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Tabuisierte Sprachvarietäten im Russischen und ihre Übersetzung ins Deutsche

Ein theoretischer Abriss und Übersetzung ausgewählter Textpassagen aus Ėduard V. Limonovs Werk «Ėto ja – Ėdička» ins Deutsche

von Sebastian Wagner (Autor:in)
©2016 Dissertation 129 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor beschäftigt sich unter linguistischer Betrachtungsweise mit dem tabuisierten obszönen Lexikon (Mat) im Russischen sowie Möglichkeiten der Übersetzung ins Deutsche. Er widmet sich der Etymologie von sexuellen und skatologischen Lexemen, den Möglichkeiten der Wortbildung sowie der Semantik obszöner tabuisierter und formaltabuisierter sowie allgemeinsprachlicher Lexeme mit sexueller und skatologischer Bedeutung. Zudem untersucht er sowohl Funktionen, die über die bloße Signifikation hinausgehen, als auch Verbreitung und Verwendung sowie Hergang der Tabuisierung. Anhand ausgewählter Textpassagen aus dem Werk Limonovs bietet er schließlich eine Übersetzung dieser Lexeme.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Der MAT im Sprachsystem des Russischen
  • 2.1 Versuch einer Definition und Abgrenzung zum obszönen Lexikon
  • 2.2 Etymologie
  • 2.2.1 Lexeme mit slavischer Herkunft
  • 2.2.2 Lexeme mit fremdsprachlicher Herkunft
  • 2.2.3 Ёб твою мать
  • 2.3 Wortbildung
  • 2.3.1 Substantive
  • 2.3.1.1 Suffigierung
  • 2.3.1.2 Analogiebildung
  • 2.3.1.3 Verballhornung
  • 2.3.1.4 Komposition
  • 2.3.2 Verben
  • 2.3.2.1 Ableitung von Primärverben
  • 2.3.2.2 Denominative Bildung
  • 2.3.3 Adjektive
  • 2.3.4 Adverbien und Partikeln
  • 2.3.5 Interjektionen
  • 2.4 Semantik
  • 2.4.1 Obszönes für Nichtobszönes
  • 2.4.1.1 Substantive
  • 2.4.1.2 Verben
  • 2.4.1.3 Adjektive und Partizipien
  • 2.4.1.4 Adverbien und Partikeln
  • 2.4.1.5 Füllwörter und Interjektionen
  • 2.4.1.6 Wortverbindungen und stabile Wendungen
  • 2.4.2 Nichtobszönes für Obszönes
  • 2.4.2.1 Die Geschlechtsorgane betreffende Lexeme
  • 2.4.2.2 Den Geschlechtsverkehr betreffende Lexeme
  • 2.4.3 Obszönes für Obszönes
  • 2.4.3.1 Substantive
  • 2.4.3.2 Verben
  • 2.4.3.3 Adjektive und Partizipien
  • 2.5 Funktionen
  • 2.5.1 Betitelung sexueller und skatologischer Signifikanten
  • 2.5.2 Expressivität
  • 2.5.3 Verspottung
  • 3. Der MAT als tabuisierte und zugleich ubiquitäre Sprachvarietät
  • 3.1 Verbreitung und Verwendung
  • 3.2 Tabuisierung
  • 4. Der MAT in Ėduard V. Limonovs Werk Это я – Эдичка
  • 4.1 Über den Autor Ėduard V. Limonov
  • 4.2 Kurzer Abriss über das Werk
  • 4.3 Im Werk verwendete Matismen und deren Bedeutungen
  • 4.3.1 Zur äquivalenten Übersetzung von Matismen
  • 4.3.2 Funktionen im Allgemeinen
  • 4.3.3 Bedeutungsübersetzungen ausgewählter verwendeter Matismen
  • 4.3.3.1 Пизда und Derivative
  • 4.3.3.2 Хуй und Derivative
  • 4.3.3.3 Ебать und Derivative
  • 4.3.3.4 Блядь und Derivative
  • 4.3.3.5 Weitere obszöne Lexeme
  • 5. Abschließendes Resümee
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis

1.    Einleitung

Невозможно жить без мата –

Как вчера было пиздато!

Не найдёшь другого слова,

Если утром так хуёво.1

Das angeführte Zitat entstammt einem Lied der russischen Ska-Punk-Band Ленинград und besagt, dass ein Leben ohne мат nicht möglich sei. Doch ist ein Leben ohne ihn wirklich nicht möglich? Welche Funktionen erfüllt er, dass man dies über ihn sagt? Die angeführten subjektiven Meinungen2 über ihn zeigen zumindest, dass ihn jeder kennt und seine einfallsreiche Verwendung, d. h. in bestimmten Dosen und Situationen, sowohl in der mündlichen als auch Schriftsprache und Literatur, durchaus nicht negativ beurteilt wird. Dennoch könne man ihn missbrauchen und falsch verwenden. Er sei wie eine scharfe Würze zu einem Essen und müsse genau deswegen vorsichtig verwendet werden. Sein Lexikon sei riesig und er könne so gut wie jeden normsprachlichen Gedanken ersetzen. Zudem sei es mithilfe des мат auf besondere Weise – manchmal sogar durch ihn – möglich, und das im Gegenzug zu normsprachlichen Worten, Emotionen in Worte zu fassen sowie Expressivität auszudrücken. Indes gibt es aber auch solche Russen, die ihn für eine Schande der Sprache halten und für die er zu einer Degradierung der Gesellschaft und Entartung der Nation führe. Doch wie definiert sich der мат überhaupt und warum sprechen sich einige gegen ihn aus, wenn er doch Teil des Russischen ist? In welchen Situationen ist er erlaubt? Entstammen die betreffenden Lexeme dem Slavischen oder kam der мат durch andere Völker ins Russische bzw. die slavischen Sprachen? Und wenn sein Lexikon so reichhaltig ist, gibt es auch in dieser nicht kodifizierten Varietät des Russischen de facto Wortbildungsregeln und eine klar strukturierte Semantik? Wer verwendet ihn und warum existiert er noch, wenn er doch unerwünscht – tabuisiert – ist und die Staatsduma 2013 sogar ein Gesetz verabschiedete, dass seine Verwendung in den Massenmedien untersagt?

