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Herrschaftslegitimation und Kulturtransfer in der habsburgischen Lombardei

Die Zeitschrift «Biblioteca italiana» und die deutsche Kultur (1815–1830)

von Mirjam Neusius (Autor:in)
©2017 Dissertation 518 Seiten

Zusammenfassung

Die mailändische Zeitschrift «Biblioteca italiana» wurde 1816 auf Betreiben der österreichischen Regierung gegründet. Oft als reines Verlautbarungsblatt Österreichs von der Risorgimento-Forschung vernachlässigt, zeigt die vorliegende Studie, dass die in der Zeitschrift vertretenen Positionen weitaus heterogener waren, als dies bislang angenommen wurde.
Giuseppe Acerbi, der Chefredakteur, und Paride Zajotti, der führende Literaturkritiker der Zeitschrift, die von den liberalen Zeitgenossen und der Geschichtswissenschaft gern als bloße Erfüllungsgehilfen der österreichischen Besatzer betrachtet wurden, erscheinen bei genauerer Analyse als weit komplexere Persönlichkeiten, deren hybride Identitäten zwischen politischen und kulturellen, österreichischen und italienischen Verbindlichkeiten changierten.
Auf verschiedenen Ebenen hinterfragt die Studie damit die traditionelle Risorgimento-Forschung und deckt einen bislang weitgehend unbekannten Teil des deutsch-italienischen Kulturtransfers im frühen 19. Jahrhundert auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Herrschaftslegitimation und Kulturtransfer in der habsburgischen Lombardei Die Zeitschrift Biblioteca italiana und die deutsche Kultur (1815–1830)
  • The legitimization of power and cultural transfer in Habsburg Lombardy The Biblioteca italiana and German culture (1815–1830)
  • Legittimazione del dominio e transfer culturale nella Lombardia asburgica La rivista Biblioteca italiana e la cultura tedesca (1815–1830)
  • Inhalt
  • Dank
  • Einleitung
  • 1. Die Rückkehr der Habsburger und die deutsche Kultur
  • 1.1 Aspekte der österreichischen Herrschaft in der Lombardei
  • 1.1.1 Politische Weichenstellungen
  • 1.1.2 Antihabsburgische Ressentiments der lokalen Eliten
  • 1.1.3 Anmerkungen zur Zensur
  • 1.2 Die Kulturmetropole Mailand
  • 1.2.1 Die Zeitschriftenlandschaft in Mailand
  • 1.2.2 Deutschsprachige Literatur in Mailand
  • 1.3 Die Rezeption der deutschen Romantik
  • 1.3.1 Vorüberlegungen zum Begriff der Romantik
  • 1.3.2 Die Eigentümlichkeit der italienischen Romantik
  • 1.3.3 Die (Wieder-)Entdeckung der Romantik in der neueren Risorgimento-Forschung
  • 2. Die Biblioteca italiana: Eine Kulturzeitschrift im Dienste Habsburgs?
  • 2.1 Gründung und Ausrichtung der Zeitschrift
  • 2.2 Aufbau
  • 2.3 Mitarbeiter
  • 2.3.1 Giovanni Rasori
  • 2.3.2 Melchiorre Gioja
  • 3. Giuseppe Acerbi
  • 3.1 Zwischen Unterwerfung und Eigensinn: Biographische Anmerkungen
  • 3.2 Giuseppe Acerbis Leitung der Biblioteca italiana
  • 3.3 Die deutschen Korrespondenten Giuseppe Acerbis (1815–1825)
  • 3.3.1 August Wilhelm Schlegel
  • 3.3.2 Alexander von Humboldt und Barthold Georg Niebuhr
  • 3.3.3 Joseph August Schultes
  • 3.3.4 Karl August Böttiger
  • 3.3.5 Georg von Cotta und Ludwig Schorn
  • 3.3.6 Karl Witte an Karl Seidel
  • 3.4 Giuseppe Acerbi: Versuch einer Einordnung
  • 4. Paride Zajotti
  • 4.1 Zwischen romantischen Vorbildern und klassischer Strenge: Biographische Anmerkungen
  • 4.2 Paride Zajottis Stellung innerhalb der Biblioteca italiana
  • 4.3 Die Tagebücher: Lektüre und Kenntnis der deutschen Literatur
  • 4.4 Die deutschen Korrespondenten Paride Zajottis
  • 4.5 Paride Zajotti und der Kulturtransfer aus Deutschland
  • 5. Die Vermittlungsarbeit der Biblioteca italiana: Versuch einer Systematisierung
  • 5.1 Deutsche Sprache und Literatur
  • 5.1.1 Übersetzungen
  • 5.1.2 Sprachlehr- und Wörterbücher
  • 5.1.3 Literaturgeschichten und Gedichtanthologien
  • 5.1.4 Korrespondentenberichte
  • 5.2 Das „Politikum“ der Romantik in der Biblioteca italiana
  • 5.2.1 Ausgangslage
  • 5.2.2 Der Kampf gegen den Conciliatore und die Zeit danach: Eine frühliberale Herausforderung?
  • 5.3 Deutsch-italienische Gelehrtendebatten
  • 5.3.1 Interventionen deutscher Wissenschaftler in der Biblioteca italiana
  • 5.3.2 Exkurs: Die Wiener Briefe Giuseppe Carpanis
  • 5.4 Die deutsche Wissensnation als Vorbild
  • 5.4.1 Beschreibungen der deutschen Kultur- und Wissenschaftslandschaft
  • 5.4.2 Die Vorstellung deutscher Wissenschaftler in der Biblioteca italiana
  • 5.4.3 Die Eigenständigkeit italienischer Kritik: Negativurteile über deutsche Publikationen oder deren Übersetzungen
  • 5.4.4 Positionierungen: Kritik an deutschen Zeitschriften
  • 5.5 Darstellung der neuen Herrschaft: Direkte und indirekte Werbung für Österreich
  • 5.5.1 Allgemeine Aspekte
  • 5.5.2 Giuseppe Acerbis zusammenfassende Vorwörter
  • 5.5.3 Preisverleihungen im Kultur- und Wirtschaftsbereich
  • 5.5.4 Gesetzestexte und Patentvergaben
  • 5.5.5 Die Rezeption österreichischer Zeitschriften
  • 5.5.6 Die positive Darstellung der Politik Österreichs
  • Zusammenfassung
  • Anhang
  • Editorische Notiz
  • Archive
  • Abkürzungen
  • Gedruckte Quellen
  • a) Biblioteca italiana
  • b) Sonstige gedruckte Quellen
  • Literaturverzeichnis
  • Personenregister

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Dank

Mein herzlicher Dank geht an Prof. Dr. Thomas Kroll (Jena) und Prof. Dr. Marco Meriggi (Neapel) für die wissenschaftliche Betreuung der Promotionsschrift, aus der dieses Buch hervorgegangen ist. Prof. Dr. Uwe Puschner (Berlin) möchte ich dafür danken, dass ich an seinem Berliner Kolloquium teilnehmen durfte und dass er die Schrift in die von ihm und von Prof. Dr. Ina Ulrike Paul (München/Berlin) betreute Reihe aufgenommen hat.

Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bin ich zu Dank für die dreijährige Finanzierung des Forschungsprojekts zum italienischen Frühliberalismus verpflichtet (beantragt durch Prof. Dr. Thomas Kroll), ebenso dem Deutschen Historischen Institut in Rom (Prof. Dr. Martin Baumeister) für ein zweimonatiges, und der Universität Innsbruck (Prof. Dr. Brigitte Mazohl) für ein vierwöchiges Abschluss-Stipendium.

Meiner Familie und meinen Freunden danke ich für ihren Zuspruch, ihre Hilfe und ihre Zuneigung.

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Einleitung

1815 kehrten nach der endgültigen Niederlage Napoleons die Habsburger nach Oberitalien zurück. Mailand, die Hauptstadt des untergegangenen napoleonischen Königreiches Italien, wurde dadurch in seiner politischen Bedeutung enorm herabgestuft, denn die österreichischen Pläne sahen die Schaffung eines Königreiches Lombardo-Venetien vor, das unter der direkten Kontrolle Wiens stehen sollte. Die zur Reorganisation der wiedergewonnenen Gebiete geplanten und durchgeführten Maßnahmen führten bei einem großen Teil der lombardischen Eliten zwangsläufig zu einer Stimmung der Enttäuschung, da diese nicht, wie erhofft, in ihre vornapoleonischen Machtpositionen zurückkehren konnten. In den folgenden Jahren musste Österreich daher darauf bedacht sein, die neu geschaffene österreichische Provinz zu befrieden und sie zu einem loyalen Teil der Habsburgermonarchie zu machen.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Frage, ob und wie der österreichische Hegemonialanspruch nach dem Wiener Kongress mithilfe der regierungsfreundlichen Zeitschrift Biblioteca italiana in den norditalienischen Gebieten durchgesetzt werden konnte. Die Zeitschrift, deren voller Titel Biblioteca italiana ossia giornale di letteratura, scienza ed arti lautete, wurde 1816 gegründet und sollte sich explizit um die Vermittlung der deutschen Kultur in den italienischen Gebieten, die wieder zu Österreich gehörten, bemühen. Im Folgenden sollen anhand einer detaillierten Analyse der Zeitschrift und einer genauen Untersuchung der Handlungsmotivationen und Selbstverortungen ihrer beiden wichtigsten Mitarbeiter im hier betrachteten Zeitraum – Giuseppe Acerbi und Paride Zajotti – Antworten auf die sich bei der eben geschilderten Ausgangslage ergebenden Fragen gefunden werden. Es wird zu fragen sein, wie die deutsche Kultur während der Restaurationszeit in mailändischen Gelehrtenkreisen aufgenommen wurde und warum die

literarischen Auseinandersetzungen dort durch Vorgaben aus dem deutschen Raum angefacht werden konnten und auch, wie diese in ihren Ausprägungen variiert wurden. Zu fragen ist weiterhin, bis zu welchem Grad und ab welchem Zeitpunkt sich politische Implikationen in den literarischen Debatten Mailands in dem Zeitraum von 1815 bis 1830 ausmachen lassen. In diesem Zusammenhang wird es auch darum gehen, nach der ← 19 | 20 → Selbstverortung der Mitarbeiter der Zeitschrift zu fragen, ihr Selbstverständnis, ihre Loyalitäten und ihre Identitäten herauszuarbeiten. Schließlich ist auch die innerhalb der Risorgimento-Forschung vertretene, weitgehend monolithische Meinung über die Biblioteca italiana als einer unwichtigen, im Sinne einer als habsburgisches Verlautbarungsblatt verstandenen, und daher nicht gelesenen Zeitschrift zu überprüfen.

Dabei sollen die beiden Schwerpunkte der Arbeit – die Zeitschrift und die Mitarbeiter – nicht als zwei voneinander unabhängige Untersuchungseinheiten verstanden werden, sondern vielmehr als zwei sich ergänzende Teile eines Themenkomplexes, in dessen Mitte die Frage nach der österreichischen Herrschaftslegitimation durch die Biblioteca italiana steht.

Durch die zahlreichen, meist komplexen Überlagerungen von politischen Meinungen und literarischen Vorlieben, die die Situation in Mailand in den ersten Jahren nach der napoleonischen Zeit kennzeichneten, ist die Ausgangslage unübersichtlich und wie zu sehen sein wird, war es schon für die Zeitgenossen nicht immer leicht, eindeutige Positionen zu beziehen – und diese auch beizubehalten.

Der für die Untersuchung gewählte Zeitraum beginnt mit der Rückkehr der Österreicher nach Mailand und den kurz darauf aufgenommenen Vorbereitungen zur Gründung der Biblioteca italiana und endet mit dem Jahr 1830. Für diese Zäsur sprechen mehrere Gründe. Zum einen änderte sich nach der französischen Juli-Revolution auch in Italien das politische Klima; der legitimistische Status quo seit dem Wiener Kongress schien durch internationale Entwicklungen wie zum Beispiel die Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden ins Wanken gekommen und entsprechend wuchsen auch in Italien zunehmend die Hoffnungen auf neue politische Handlungsoptionen.1 Zum anderen lässt sich auch literaturgeschichtlich 1830 eine ‚Epochenschwelle‘ ausmachen: Ab den 1830er Jahren nimmt die Zahl der realistischen und nationalpatriotischen Werke in der italienischen Literatur zu.2 Im speziellen ← 20 | 21 → Fall der hier im Mittelpunkt stehenden Biblioteca italiana ist außerdem von Bedeutung, dass 1831 mit Paride Zajotti der wichtigste für die deutsche Literatur zuständige Mitarbeiter aus der Zeitschrift ausscheidet.3

Gemeinhin wird bei Darstellungen der Restaurationszeit in Mailand der Fokus hauptsächlich auf die frühliberalen Kämpfer für mehr Unabhängigkeit von Österreich gerichtet.4 Die österreichische Herrschaft tritt in dieser Perspektive lediglich als Zeit der Unterdrückung und der Verhinderung nationaler Selbstbestimmung in den Vordergrund.5 Solche Vorannahmen verhindern jedoch, der Bedeutung der von den Österreichern etablierten Zeitschrift Biblioteca italiana in den zeitgenössischen kulturellen Diskussionen gerecht zu werden.

