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Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich

von Aneta Jachimowicz (Autor:in)
©2017 Sammelband 480 Seiten

Zusammenfassung

Der Band versammelt Beiträge, die über den etablierten Kanon der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich hinausreichen und auf die ästhetischen und formalen Besonderheiten anderer AutorInnen und literarischer Diskurse aufmerksam machen sowie Anlass geben, sich jenseits der arrivierten Literatur umzusehen. Es geht auch um die Frage, inwieweit das besondere Profil der österreichischen Literatur bei nicht kanonisierten Werken evident wird und wie die Kanonisierungen zustande kamen. Die Fallbeispiele geben Einblick in den Literaturbetrieb der Zwischenkriegszeit und zeigen, dass es notwendig ist, die österreichische Literatur dieser Zeit von der Literatur der Weimarer Republik stärker zu unterscheiden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitende Überlegungen zu der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich außerhalb des Kanons (Aneta Jachimowicz)
  • I. Politisch-soziologische Grundlagen
  • Lasset uns sich selbst verwalten. Gemeinschafts- und Gesellschaftsvorstellungen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und München (mit Ausblick auf Solidarność) (Karol Sauerland)
  • Streiflichter aus der Lebenswelt der Ersten Republik Österreich 1918–1938 (Elisabeth Vyslonzil)
  • Der Krieg ist zu Ende, der Erinnerungskulturkampf beginnt. Politik, Historiographie und Literatur in den ersten Jahren der Ersten Republik (Alfred Pfoser)
  • II. Verlage und Verlagswesen
  • „Eine Pilzatmosphäre“. Zur Geschichte des Verlagswesens in der Zwischenkriegszeit in Österreich (Murray G. Hall)
  • Österreichische und deutsche Autoren im Bermann-Fischer Verlag in Wien 1936–1938 (Irene Nawrocka)
  • III. Konstruktion des Kanons
  • Zur Poetik der Gemeinschaft. Hugo von Hofmannsthal und die Literatur der 1920er-Jahre (David Österle)
  • Eine vergessene Freundschaft. Józef Wittlin und Joseph Roth (Barbara Surowska)
  • Canetti alternativ gelesen. Zwischen Die Blendung und Auto da Fé (Stefan H. Kaszyński)
  • IV. Intermediales
  • …akustisches Drama, Jazzromane, Kinostil, Technorevue, kinetische Schriftbilder…: Intermedialität und Interdisziplinarität als Komponenten eines Epochenprofils der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit (Primus-Heinz Kucher)
  • „Hochbetrieb im Redaktionssekretariat: Die Mordpost läuft ein!“ Zu Walter Süß’ Wiener Kriminalromanen für das Kleine Blatt, nebst Seitenblicken auf sensationalistische Gerichtssaalreportagen (Rebecca Unterberger)
  • V. Drama und Theater
  • Der Fall Karl Schönherr (Johann Holzner)
  • Auf der Bühne und in der Schule. Die polnische Rezeption von Karl Schönherr in der Zwischenkriegszeit (Markus Eberharter)
  • Volkstheater oder politisches Drama: Jura Soyfers Stücke (Joanna Jabłkowska)
  • „Umsonst gelebt, umsonst gedichtet, umsonst gestorben?“ Der „dreifache Tod“ des Dramatikers Hans Chlumberg (Dagmar Heißler)
  • VI. Romane von Frauen
  • Expressionistische Prosa österreichischer Autorinnen nach 1918 (Johann Sonnleitner)
  • Das vergessene Werk der Grete von Urbanitzky. Eine (Ausnahme-)Frau zwischen Anpassung und Subversion (Verena Humer)
  • Ist das Weib ein Nichts? Vorbilder und Schreckbilder in den österreichischen Romanen von Frauen in der Zwischenkriegszeit (Justyna Górny)
  • VII. Großstadtromane
  • Von Hasen, Huren und Müttern. Überlegungen zum Großstadtroman der Zwischenkriegszeit (Evelyne Polt-Heinzl)
  • Die „verlorene Stadt“. Wien und seine BewohnerInnen in ausgewählten Zeitromanen der Zwischenkriegszeit (Konstanze Fladischer)
  • VIII. Historische Narrationen
  • Reformation und Gegenreformation im historischen Roman der Ersten Republik (Ludwig Mahnert, Karl Itzinger, Maria Veronika Rubatscher) (Sigurd Paul Scheichl)
  • Katholische Literatur zwischen Anpassung und Widerstand. Enrica von Handel-Mazzettis Starhemberger-Romane im Kontext von Austrofaschismus, katholischer Literaturtradition und Moderne (Michaela Klosinski)
  • Außerhalb des Kanons. Paul Busson und seine Zeitkommentare (Aneta Jachimowicz)
  • IX. Heimat- und Bauernromane
  • „[A]ufrührerisch, nicht frömmlerisch“. Liberalistische Tendenzen in Johannes Freumbichlers Philomena Ellenhub (Simone Ketterl)
  • Die Beiträgerinnen und Beiträger
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

