angewandt. Die verschiedenen Positionen Coserius als Sprachtheoretiker, als Romanist und als muttersprachlicher Linguist werden im Hinblick auf ihre Differenziertheit und auf Gemeinsamkeiten untersucht.

Dmitry Gurevich untersucht die Dichotomie zwischen präskriptiver Norm und deskriptiver Norm der Kultursprache im brasilianischen Portugiesisch am Beispiel des Gebrauchs der Personalpronomen. Gegenstand des Artikels ist die Position der direkten und indirekten Objektpronomen, die im brasilianischen Portugiesisch nach Stil und Register variiert. Die portugiesische Sprache wird als historische Sprache betrachtet, deren diatopische, diastratische und diaphasische Varianten miteinander interagieren.

Marina Kossarik zeigt Parallelen zum Denken Coserius von den ersten Beschreibungen des Lateinischen in portugiesischer Vernakularsprache bis zum Erscheinen der Grammatik von Port-Royal auf. Coseriu selbst hatte den Autor der ersten portugiesischen Grammatik als einen genialen Linguisten charakterisiert. Im breiten thematischen Spektrum der sprachbezogenen Arbeiten im 16. und 17. Jahrhundert und im Koexistieren eines universalistischen und eines nichtuniversalistischen Zugangs zur Sprache werden Gründe für den Vergleich mit Coseriu und für die Bezeichnung dieses Zeitraums als „interparadigmatisch“ gesehen.

Antonio Martínez González behandelt die Mundarten Andalusiens und das Sprachbewusstsein ihrer Sprecher. Bestrebungen, in andalusischer Sprache zu schreiben und sie zu einer selbständigen Sprache werden zu lassen, verdeutlichen die Relativität der Abgrenzung von Sprache und Dialekt. Coserius Aussage, dass es nach der Substanz und dem Wesen keinen Unterschied zwischen einer Sprache und einem Dialekt gibt, lässt die Möglichkeit zu, dass ein Dialekt, der sich keiner historischen Sprache unterordnet, selbst zu einer historischen Sprache wird, ebenso wie ein Verlust der Autonomie einer historischen Sprache möglich wird.

Thomas Stehl geht von dem Problem aus, dass Coseriu wichtige Unterscheidungen bezüglich der Periodisierung der Historischen Sprache und der ← 15 | 16 → Strukturierung der Funktionellen Sprache getroffen hat, die in Forschungen zu historischen Sprachkontakten auf empirischer Basis miteinander in Verbindung gebracht und wechselseitig aufeinander bezogen werden müssen. Eine solche Verbindung wird im Hinblick auf ihre Anwendung in der Strukturierung und der Periodisierung von Historischen Sprachen, Sprachkontakten und Sprachgenesen in der romanischen Sprachgeschichte vorgenommen.

Für die Mitarbeit beim Bearbeiten und Korrekturlesen der Beiträge danken wir Udo Mai, Dr. James McElvenny, Dr. Verónica Böhm, Lena Busse, Elina Eliasson, Linda Gennies, Dr. Anja Hennemann, Dr. Kathleen Plötner, Meike Teppner, Jenny Voigt, Dr. Stefanie Wagner und Tino Regenstein sehr herzlich. Besonderer Dank gebührt auch Herrn Michael Rücker vom Peter Lang Verlag für seine Geduld und kompetente Beratung.

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1. Theoretische Aspekte des Werks Coserius

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Johannes Kabatek

Details

Seiten
402
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631706589
ISBN (PDF)
9783653064629
ISBN (MOBI)
9783631706596
ISBN (Hardcover)
9783631671306
DOI
10.3726/b11258
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Funktionale Linguistik Sprachvariation Sprachtheorie Geschichte der Sprachwissenschaft Text und Diskurs
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 402 S., 27 s/w Abb., 5 s/w Graf., 6 s/w Tab.

Biographische Angaben

Gerda Hassler (Band-Herausgeber:in) Thomas Stehl (Band-Herausgeber:in)

Gerda Haßler ist Professorin für Linguistik und angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Potsdam; Forschungen zur Grammatik der romanischen Sprachen und zur Geschichte der Sprachwissenschaft. Thomas Stehl ist Professor für Romanische Philologie/Sprachwissenschaft an der Universität Potsdam; Forschungen zur Variationslinguistik und zur Historischen Linguistik. Gerda Haßler es catedrática de Lingüística y lingüística aplicada en la Universidad de Potsdam, ha realizado investigaciones sobre la gramática de las lenguas romances y la historia de la lingüística. Thomas Stehl es catedrático de Lingüística y Filología románicas en la Universidad de Potsdam, ha realizado investigacioes sobre variación lingüística y lingüística histórica.

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Titel: Kompetenz – Funktion – Variation / Competencia – Función – Variación
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