Ebenso wenig wird bei den Untersuchungen zum Einfluss der deutschen Romantik auf die frühliberalen Strömungen in Italien nach der Rezeption romantischer Literatur durch die konservativen mailändischen Gelehrten gefragt und diese in Bezug zu ihren Gegenspielern gesetzt.6 Eine solche ← 21 | 22 → Nichtbeachtung der österreichtreuen, konservativen Eliten verhindert jedoch, Nuancen eventueller Übereinstimmungen innerhalb der verschiedenen Lager zu entdecken und erschwert es, die komplexe Situation der mailändischen Gelehrten in jener Zeit darzustellen. Aus diesem Grund ist die Untersuchung von zwei konservativen und österreichtreuen („austriacanti“) Gelehrten ein zentraler Bestandteil der vorliegenden Arbeit.7

Aber auch die Rolle, die Österreich in der italienischen Geschichtswissenschaft zukommt, gilt es, zu reflektieren. Dass man die gemeinsame Geschichte mit Österreich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in Italien nur unter negativen Vorzeichen gesehen und beschrieben hat, erklärt sich dadurch, dass das Feindbild Österreich als Negativfolie dienen musste, um die italienische Nationalstaatsgründung zu legitimieren und zu propagieren.8 Eine derartige Sichtweise konnte in Italien so lange Befürworter finden, wie es aus italienischer Perspektive noch von Österreich besetzte Gebiete gab.9

Die Forschung hat sich in der Vergangenheit in sehr unterschiedlichem Maß den Themen gewidmet, die für die hier angestrengte Untersuchung von Belang sind. Als besonders gut kann man die Erforschung des Königreiches Lombardo-Venetien bezeichnen.10 Die wichtigsten Arbeiten stammen hier ← 22 | 23 → von Marco Meriggi, insbesondere seine Studie Amministrazione e classi sociali nel Lombardo-Veneto (1814–1848) sowie das zum Standardwerk gewordene Il regno Lombardo-Veneto aus dem Jahr 1987 informieren grundlegend über die politische Situation der Lombardei in jenen Jahren.11 Daneben sind auch die Arbeiten Franco della Perutas zum Risorgimento in Mailand sowie vereinzelte Studien zu Lombardo-Venetien von Alfonso Scirocco, Alan Sked und Nicoletta Dacrema zu erwähnen.12 Aus österreichischer Perspektive sind außerdem die Arbeiten von Brigitte Mazohl zu nennen, die sich intensiv mit den Verwaltungsstrukturen im Königreich Lombardo-Venetien beschäftigt hat.13 Ebenfalls für die österreichische Geschichtsforschung sind die Arbeiten von Edith Saurer, Primus-Heinz Kucher und Franz Pesendorfer zu nennen.14 Ähnlich gut wie die Forschungssituation zur Politik- und Sozialgeschichte des Königreiches Lombardo-Venetien ist die Literaturlage zum kulturellen Leben in Mailand im hier behandelten Zeitraum. Betrachtet man die Arbeiten, die sich mit dem publizistischen Bereich des Kulturlebens beschäftigen, so ist als Pionierstudie die Arbeit von Kent R. Greenfield anzuführen, der 1934 die Zeitschriftenlandschaft in Mailand erstmals genauer untersucht hat.15 Hieran anschließend sind die Arbeiten von Alessandro Galante Garrone zu nennen, der in seiner gemeinsam mit Franco della Peruta verfassten Pressegeschichte des Risorgimento auch ausführlich auf die Situation in Mailand einging,16 sowie die Untersuchung Giuseppe Ricuperatis, die sich mit den Journalisten jener Zeit befasst.17 Ein Standardwerk zum Zeitungs- und Büchermarkt in Mailand ← 23 | 24 → während der Restauration stellt auch die Studie Marino Berengos Intellettuali e librai nella Milano della Restaurazione dar.18 Weiterhin erschienen Studien zu einzelnen Zeitschriften, wie beispielsweise jene, die sich der Zeitschrift Il Conciliatore19 widmen oder Sergio La Salvias Arbeit über die Zeitschrift Annali universali di Statistica.20

Neuere Arbeiten wie jene Gianluca Albergonis zu den Beschäftigungsverhältnissen der mailändischen Literaten während der ersten Jahre der Restauration haben jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass die älteren Studien die zahlreichen Schattierungen und Paradoxien innerhalb des mailändischen Kulturlebens während der Restaurationszeit nicht ausreichend berücksichtigt haben.21

Mit einem ungleich geringeren Interesse hat sich die Forschung bisher der in der vorliegenden Studie im Mittelpunkt stehenden Zeitschrift Biblioteca italiana und ihrer Mitarbeiter zugewandt. Was die Forschung zu Giuseppe Acerbi angeht, so fällt auf, dass die Deutung seiner Person lange dem Paradigma der offiziellen Risorgimento-Geschichtsschreibung gehorchte. Diese stellte den Nationsbildungsprozess in den Vordergrund, während Erscheinungen, die nicht in das Bild einer zur Einheit strebenden Nation passten, entweder keine Beachtung fanden oder nur als am Ende unterlegene Randerscheinungen abgetan wurden.22 Die Risorgimento-Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts widmete sich meist den Kämpfen für die nationale Unabhängigkeit und Einheit und konzentrierte sich daher bevorzugt auf ausgemachte Österreich-Gegner. Als habsburgtreuer Funktionär während der Restauration durfte Acerbi keinen Platz in der offiziellen Erinnerungskultur einnehmen, sondern fiel einer gewissen damnatio memoriae anheim.23 ← 24 | 25 →