Aneta Jachimowicz (Hrsg.)

Gegen den Kanon – Literatur der
Zwischenkriegszeit in Österreich

Herausgeberangaben

Aneta Jachimowicz hat an der Universität Warschau promoviert. Sie arbeitet als Germanistin und Literaturwissenschaftlerin an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn (Polen). Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der österreichischen Literatur.

Über das Buch

Der Band versammelt Beiträge, die über den etablierten Kanon der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich hinausreichen und auf die ästhetischen und formalen Besonderheiten anderer AutorInnen und literarischer Diskurse aufmerksam machen sowie Anlass geben, sich jenseits der arrivierten Literatur umzusehen. Es geht auch um die Frage, inwieweit das besondere Profil der österreichischen Literatur bei nicht kanonisierten Werken evident wird und wie die Kanonisierungen zustande kamen. Die Fallbeispiele geben Einblick in den Literaturbetrieb der Zwischenkriegszeit und zeigen, daß es notwendig ist, die österreichische Literatur dieser Zeit von der Literatur der Weimarer Republik stärker zu unterscheiden.

Zitierfähigkeit des eBooks

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Inhalt

Aneta Jachimowicz

Einleitende Überlegungen zu der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich außerhalb des Kanons

I. Politisch-soziologische Grundlagen

Karol Sauerland

Lasset uns sich selbst verwalten. Gemeinschafts- und Gesellschaftsvorstellungen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und München (mit Ausblick auf Solidarność)

Elisabeth Vyslonzil

Streiflichter aus der Lebenswelt der Ersten Republik Österreich 1918–1938

Alfred Pfoser

Der Krieg ist zu Ende, der Erinnerungskulturkampf beginnt. Politik, Historiographie und Literatur in den ersten Jahren der Ersten Republik

II. Verlage und Verlagswesen

Murray G. Hall

„Eine Pilzatmosphäre“. Zur Geschichte des Verlagswesens in der Zwischenkriegszeit in Österreich

Irene Nawrocka

Österreichische und deutsche Autoren im Bermann-Fischer Verlag in Wien 1936–1938

III. Konstruktion des Kanons

David Österle

Zur Poetik der Gemeinschaft. Hugo von Hofmannsthal und die Literatur der 1920er-Jahre

Barbara Surowska

Eine vergessene Freundschaft. Józef Wittlin und Joseph Roth←5 | 6→

Stefan H. Kaszyński

Canetti alternativ gelesen. Zwischen Die Blendung und Auto da Fé

IV. Intermediales

Primus-Heinz Kucher

…akustisches Drama, Jazzromane, Kinostil, Technorevue, kinetische Schriftbilder…: Intermedialität und Interdisziplinarität als Komponenten eines Epochenprofils der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit

Rebecca Unterberger

Hochbetrieb im Redaktionssekretariat: Die Mordpost läuft ein!“ Zu Walter Süß’ Wiener Kriminalromanen für das Kleine Blatt, nebst Seitenblicken auf sensationalistische Gerichtssaalreportagen, Rundfunkgerichtsspiele und programmatische Stellungnahmen zum Krimi im Feuilleton der 1920er und 1930er-Jahre

V. Drama und Theater

Johann Holzner

Der Fall Karl Schönherr

Markus Eberharter

Auf der Bühne und in der Schule. Die polnische Rezeption von Karl Schönherr in der Zwischenkriegszeit

Joanna Jabłkowska

Volkstheater oder politisches Drama: Jura Soyfers Stücke

Dagmar Heißler

„Umsonst gelebt, umsonst gedichtet, umsonst gestorben?“ Der „dreifache Tod“ des Dramatikers Hans Chlumberg

VI. Romane von Frauen

Johann Sonnleitner

Expressionistische Prosa österreichischer Autorinnen nach 1918←6 | 7→

Verena Humer

Das vergessene Werk der Grete von Urbanitzky. Eine (Ausnahme-)Frau zwischen Anpassung und Subversion

Justyna Górny

Ist das Weib ein Nichts? Vorbilder und Schreckbilder in den österreichischen Romanen von Frauen in der Zwischenkriegszeit

VII. Großstadtromane

Evelyne Polt-Heinzl

Von Hasen, Huren und Müttern. Überlegungen zum Großstadtroman der Zwischenkriegszeit

Konstanze Fladischer

Die „verlorene Stadt“. Wien und seine BewohnerInnen in ausgewählten Zeitromanen der Zwischenkriegszeit

VIII. Historische Narrationen

Sigurd Paul Scheichl

Reformation und Gegenreformation im historischen Roman der Ersten Republik (Ludwig Mahnert, Karl Itzinger, Maria Veronika Rubatscher)

Michaela Klosinski

Katholische Literatur zwischen Anpassung und Widerstand. Enrica von Handel-Mazzettis Starhemberger-Romane im Kontext von Austrofaschismus, katholischer Literaturtradition und Moderne

Aneta Jachimowicz

Außerhalb des Kanons. Paul Busson und seine Zeitkommentare

IX. Heimat- und Bauernromane

Simone Ketterl

„[A]ufrührerisch, nicht frömmlerisch“. Liberalistische Tendenzen in Johannes Freumbichlers Philomena Ellenhub←7 | 8→

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Personenregister←8 | 9→

Aneta Jachimowicz

Einleitende Überlegungen zu der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich außerhalb des Kanons

1. Gegen den Kanon

Eine komplexe Geschichte der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich fehlt bislang. Sie wird meistens in die Literaturgeschichte der Weimarer Republik integriert, worauf bereits österreichische LiteraturwissenschaftlerInnen hingewiesen haben. Auf die Notwendigkeit, die österreichische von der deutschen Literatur oder der Literatur der Weimarer Republik differenziert zu betrachten, machte insbesondere Wendelin Schmidt-Dengler aufmerksam1, und seine Nachfolger sind diesem Wunsch auf verschiedenen Wegen nachgegangen, um zu dem Schluss zu kommen, dass „je besser die österreichische Literatur in ihrer Besonderheit erfasst wird, um so weniger […] sie sich von der deutschen trennen [lässt].“2 Auf den Arbeitstisch der österreichischen LiteraturwissenschaftlerInnen kamen immerhin solche Themen, die von der ‚Höhenkammliteratur‘ – d. h. von den literarischen Berühmtheiten dieser Zeitperiode wie Hofmannsthal, Schnitzler, Musil, Broch, Kraus und Roth – abwichen und der – aus unterschiedlichen Gründen – bisher vernachlässigten bzw. wenig rezipierten Literatur Beachtung schenkten. Zu erwähnen wären hier u. a. die Forschungen zu der völkischen und nationalen Literatur der Zwischenkriegszeit3, zum Anschluss der österreichischen Literatur an das Dritte Reich4 und zur Geschichte des österreichischen PEN-Clubs←9 | 10→ in dieser Zeit5, zur Literatur im Austromarxismus6 sowie im Austrofaschismus7, zu den institutionellen Voraussetzungen der österreichischen Literatur der 1930er-Jahre8, zur Verlagsgeschichte9, zur Provinzliteratur und den heimatverbundenen Autoren10, zur ‚Inneren Emigration‘ in Österreich11 und der österreichischen Literatur im Exil.12 Der erste Versuch, in einem Band die Beiträge zur Literatur und Kultur der Zwischenkriegszeit in Österreich zu sammeln, scheint das 1981 erschienene Buch von Franz Kadrnoska zu sein.13 Weitere breit angelegte Studien ließen einige Jahre auf sich warten: Von großer Bedeutung sind hier die Essays Achbergers14 und die in einem Band zusammengestellten und 2002 veröffentlichten Beiträge Schmidt-Denglers zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit15, der interdisziplinäre Sammelband zu der Literatur in Österreich nach 1918 von Müller und Wagener16, vor allem aber das von Primus-Heinz Kucher koordinierte Projekt zur Literatur und Kultur dieser Zeitperiode, in dessen Rahmen bereits einige intermedial und interdisziplinär angelegte Sammelbände herausgegeben wurden.17←10 | 11→