Eine der ersten Aufarbeitungen der Rolle Acerbis als Direktor der mailändischen Zeitschrift stammt von Cesare Cantù.24 In seinen Studien entspricht die Behandlung Acerbis sowie der Biblioteca italiana, aber auch der österreichischen Herrschaft in Italien insgesamt denn auch ganz dem Duktus der jungen italienischen Nationalgeschichtsschreibung. Cantùs Darstellung war ein früher und wesentlicher Schritt zur Verfestigung des Urteils über Acerbi als Handlanger der habsburgischen Eroberungs- und Konsolidierungspolitik.25

An dieser Sichtweise konnte auch Alessandro Luzio nichts ändern.26 Dessen Versuch, Acerbi zu rehabilitieren, scheiterte jedoch sicherlich auch an seiner eigenen Person: Luzios politische Überzeugungen, seine teilweise tendenziösen Schriften sowie die von ihm während des Faschismus ausgeübten Ämter ließen ihn in der italienischen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit weitgehend in Misskredit geraten.27 So wurde ihm von Antonio Gramsci vorgeworfen, sich in seiner Studie über die Carbonari-Prozesse von 1821 auf die Seite der Ankläger gestellt zu haben:

Allzu oft scheint es, dass Luzio (was die Verhafteten der demokratischen Parteien anbelangt) den Angeklagten vorwirft, dass sie sich nicht haben verurteilen und aufhängen lassen. Auch vom Standpunkt des Rechts oder der Rechtssprechung stellt Luzio die Fragen falsch und tendenziös, indem er sich auf den Standpunkt ← 25 | 26 → des „Richters“ und nicht auf den der Angeklagten stellt: daher seine (untauglichen und dummen) Versuche, reaktionäre Richter wie Salvotti zu „rehabilitieren“.28

Diese sicherlich gerechtfertigte Kritik übersieht jedoch, dass Luzio zumindest in der Acerbi-Forschung als Pionier gelten muss, denn die Erschließung des Nachlasses von Acerbi ist weitgehend ihm zu verdanken.29 Bei einem neuerlichen Lesen der Beiträge Luzios zur Acerbi-Forschung kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass die Kritik an seinen Schriften vor allem auf seine politische Einstellung und Positionierung zurückzuführen ist und es sich hierbei entsprechend um eine Tradition handelt, neben dem österreichtreuen Acerbi auch seinen österreichfreundlichen Biographen zu verurteilen.

Das aus dem Jahr 1931 stammende Werk von Clelia Nascimbene Pasio über die Polemik zwischen Klassikern und Romantikern, das ebenfalls über Acerbi Auskunft gibt, wird dagegen gemeinhin ganz dem faschistischen Zeitgeist zugeschrieben. Im Sinne einer Affirmation der herrschenden Ideologie, wurden aus Giuseppe Acerbi und Paride Zajotti italienische Patrioten, die so in eine glorreiche Geschichte der ruhmreichen italienischen Nation eingefügt werden konnten.30 Ebenfalls in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die Studie Lia Marchis über die deutsche Literatur in der Biblioteca italiana aus dem Jahr 1975.31 In ihrer einführenden Vorstellung der Zeitschrift und ihres Direktors Acerbi bewegt aber auch sie sich im Fahrwasser der älteren Forschung, da sie den ersten Teil ihrer Arbeit weitgehend auf den Werken Luzios und Cantùs aufbaut und deren Meinungen unhinterfragt übernimmt.32

Erst die Mitte der 1970er Jahre erschienenen Studien Roberta Turchis33 und Roberto Bizzocchis34 widmeten sich Giuseppe Acerbi mit einem neuen Blick und untersuchten seine Handlungsmotivationen auf der Grundlage seines Briefwechsels sowie im Zusammenhang mit der jetzt erstmals in der ← 26 | 27 → Forschung ein gewisses Gewicht gewinnenden Biblioteca italiana. Während Turchis Edition des umfangreichen Briefwechsels zwischen Giuseppe Acerbi und Paride Zajotti die Persönlichkeiten und Handlungsmaximen der beiden Gelehrten deutlich hervortreten lässt, ist es Roberto Bizzocchis wesentliches Verdienst, die Geschichte der Biblioteca italiana aufgearbeitet und in diesem Zusammenhang unter anderem anhand der noch erhaltenen Gehalts- und Honorarbelege zahlreiche der anonym veröffentlichten Artikel ihren Verfassern zugeordnet zu haben.35

Doch auch wenn es Bizzocchis erklärtes Ziel war, das Schweigen über die zahlreichen Leistungen Acerbis kritisch zu hinterfragen,36 und obwohl er zur Erforschung der mailändischen Zeitschrift und ihres Direktors einen wesentlichen, innovativen Beitrag geleistet hat, gelingt es auch ihm am Ende nicht, Acerbis Leistung unvoreingenommen zu würdigen.37

Neben der Beschäftigung mit Acerbi als Leiter der Biblioteca italiana haben auch andere Lebensphasen Acerbis das Interesse der Forschung auf sich gezogen; so ist zum Beispiel Acerbis Nordkap-Reise insbesondere von finnischen Historikern untersucht worden.38 Auch die von Acerbi nach seinem Ausscheiden aus der Biblioteca italiana ausgeübte Tätigkeit als Generalkonsul im ägyptischen Alessandria ist gut erforscht.39 Schließlich gibt es auch eine lokalgeschichtliche Forschung, die sich Acerbi als einem ← 27 | 28 → bedeutenden Sohn der Provinz Mantua und insbesondere des kleinen Ortes Castel Goffredo widmet.40

Auch Paride Zajotti wurde von der Risorgimento-Forschung lange Zeit nicht beachtet.41 Während Acerbi jedoch immerhin von Alessandro Luzio Ende des 19. Jahrhunderts einer genaueren Untersuchung unterzogen worden war, blieben die Materialien, die Luzio für eine ähnliche Studie über Paride Zajotti gesammelt hatte, unpubliziert und wanderten nach dessen Tod in die verschiedenen Archive, die Luzios Nachlass aufnahmen.42