Dieser Band knüpft an die Idee dieses transdisziplinären Projektes und an das 2012 erschienene Buch von Evelyn Polt-Heinzl an, in dem sich die Autorin zum Ziel setzte, ein – wie es der Untertitel andeutet – „Plädoyer für eine Kanonrevision“ der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit vorzulegen.18 Dabei schrieb die Autorin eine umfassende und detaillierte Literaturgeschichte des betreffenden Zeitraums und legt nahe, dass der so eng gefasste Kanon stereotype Urteile befördere und einseitige Vorstellungen von der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit zur Folge habe. Wofür sie in ihrer Literaturgeschichte plädiert, wird in den letzten Jahren an den Universitäten als Editionsarbeit in Gang gesetzt, mit dem Ziel, die Bedeutung und Relevanz vergessener Autoren und Autorinnen für die Literatur- und Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit in Österreich zu erschließen. Vor allem der vergessenen Frauenliteratur dieses Zeitraums scheint Rechnung getragen zu werden: Gina Kaus, Vicki Baum, Marta Karlweis, Maria Lazar, Anna Freud sind die Schriftstellerinnen, denen die Aufnahme in den Literaturkanon bislang verwehrt war, da ihre Texte für unbedeutend oder irreführend als Unterhaltungsliteratur kategorisiert wurden, was eine nachhaltige Auswirkung auf ihre fehlende Rezeption hatte. Mittlerweile wurden sie neu aufgelegt und ihre verstreuten Materialien gesammelt und monographisch erfasst.19

Beifolgend präsentiert dieser Band die Studien, die über den etablierten Kanon der Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich hinausreichen. Dabei geht es nicht darum, die Bedeutung der großen Persönlichkeiten der österreichischen literarischen Szene dieser Zeit herabzusetzen (ihre Relevanz ist ohne Zweifel unanfechtbar), sondern vielmehr darum, auf die ästhetischen und formalen Besonderheiten der anderen Autoren und Autorinnen und der literarischen Diskurse←11 | 12→ aufmerksam zu machen und einen Anlass zu geben, sich jenseits der arrivierten Literatur umzusehen. Das Ziel ist doppelt angelegt: Einerseits soll ein Beitrag für die Literaturgeschichte der von der Weimarer Republik separat behandelten, also in ihrer Sonderstellung erfassten österreichischen Literatur der Ersten Republik und des ‚Ständestaates‘ geleistet, anderseits an Fallbeispielen das heterogene politische, soziale, kulturelle und vor allem literarische Feld der Zwischenkriegszeit in Österreich aufgezeigt werden. Revision heißt aber nicht Rehabilitation. Dass einige Autoren, die auch in diesem Band behandelt werden, aus dem Kanon gefallen sind oder niemals in den Kanon gelangten, mag auch gute Gründe haben. Einige haben wegen ihrer antisemitischen, völkischen oder nationalsozialistischen Haltung selbst verschuldet, dass sie in Vergessenheit geraten sind, einige disqualifizierten sich durch ihre tendenziöse und antimoderne Weltbetrachtung oder Erzählweise weitgehend selbst; andere wiederum sind durch geschichtliche Ereignisse in des Teufels Küche geraten, wurden Opfer der politisch geprägten Kulturpolitik oder starben zu junge, sodass sie sich keinen festen Platz in der Literaturgeschichte verschaffen konnten. Der vorliegende Band zeigt die leitenden Tendenzen und literaturgeschichtlichen Entwicklungen auf, die zwischen 1918 und 1938 – also von der Gründung der Ersten Republik an über die Zeit des ‚Ständestaates‘ bis hin zum „Anschluss“ – die österreichische Literaturszene prägten, und behandelt Autoren unterschiedlicher politischer Couleurs. Der Bogen wird von den politisch fragwürdigen und heute nur antiquarisch vorhandenen Autoren über diejenigen gespannt, die stark traditionsorientiert und antimodern waren, oder diejenigen, die gesellschaftlich relevante Themen aufgriffen, doch im zunehmenden Nationalismus eine Haltung zwischen Anpassung und Widerstand zeigten, bis hin zu jenen, die eine ultralinke oder avantgardistische Orientierung aufweisen. Der Band ist darüber hinaus ein Versuch, mit Fallbeispielen den neuesten Forschungsstand und die aktuellsten Untersuchungen zu den nicht kanonisierten und vergessenen Autoren und Autorinnen zusammenzustellen, um möglichst breitfächrig die Spezifik der politisch und ästhetisch so unterschiedlichen Literatur der Ersten Republik zu erfassen.

Dem Titel zufolge könnte man von dem Buch theoretische Überlegungen zur Kanonkonstruktion und zeitgemäßen Funktionsbestimmung des Kanons erwarten. Doch der Band an sich gibt keinen Einblick in die Kanonforschung.20 Er←12 | 13→ reflektiert zusammenschauend weder methodologisch noch theoretisch die den Kanon bildenden Mechanismen, auch wenn das Ziel der meisten Beiträge ist, am Beispiel der jeweiligen Autoren und Autorinnen die Gründe für die Unterrepräsentation, die Wertungs- und Kanonisierungsprozesse sowie die institutionellen und sozialen Faktoren für die Kanonbildung zu hinterfragen. „Gegen den Kanon“ ist als eine subjektive Stellung der VerfasserInnen dieser Beiträge der arrivierten Literatur gegenüber zu verstehen – an sich auch ein Phänomen, das selbst der Kanonforschung unterzogen werden könnte. Der Band soll Anstoß geben, sich in weiteren Studien nach den in dieser Zeit entstandenen Kanonisierungswegen der Literatur umzusehen. Da es nicht möglich ist, hier alle österreichischen Autoren analytisch zu behandeln, sollen diese Fallbeispiele einen Umriss der Kanonisierungsprozesse präsentieren sowie die Vielfalt der literarischen Erscheinungen der Zwischenkriegszeit von der modernen Neusachlichkeit bis hin zu Traditionalismus und Antimodernismus aufzeigen.