Eine erste Lebensbeschreibung Zajottis stammt von seinen Triester Arbeitskollegen Antonio Gazzoletti und Scipione Sighele.43 Sie trägt allerdings stark hagiographische Züge und kann daher eher als vorgeschalteter Nekrolog ← 28 | 29 → zu dem posthum veröffentlichten Werk Zajottis Della letteratura giovanile (1844) gelesen werden.44

Im Jahr 1929 beschäftigte sich erstmals Zajottis Urenkel Nicolò Vidacovich mit der Stellung seines in Vergessenheit geratenen Vorfahren in den kulturellen Zirkeln der Restauration. Er publizierte zahlreiche Briefe namhafter Korrespondenten seines Urgroßvaters.45 Im gleichen Jahr erschien die Studie von Maria Antonietta Zanotti über die Freundschaft zwischen Zajotti und Vincenzo Monti.46 Aus den 1940er und 1950er Jahren stammen die Studien von Enrico Brol über Zajottis Freundschaft zu dem ebenfalls aus dem Trentino stammenden Jesuiten Antonio Bresciani und über Zajotti und dessen letzte Wirkungsstätte Triest.47

Einen wesentlichen Schritt hin zur Wiederentdeckung Zajottis stellen – ähnlich wie im Fall Acerbis – die Studien der Literaturwissenschaftlerin ← 29 | 30 → Roberta Turchi und des Historikers Roberto Bizzocchi aus den 1970er Jahren dar.48 Roberta Turchi beschäftigte sich mit Zajotti zunächst aus Interesse an seiner Rolle als Literaturkritiker und seinen Artikeln über Alessandro Manzonis Roman I Promessi Sposi. Das lenkte ihr Interesse auf die Korrespondenz zwischen Zajotti und Acerbi49 und auch auf die Biblioteca italiana.50 1982 besorgte Turchi eine kritische Ausgabe von Zajottis wichtigsten, in der Biblioteca italiana erschienen Polemiken.51 Vorrangig im Zusammenhang mit seinen Forschungen zur Biblioteca italiana begann sich Roberto Bizzocchi mit Paride Zajotti auseinanderzusetzen.52

Die Literaturwissenschaftlerin Fausta Garavini wiederum widmete sich Zajotti im Zuge ihrer Recherchen zu Costanza Monti Perticari, der Tochter Vincenzo Montis.53 Sie edierte auch den umfangreichen Briefwechsel zwischen Zajotti und Antonio Salvotti, auf den sie im Staatsarchiv von Mantua gestoßen war.54 Ähnlich wie Luzio scheint auch Garavini teilweise bestrebt zu sein, sowohl Zajotti als auch Salvotti zu rehabilitieren.55 Dennoch können für die Planungen zur Übersetzung der Geschichte des römischen Rechts ← 30 | 31 → im Mittelalter von Friedrich Carl von Savigny wichtige Hinweise aus dem von Garavini veröffentlichten Briefwechsel bezogen werden.56

In jüngerer Zeit ist schließlich an der Universität Trento eine Magisterarbeit zu Paride Zajotti und seiner Verteidigungsschrift Semplice verità opposta alle menzogne di Enrico Misley… erarbeitet worden,57 außerdem ist die Korrespondenz zwischen Paride Zajotti und seinem Studienfreund Pietro Repossi untersucht worden.58 Letztgenannte Studien ordnen sich in eine Reihe von Forschungen ein, die sich in den letzten Jahren verstärkt den Eliten in Tirol im Zeitraum zwischen Ancien Régime und Restauration gewidmet haben.59

Obwohl die Biblioteca italiana in den ersten Jahren der Restauration die auflagenstärkste mailändische Zeitschrift war, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr nach wie vor gering. Ein Grund hierfür ist sicherlich der Umstand, dass sie als gelenktes und tendenziöses ‚Herrschaftsinstrument‘ der Österreicher eingestuft wurde und man in ihr für die brisanten politischen Fragen der nachnapoleonischen Zeit nur wenige oder verfälschende, im Sinne der österreichischen Herrschaftspolitik erwartbare Antworten vermutete.60

Als einer der ersten beschäftigte sich Alessandro Luzio im Zusammenhang mit seinen Studien über Giuseppe Acerbi mit der Zeitschrift.61 Von grundlegender Bedeutung ist jedoch die Arbeit von Roberto Bizzocchi aus dem Jahr 1979, er stellte erstmals die Biblioteca italiana in den Mittelpunkt ← 31 | 32 → einer eigenständigen Monographie.62 Hiernach befasste man sich mit der Zeitschrift jedoch wieder meist in untergeordneter Weise, das heißt im Zusammenhang mit anderen Schwerpunkten, wie zum Beispiel der Zeitschrift Conciliatore oder eben Persönlichkeiten wie Giuseppe Acerbi oder Paride Zajotti. Ebenfalls aus dem Interesse an Acerbi, aber ausführlicher und in mehreren Einzelbeiträgen widmeten sich jedoch Zeitschriften wie Il Tartarello oder Postumia in jüngerer Zeit wieder explizit der Biblioteca italiana.63 Die Ausführungen, die Galante Garrone der Biblioteca italiana in seiner Überblicksdarstellung der italienischen Presselandschaft während der Restaurationszeit widmet, spiegeln die noch heute weitgehend vorherrschende Meinung über die Zeitschrift wider.64

Eine erste Studie, die sich der Präsenz der deutschen Literatur in der Biblioteca italiana gewidmet hat, stammt von Lia Marchi aus dem Jahr 1975.65 In ihrer kurzen Untersuchung verhindert die sehr enge Definition von ‚Literatur‘ jedoch, die Anstrengungen der Mitarbeiter der Biblioteca italiana, eine Annäherung zwischen deutscher und italienischer Kultur herbeizuführen, adäquat auszuloten.66 Um diese Lücke zu füllen, stellt ein wichtiges Hilfsmittel die Arbeit von Carlo Carmassi dar, der für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts alle in italienischen Zeitungen und Zeitschriften erschienenen Beiträge über ← 32 | 33 → deutschsprachige Literatur zusammengetragen hat.67 Auch die Untersuchung von Rita Unfer Lukoschik sei hier angeführt, auch wenn darin der Fokus ausschließlich auf die Rezeption Friedrich Schillers in Italien gerichtet ist und daher nur für einen Teilaspekt der vorliegenden Arbeit relevant ist.68