2. Schwerpunkte

Die Beiträge wurden in neun Themenblöcke unterteilt. Den Auftakt bildet der Themenbereich Politisch-soziologische Grundlagen, in dem der Versuch unternommen wird, eine historische Zusammenschau der Ersten Republik Österreich mit Seitenblicken auf die Idee des Gemeinschaftsdenkens und auf die politische Historiographie dieser Zeit zu präsentieren. Karol Sauerland exemplifiziert am Beispiel unterschiedlich politisch orientierter Denker und Theoretiker der Zwischenkriegszeit, wie die Gemeinschaft als eines der höchsten gesellschaftlichen Ideale und das Anzustrebende begriffen wurde. Ausgehend von Ferdinand Tönnies und seiner im Jahre 1912 großen Anklang findenden Neuauflage der Gemeinschaft und Gesellschaft, in dem der Autor seine These dahingehend auslegte, dass nur die Gemeinschaft Geborgenheit gewähre, geht Sauerland auf das gemeinschaftliche Denken des als Theoretiker des Ständestaates angesehenen Othmar Spann und seiner politischen Widersacher Gustav Landauer und Otto Bauer ein←13 | 14→ und zeigt auf, dass für diese drei politisch so unterschiedlich gesinnten Theoretiker der Gemeinschaftsgedanke zentral war. Man definierte nur das Zusammenleben anders: Während Spann in seiner faschistisch-nationalen Vision auf das harmonische Zusammenwirken einer Nation in einem Ständestaat bestand, schwärmte Landauer für die Genossenschaften und Bauer für die „Selbstregierung der Volksgesamtheit“. Sauerland zieht abschließend einen Vergleich zwischen dem politischen Geschehen nach 1918 und den Bestrebungen der Solidarność-Revolution und zeigt, dass trotz der großen Unterschiede (Aufrechterhaltung der Versorgung und Produktion, Bestrebungen nach nationaler Eigenständigkeit in Österreich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg) für die Zeit nach 1918 in Österreich und 1989 in Polen das gemeinschaftliche Denken Gemeinsamkeiten aufwiesen. Daher lohnt es sich – so die geistige Botschaft, die sich Sauerland in diesem essayistisch konzipierten Beitrag abschließend erlaubt – die Schriften von Spann, Landauer und Bauer „mit kritischem Blick auf die Gegenwart“ zu lesen, um sich klar zu machen, dass Demokratie nie ein für alle Male gegeben sei.

Nach diesem einführenden Beitrag folgt ein historischer Überblick. Elisabeth Vyslonzil zeigt die prekäre Lebenswelt Österreichs nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie auf: die gesellschaftliche Orientierungslosigkeit und scharfe politische Polarisierung. Im Beitrag wird die innenpolitische Situation der Zwischenkriegszeit, die von legitimistischen, ultrarechten, ultralinken oder borniert klerikalen Ansichten geprägt war, beleuchtet. Interessant ist, dass vor allem kulturell erwies sich Österreich der Ersten Republik als höchst fruchtbringender Nährboden mit einer beachtlichen literarischen Produktion, die – von den großen Namen überschattet – nur fragmentarisch in den Kanon eingegangen ist.

Alfred Pfoser thematisiert in seinem Beitrag die heftige ideologische Auseinandersetzung um die Kriegsschuld und die Bewertung des Weltkrieges, die unmittelbar mit dem Ende des Ersten Weltkrieges einsetzte. Gezeigt wird hiermit der politisch motivierte Umgang mit der neuesten Geschichte und der Historiographie: Die Christlichsozialen wiesen jede Verleumdung derer zurück, die bei Kriegsbeginn und im Kriegsverlauf Verantwortung trugen, und würdigten den „legitimen Heroismus“ von Armee und Monarchie. Die Sozialdemokraten dagegen setzten auf den Bruch mit der Vergangenheit und klagten im Namen der Millionen Toten, Invaliden, Vermissten und Kriegsgefangenen die für den Krieg Verantwortlichen an. Pfoser untersucht dabei die Rolle der Literatur in diesem großen Streit der Erinnerungskulturen und beleuchtet insbesondere die Allianz von Sozialdemokratie und Karl Kraus.

Im zweiten Teil des Bandes Verlage und Verlagswesen wird die Geschichte des Verlagswesens in der Zwischenkriegszeit in Österreich dargestellt – ein←14 | 15→ Sachbereich, der für die Rezeption der Literatur und die Kanonbildung von großer Bedeutung war. In seinem Beitrag zeigt Murray G. Hall die schwere Situation des Buchhandels nach dem Ende der Habsburger Monarchie auf: das Wegfallen der sicheren Absatzmärkte in allen Teilen der Monarchie und die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu Beginn des jungen Staates. Doch den schweren Produktionsbedingungen zum Trotz entsteht in der Ersten Republik – wie Hall zeigt – eine „Pilzatmosphäre“, in der zahllose neue Verlage gegründet werden. Auf die Kanonbildung geht auch Irene Nawrocka in ihrem Beitrag über österreichische AutorInnen im Bermann-Fischer Verlag in Wien 1936–1938 ein. Der Verlag übernahm die Rechte der im Dritten Reich nicht erwünschten österreichischen Autoren des S. Fischer Verlages in Berlin und bezog neben den prominenten auch weniger bekannte Autoren in sein Programm ein. Dieses Verlagsprogramm sowie die Arbeit des Verlages werden von Nawrocka näher beleuchtet, wobei das zentrale Anliegen des Beitrages ist zu zeigen, welche Literatur nach Hitlers Machtübernahme von österreichischen Verlagen produziert wurde und wie ihre Produktion und Distribution die Rezeption von Literatur beeinflusste. Es wird deutlich, dass in den 1930er-Jahren der Produktions- und Rezeptionskontext einen großen Anteil an der Kanonbildung hatte.

Etwas verfehlt erscheinen auf den ersten Blick die drei folgenden Beiträge des Teiles Konstruktion des Kanons, in denen drei prominente und unanfechtbar kanonisierte Autoren behandelt werden. Der gemeinsame Nenner für diese Beiträge ist der von außen gesteuerte Kanonisierungsprozess. David Österle beschäftigt sich mit dem Kulturschaffen Hugo von Hofmannsthals in der Rolle des „Kanon-Bildners“ in der Zwischenkriegszeit und zeigt, wie Hofmannsthal im literarischen Diskurs durch verschiedenste editorische Projekte, durch seine Essays und Kritiken als Meinungsmacher und Multiplikator der Literatur agierte. In seiner Tätigkeit als Herausgeber von Anthologien äußert sich dies plastisch im bevorzugten Rückgriff auf klassische, kanonische Texte. Gerade vor dem Hintergrund des nationalen Identitätsvakuums im Anschluss an den Ersten Weltkrieg und aufgrund der zunehmenden Sorge um den Fortbestand der österreichischen Tradition, bleibt Hofmannsthal seinem elitären Verständnis des literarischen Erbes Österreichs auch in der Zwischenkriegszeit treu. Der Beitrag nimmt eben jene Aussparungen und Auslassungen in den Blick und fragt nach Hofmannsthals kulturpolitischem Programm der 1920er-Jahre, auf das diese reagieren.

Barbara Surowska berichtet in ihrem Beitrag über die langjährige Freundschaft des namhaften polnischen Schriftstellers Józef Wittlin mit Joseph Roth und vor allem über ihre Unterschiede in der Einschätzung des Militärs. Im Gegensatz zu Wittlin, der die Uniformierten als entpersönlichte Masse begreift, schwärmt←15 | 16→ Roth für die bunte Montur österreichischer Offiziere, obwohl er dagegen auch ankämpft. Auch wenn die Freundschaft zwischen Roth und Wittlin in der Forschung bereits angeschnitten wurde, geht dieser Beitrag detailliert auf die bislang nicht beachteten Themen ein und zeigt, dass es auch im Falle der längst kanonisierten Autoren Bereiche und Narrationen gibt, die außerhalb des Kanons liegen.

Stefan H. Kaszyński stellt in seinem Beitrag den mühseligen Kanonisierungsprozess von Elias Canettis Roman Die Blendung dar. Die parabolische und vielschichtige Erzählung, die als Diagnose des Zeitalters des Massenwahns konzipiert war, stand gegen ihre Zeit und wurde, trotz positiver Stimmen einiger weitsichtiger Intellektuellen, von ihr abgelehnt. Erst mit dem Erscheinen der von Veronica Wedgwood vorgenommenen englischen Übersetzung des Romans änderte sich schließlich die Rezeption des Werkes, wobei man in Deutschland auf die breite Anerkennung noch einige Jahre warten musste. Damit wird gezeigt, dass der Kanon konstruiert wird und die Gründe für die literarische Unterrepräsentation nicht immer beim Autor liegen.