Von Bedeutung sind besonders auch die italienischen Forschungen über deutschsprachige Literatur im Königreich Lombardo-Venetien. Um eine Aufarbeitung dieses Themenfeldes haben sich in den 1990er vor allem Roberta Battaglia Boniello, Franca Belski und Mario Allegri verdient gemacht.69

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass es auch immer wieder zu gewissen Interdependenzen zwischen der italienischen Romantik-Forschung und der Forschung über die Biblioteca italiana kommt. Dies ist den zeitgenössichen Romanticismo-Classicismo-Debatten geschuldet, die auch in der Biblioteca italiana ausgetragen wurden. Die rein literaturwissenschaftlichen Forschungen hierzu werden erweitert durch Studien, die sich mit der politischen Dimension der italienischen Romantik beschäftigen.70

Die folgende Untersuchung basiert auf verschiedenen Quellentypen. Die zentrale Quelle stellt selbstverständlich die Zeitschrift Biblioteca italiana selbst dar. Anhand der in der Zeitschrift stattfindenden Interpretationen von und Diskussionen über deutsche Kultur und Gelehrsamkeit soll die Frage beantwortet werden, welche Vorstellungen von deutscher Kultur hier entworfen wurden. Dabei wird erstens der Frage nachgegangen, ob die Biblioteca italiana ihren Auftrag, zur Legitimierung der österreichischen Herrschaft ← 33 | 34 → in Lombardo-Venetien beizutragen, erfüllte. Zweitens wird untersucht, ob sich Hinweise auf eine sich verselbständigende Diskussion finden lassen, die inneritalienisch und national geführt wurde und die sich vielleicht gerade in der Abgrenzung von ausländischen Meinungen und Debatten offenbarte.

Neben den Artikeln der Biblioteca italiana bilden die (meist unveröffentlichten) privaten Korrespondenzen und Aufzeichnungen (Tagebücher, Briefentwürfe) von Giuseppe Acerbi und Paride Zajotti den zweiten wesentlichen Bestandteil des untersuchten Quellenkorpus. Mithilfe des Archivmaterials aus Mantua, Triest, Carpenedo (Venedig) sowie aus Dresden und Marburg können neue Aussagen über deren Kontakte zu deutschen Gelehrten und zu ihrem Austausch mit dem deutschen Kulturraum getroffen werden. Dies dient einerseits dazu, Artikel der Biblioteca italiana im Lichte der Korrespondenz ihrer Verfasser neu beurteilen zu können, andererseits erlaubt der Quellenbestand auch Rückschlüsse auf den kulturellen Transfer, die beteiligten Mittler und die Motivationen der Beteiligten.71

Den theoretischen Hintergrund der Studie bildet eine Kombination verschiedener Forschungsansätze, die sich in der Vergangenheit bei der Beantwortung ähnlich gelagerter Fragestellungen etabliert haben. An erster Stelle ist hier die Kulturtransfer-Forschung zu nennen, die durch die Arbeiten von Michel Espagne und Michael Werner in den späten 1980er Jahren begründet wurde.72 In ihren Forschungen zum Kulturkontakt zwischen Frankreich und Deutschland im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert entwarfen sie neue Fragestellungen, die sich sowohl von vergleichend arbeitenden Verfahren absetzten, als auch ältere, häufig unter Rezeptions- oder Einflussgeschichte firmierende, Forschungskonzepte zurückwiesen. Während Vergleichsverfahren in der Regel mit zwei genau definierbaren Vergleichsobjekten arbeiten, um Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zum ← 34 | 35 → Beispiel zwischen zwei Nationen, zwei Regionen oder auch zwischen zwei Städten zu analysieren, betont die Theorie des Transfers gerade die Interferenzen und fokussiert so auch die Vermischungen und Unschärfen in einem Ausgangs- und einem Zielkontext.73 Auch der Ansatz der Rezeptions- und Einflussgeschichte sollte hinterfragt werden: Konnotationen, die mit ‚Rezeption‘ und ‚Einfluss‘ verbunden sind, erschwerten die Ausweitung des Erkenntnisinteresses, das sich bei kulturellen Begegnungen eben nicht nur auf Übernahmen, sondern auch auf Ablehnungen, Neubewertungen, Anregungen und ähnliches bezieht.74

Das besondere Augenmerk der Kulturtransfer-Forschung gilt dagegen den Prozessen der Anverwandlung fremder Kulturangebote, wodurch frühere rezeptions- oder einflussgeschichtliche Ansätze erweitert werden. Der Transfer-Ansatz betont zudem sowohl die Veränderungen, die ein bestimmter Inhalt während der Übertragung erfährt, als auch das Prozesshafte des Transfers selbst. Ebenfalls zentral sind hier die Motive, aufgrund derer kulturelle Güter – materieller oder immaterieller Art – von einem Kontext in einen anderen transferiert werden, die Kriterien, nach denen das zu Transferierende selektiert wird, und schließlich der Zweck, der dem Transferierten im neuen Kontext zugedacht wird.75 In diesem Zusammenhang kommt auch den individuellen Trägern des Transfers – von Espagne ‚Mittler‘ genannt – eine Schlüsselrolle zu.76

Der Ansatz von Espagne und Werner wurde in den Folgejahren in der Geschichtswissenschaft vielfach aufgegriffen und konstruktiv weiterentwickelt. In diesem Sinn lässt sich auch die von Hans-Jürgen Lüsebrink vorgeschlagene Einordnung des Kulturtransfer-Konzepts in den weiteren Rahmen ← 35 | 36 → der interkulturellen Kommunikation77 und die von Johannes Paulmann eingeführte Bezeichnung ‚interkultureller Transfer‘78 verstehen.

Ausgehend von Untersuchungen, die sich den Kulturkontakten zwischen Deutschland und Frankreich widmeten, wurde das Konzept des Kulturtransfers anschließend auch auf andere geographische Räume79 sowie auf andere Epochen angewandt.80 Dabei ist jedoch der deutsch-italienische Kulturtransfer längst nicht so gut erforscht wie der deutsch-französische oder der deutsch-englische.81

Eine für die hier behandelte Fragestellung gewinnbringende Fortführung der Kulturtransfer-Theorie stammt von Udo Schöning.82 Er hat Pierre Bourdieus Theorie des ‚literarischen Feldes‘83 mit dem Ansatz des Kulturtransfers verknüpft. Demnach spielen für das ‚literarische Feld‘ die bereits in früheren Werken Bourdieus herausgearbeiteten Theorien von Habitus und Kapital (ökonomisches, kulturelles, soziales, symbolisches), aber auch die Theorie einer relativen Autonomie des Feldes eine zentrale Rolle.84 Nach Udo ← 36 | 37 → Schöning lassen sich im Kulturtransfer-Kontext die jeweiligen „ausgangs- und zielkulturellen Horizonte“ daher als relativ autonome Felder im Sinne Bourdieus begreifen.85 Diese Prämisse liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde, da in erster Linie der kulturelle Transfer aus dem deutschsprachigen Raum in den ‚zielkulturellen Horizont‘ Mailands untersucht wird.

Gegenüber der traditionellen Rezeptionsgeschichte ist ein elementares Merkmal der Kulturtransfer-Studien die zusätzliche Untersuchung des sozialen und biographischen Bereichs.86 Johannes Paulmann stellt dazu fest: „Der kulturelle Transfer geschah nicht von Nation zu Nation, sondern war zuerst das Werk von Individuen, die Wissen über das jeweils andere Land vermittelten.“87 Dieser Forderung wird in der vorliegenden Arbeit durch die biographischen Kapitel zu Giuseppe Acerbi und Paride Zajotti Rechnung getragen. Hier werden die Ansätze einer „neuen Biographik“ aufgegriffen, die sich im Zuge der in den letzten Jahren wiederentdeckten Biographie-Forschung etabliert haben.88

Die biographische Herangehensweise, die auch in der Geschichtswissenschaft wieder in Mode gekommen ist,89 legt Wert darauf, das zu untersuchende Individuum in soziale, kulturelle und politische Zusammenhänge einzubetten und nicht bei der Wiedergabe von Selbstdefinitionen der biographierten Person haltzumachen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den historistischen Biographien der Vergangenheit.90 Es reicht daher nicht, lediglich den Lebensweg nachzuzeichnen, sondern es gilt, auch den dazugehörigen bewussten und unbewussten Inszenierungs- und Konstruktionscharakter zu analysieren.91 Das Selbstverständnis der zu untersuchenden Personen ist notgedrungen immer an die jeweils vorherrschenden kulturellen Bedingungen gebunden. Dies deutlich zu machen, die Verhaltensmuster vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und individuellen Situation herauszuarbeiten, ist Ziel einer biographischen Analyse, die weder ← 37 | 38 → allein Selbstzuschreibungen, noch den Beschreibungen späterer Generationen blind Glauben schenkt.92 Gleichwohl gibt es auch bei biographischen Studien keinen neutral Beschreibenden; seit dem linguistic turn ist bekannt, dass alles sprachlich Verfasste immer auch eine Konstruktion, ein narratives Konstrukt ist.93

Als dritter Theorie-Ansatz bietet sich schließlich die Netzwerk-Theorie94 an. Ohne deren heuristische Angebote überbewerten zu wollen und zugleich in dem Bewusstsein, dass ein Netzwerk „zunächst nicht viel mehr [ist] als eine Metapher zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge“95 und dass der Netzwerkforschung „kein einheitlicher theoretischer Bezugrahmen zugrunde“96 liegt, soll der Begriff und die dahinter stehende Vorstellung dennoch – wenn auch zurückhaltend – in der vorliegenden Arbeit verwendet werden, um zum Beispiel die verschiedenen Kontakte Giuseppe Acerbis in den deutschen Raum zu beschreiben.

Die Beschäftigung mit einer Zeitschrift des frühen 19. Jahrhunderts wie der Biblioteca italiana fordert zu Beginn einige grundsätzliche Klärungen. So ist es notwendig, sich zunächst mit dem Begriff der ‚Öffentlichkeit‘ auseinanderzusetzen.97 Wesentliche Anregungen hierfür liefert die Studie zum Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) von Jürgen Habermas, in der er sich mit der Formierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert auseinandersetzt.98 In der anschließenden Forschungsdiskussion wurde deutlich, dass zwar einerseits ‚Öffentlichkeit‘ für die Herausbildung moderner Gesellschaften unabdingbar ist, dass andererseits aber der Begriff selbst nicht leicht zu definieren ist. So ließe sich fragen, ob man überhaupt von einer Öffentlichkeit sprechen kann oder ← 38 | 39 → ob es sich eher verschiedene Teilöffentlichkeiten gibt.99 Führt man diesen Gedanken weiter, kann man zu dem Phänomen einer ‚Gegenöffentlichkeit‘ gelangen, wie dies Hans-Ulrich Wehler für die politischen Strömungen im Deutschen Kaiserreich beschrieben hat.100 Eine Kompromisslösung scheint der Ansatz von Jörg Requate zu sein, der einen normativ-theoretischen und einen empirisch-konkreten Öffentlichkeits-Begriff vorschlägt, wobei eine normativ-theoretisch verstandene Öffentlichkeit als homogener Akteur verstanden wird, der eine gesellschaftliche Kontrollfunktion ausübt, während eine empirisch-konkrete Öffentlichkeit meist rasch in verschiedene Teilöffentlichkeiten zerfällt, etwa bei der konkreten Untersuchung von ausgewählten Zeitungen oder Zeitschriften.101

Auch bei der folgenden Untersuchung der Biblioteca italiana werden diese Überlegungen von Bedeutung sein. Es wird zu zeigen sein, welche Motive zur Gründung der Zeitschrift führten, wer welche Zwecke mit ihr verband und welche Öffentlichkeitskonzeption die Zeitschrift selbst vertrat und wen sie zu erreichen hoffte.

Lässt sich die Frage nach dem Rezipientenkreis eines Mediums schon für die Gegenwart nur schwer beantworten, so ist es umso schwieriger, dies für eine Zeitschrift im frühen 19. Jahrhundert zu tun.102 Auf Grund der geringen Alphabetisierungsquote und der Ausrichtung als Wissenschaftszeitschrift103 kann es sich nur um einen begrenzten Rezipientenkreis gehandelt haben, der sich zum großen Teil aus Gelehrten zusammensetzte.104 Mehr als von einer öffentlichen Meinung ist daher von einer ‚veröffentlichten Meinung‘ ← 39 | 40 → zu sprechen, da sich über Leserkreis und Breitenwirkung der Zeitschrift nur wenige stichhaltige Aussagen machen lassen.