Den vierten Teil Intermediales machen zwei interdisziplinär konzipierte Beiträge aus. Primus-Heinz Kucher nimmt in seinem Aufsatz die sich in den letzten Jahren ausdifferenzierende Wahrnehmung der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit unter die Lupe und macht anhand einiger Beispiele deutlich, dass zeitgenössische SchriftstellerInnen sich den Wandlungsprozessen gegenüber weit aufgeschlossener und produktiver verhielten, als dies gängige Darstellungen suggerieren. Dabei thematisiert Kucher die kulturellen Phänomene der Zwischenkriegszeit wie die internationale Theater-Avantgarde, die Radio-Kultur und den Revue-Diskurs – Erscheinungen, die eine starke Auswirkung auf die Literatur hatten, die aber in der Forschung wenig Beachtung fanden. Rebecca Unterberger schließt sich mit ihrem ebenfalls interdisziplinären Beitrag an die Auslegungen von Primus-Heinz Kucher an, indem sie sich der enormen Popularität des ‚modernen Kriminalromans‘ und vor allem der Rezeption der Krimis von Walter Süß zuwendet. Unterberger präsentiert den Wiener Kriminalroman der 1920er und 1930er-Jahre, der sich damals großer Popularität erfreute und inzwischen als Unterhaltungsgenre in Vergessenheit geraten ist, als ein neues soziologisches Phänomen: Die Leserschaft war durch Zusendungen von Briefen an die Redaktion an der Konzeption der weiteren Handlung der in den Zeitschriften publizierten Erzählungen aktiv beteiligt, oder sie entschied im gesendeten Rundfunk-Gerichtsspiel über das weitere Schicksal der Protagonisten. Die Gerichtssäle lieferten genug Material für den literarischen Stoff. Die Literatur wurde dadurch intermedial, interaktiv und nicht nur für, sondern auch von der Allgemeinheit geschrieben.←16 | 17→

Im fünften Themenblock des Bandes Drama und Theater bilden die ersten zwei Beiträge eine Einheit. Johann Holzner präsentiert die Karriere und das spätere Vergessen des Werkes von Karl Schönherr, dem neben Schnitzler erfolgreichsten österreichischen Dramatiker, dessen Stücke vor und während des Ersten Weltkrieges im Burgtheater oder im Deutschen Volkstheater in Wien aufgeführt wurden. Nach dem Krieg ging das Interesse an seinen Stücken zurück. Schönherr ist außerhalb des Kanons geraten auch deswegen, weil er sich von den Nationalsozialisten hat faszinieren lassen. Holzner zeigt die Rezeptionsgeschichte des Werkes von Schönherr auf und unterzieht einige seiner Dramen einer gründlicheren Analyse. Die Re-Lektüre seiner Texte wurde lange Zeit nicht angeboten, da Schönherr unter einem Generalverdacht stand. Dass sich auch die LiteraturwissenschaftlerInnen der 1968er-Generation dem Werk Schönherrs nicht zuwandten, lag – so Holzner – an ihrer Antipathie der Heimatliteratur gegenüber. Die wissenschaftliche Voreingenommenheit erscheint also für die Kanonbildung auch konstitutiv.

Markus Eberharter legt am Beispiel der polnischen Rezeption der Stücke Schönherrs in der Zwischenkriegszeit dar, wie der Kanonisierungsprozess der österreichischen Literatur in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie in Polen ausgesehen hatte. Eberharter zeigt, dass Schönherr in Polen bis in die 1930er-Jahre zu den regelmäßig inszenierten und gedruckten ausländischen Schriftstellern zählte, obwohl er in Österreich nach 1918 nicht mehr so populär war wie vor und während des Ersten Weltkrieges. Darüber hinaus untersucht er die polnischen Lesarten von Schönherr, vergleicht sie mit der zeitgenössischen Rezeption in Österreich und lässt so Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich werden.

Details

Seiten
480
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631703892
ISBN (PDF)
9783653067309
ISBN (MOBI)
9783631703908
ISBN (Hardcover)
9783631672167
DOI
10.3726/978-3-653-06730-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
Österreichische Literatur Kanonrevision Erste Republik Vergessene AutorInnen Weibliches Schreiben Intermediales
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 480 S.

Biographische Angaben

Aneta Jachimowicz (Autor:in)

Aneta Jachimowicz hat an der Universität Warschau promoviert. Sie arbeitet als Germanistin und Literaturwissenschaftlerin an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn (Polen). Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der österreichischen Literatur.

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Titel: Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich
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