Auch die in der Biblioteca italiana zu untersuchende ‚deutsche Kultur‘ muss eingangs noch genauer bestimmt werden. ‚Kultur‘ soll dabei in einem Sinn verstanden werden, der alle Hinweise auf Literatur, Wissenschaft, aber auch Wirtschaft, Alltagskultur und Brauchtum der nördlichen Nachbarn umfasst, die in der Zeitschrift nachgewiesen werden können. So können beispielsweise auch Erwähnungen neuer Erfindungen, Reisebeschreibungen oder Beschreibungen deutscher Festkultur im Analyserahmen Aufnahme finden.105 Als ‚deutsche‘ Kultur wird in der vorliegenden Arbeit immer die ‚deutschsprachige‘ Kultur verstanden, demnach fließen in die Betrachtung sowohl Texte aus Österreich, Deutschland sowie der Schweiz ein. Eine klare definitorische Trennung der italienischen Begriffe ‚tedesco‘, ‚germanico‘, ‚austriaco‘ gab es im Untersuchungszeitraum nicht.106

Die Arbeit beginnt mit einem kurzen, kontextualisierenden Kapitel, in dem vor allem zwei Themenkomplexe im Vordergrund stehen: Zum einen die politische Herrschaftssicherung Österreichs in Italien nach 1815, zum anderen die kulturelle Situation in Mailand zu Beginn des 19. Jahrhunderts und hier insbesondere die Rezeption deutscher Kultur: Ein Überblick über die in Mailand in Übersetzung vorliegende deutschsprachige Literatur sowie die Problematisierung der Epoche der Romantik, eine Einordnung der italienischen Romantik in den europäischen Zusammenhang sowie die Diskussion der gegenwärtigen (Wieder-)Entdeckung der Romantik in der Risorgimento-Historiographie. ← 40 | 41 →

Das zweite Kapitel ist der Vorstellung der Biblioteca italiana gewidmet. Nach einer Darstellung der Gründungsphase der Zeitschrift wird ihr Aufbau und ihre Ausrichtung erläutert; außerdem werden beispielhaft ausgewählte Mitarbeiter vorgestellt.

Kapitel drei und vier stellen mit Giuseppe Acerbi und Paride Zajotti zwei zentrale, in österreichischen Diensten stehende Gelehrte vor, die maßgeblich für die Ausgestaltung der Biblioteca italiana in den ersten Jahren der Restauration verantwortlich waren. Analysiert werden ihre Kontakte zu deutschen Gelehrten, und ihre Kenntnisse und Befindlichkeiten bezüglich der deutschen Kultur werden ausgelotet. Dabei soll die Frage nach ihren Positionierungen zum einen die Brüche innerhalb potenzieller klassischer oder romantischer Stellungnahmen sichtbar machen, zum anderen die vorhandenen politischen Implikationen und die jeweiligen persönlichen Einstellungen herausarbeiten. Von welchem Italien sprechen diese konservativen, österreichischen Funktionäre? Worin äußert sich ihre ambivalente Haltung und wie erklärt sich diese? Welches Selbstverständnis offenbaren ihre veröffentlichten Artikel und wie kohärent sind diese zu ihren Äußerungen in ihrer privaten Korrespondenz oder im Tagebuch? Lassen sich Aussagen über ihr Politikverständnis machen und von welcher Nation sprechen sie?

Das umfangreiche fünfte Kapitel ist der dataillierten Analyse der Zeitschrift gewidmet. Die im Zeitraum 1816 bis 1831 erschienenen Beiträge werden auf Hinweise zum Kulturtransfer aus dem deutschsprachigen Raum untersucht. So sollen Antworten auf die Fragen erarbeitet werden, welche Vorstellung von deutscher Kultur die Biblioteca italiana vertrat und welchen Zweck die Beteiligten mit einem bestimmten Kulturkonzept verfolgten. Weiterhin wird untersucht, welches Nationsverständnis die Zeitschrift transportierte und welche politische Stellungnahmen sich in den Artikeln nachweisen lassen.107

Zur besseren Handhabung des umfangreichen Materials werden verschiedene Kategorien erarbeitet, um die ausgewählten Artikel zu systematisieren. So werden Besprechungen deutscher Literatur, aber auch Rezensionen von Sprach- und Lehrwerken zur deutschen Sprache und von anderen ← 41 | 42 → Wissenschaftszweigen untersucht. Daneben soll der Blick auf literaturtheoretische Auseinandersetzungen gerichtet werden. Die in der Biblioteca italiana geführten deutsch-italienischen Gelehrtendebatten werden genauer vorgestellt; hiervon unterschieden werden Artikel und Beiträge, die den Vorbildcharakter der deutschen Wissensnation vor Augen führen sollten.

Schließlich wird gefragt, ob eine kontinuierliche Kommunikationspolitik erkennbar ist, und die Darstellungsweise Österreichs und seiner ‚deutschen‘ Kultur wird überprüft. Worin äußerte sich die Loyalität zu Österreich und wie stark wurde diese sichtbar? In welchem Verhältnis standen die pro-österreichischen Artikel zu den restlichen Artikeln der Zeitschrift? Und schließlich: Gab es Konjunkturen innerhalb der Propagierung eines positiven Österreich-Bildes und welche Hinweise auf Eigenständigkeit lassen sich in der Zeitschrift finden?

Diese Fragen sollen helfen, erstens im Verlauf der Arbeit ein genaueres Bild der Biblioteca italiana zu entwerfen und zweitens eine genauere Kenntnis über den kulturellen Transfer aus den deutschsprachigen Nachbarländern im Umfeld der mailändischen Zeitschrift zu erlangen.

Details

Seiten
518
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631705179
ISBN (PDF)
9783653067002
ISBN (MOBI)
9783631705186
ISBN (Hardcover)
9783631672006
DOI
10.3726/b10612
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (November)
Schlagworte
Risorgimento Romantik Italien Österreich Mailand 19. Jahrhundert
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 518 S.

Biographische Angaben

Mirjam Neusius (Autor:in)

Mirjam Neusius studierte Neuere und Neueste Geschichte, italienische Philologie und Politikwissenschaft in Berlin und Rom und wurde an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Redaktion der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom.

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Titel: Herrschaftslegitimation und Kulturtransfer in der habsburgischen Lombardei
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