Der Sprachwissenschaftler V. M. Mokienko von der St. Petersburger Staatlichen Universität meint, dass der мат seine Wurzeln noch in alten Zeiten habe – ← 11 | 12 → und genau dort soll diese Ausarbeitung, nachdem der Versuch unternommen wird, den мат als Sprachvarietät des Russischen zu definieren, auch beginnen. Es wird einen Überblick über die Etymologie slavischer Matismen – im engeren und weiteren Sinne, wie im nächsten Kapitel darlegt wird – geben, dabei auch fremdsprachliche obszöne Lexeme erwähnt und die magische Redewendung еб твою мать näher beleuchtet werden. Ich werde aufzeigen, dass der мат eine rein slavische und in Teilen sogar indogermanische Herkunft besitzt, und dass die soeben erwähnte Redewendung eine von mehreren Forschern durchaus glaubhaft beschriebene mythologische Herkunftsgeschichte besitzt. Denn bei genauer Betrachtung stellt man fest, dass der Redewendung in der heutzutage üblichen Form ein Subjekt fehlt, was für das Russische zwar nicht untypisch, aber gänzlich ohne Kontext dennoch nicht möglich ist.

Daran anschließend werde ich mich dem reichhaltigen Wortschatz des russischen мат widmen und Wortbildungsverfahren sowie seine Semantik untersuchen. Auf Seiten der Wortbildung wird deutlich werden, wie produktiv die wenigen den мат manifestierenden Lexeme sind, und welche Verfahren es innerhalb der einzelnen Wortarten gibt, neue Lexeme zu bilden. Das umfangreiche Subkapitel, das sich mit der Semantik beschäftigt, wird aufzeigen, dass die Bedeutung von Matismen – besonders im übertragenen Sinne gebrauchte – oftmals durch eine Interpretation herausgefunden werden muss, da einzelne Lexeme mehrere Bedeutungen besitzen, die wiederum nicht (vollends) schriftlich fixiert sind. Durch unterschiedliche Affixe kann die Bedeutung von Lexemen auch im мат besonders differenziert werden. Dabei haben Affixe jedoch nicht immer ihre eigentliche Bedeutung, da die Wortbildung durch Analogiebildung stattfinden kann. Letztendlich wird sich zeigen, dass vermittels von Matismen eher Gedanken der Bereiche des alltäglichen Lebens abgedeckt werden können, die mit physischer „Arbeit“ zu tun haben.

Im nächsten Kapitel werde ich mich der Verwendung, Verbreitung und Tabuisierung der Matismen widmen. Es wird deutlich werden, dass Matismen die russische Kultur schon sehr lange begleitet haben und weiterhin begleiten werden, und dass – wider die eigentliche Annahme, dass nur Männer Matismen benutzen – auch Frauen schon lange keinen Bogen um ihre Verwendung machen, was daran liegt, dass eine Tabuisierung nicht bereits vorlag, als sich diese Lexeme herausbildeten, sondern erst später stattfand. Dennoch wird deutlich, dass es bestimmte soziale Gruppen gibt, die Matismen stärker verwenden als andere.

Das vierte Kapitel widmet sich der Übersetzung von мат in eine andere Sprache. Dabei wird sich zeigen, wie schwer es ist, Matismen in eine andere Sprache zu übertragen. Denn es stellt sich hier nicht nur eine linguistische sondern ebenso ← 12 | 13 → kulturelle Aufgabe. Schimpfsprache muss auch als solche übersetzt werden, was sich – darunter im Besonderen bei rein formalsexuellen und formalskatologischen Lexemen – als kompliziert erweist. Dostoevskij soll einmal ein Gespräch zwischen mehreren Arbeitern mitbekommen haben, dass nach seinen Worten nur aus einem einzigen Wort bestand. In Wirklichkeit war es natürlich nicht nur ein Wort, aber unterschiedlich intonierte Derivative eines einzigen primären Lexems, die völlig unterschiedliche Bedeutungen haben. Sinngemäß könnte das Gespräch in etwa folgendes gewesen sein:

Zur Übersetzung in eine andere Sprache müssen deshalb unbedingt die Funktionen des verwendeten Matismus mit einbezogen und die kulturellen Begebenheiten beachtet werden. Es wird sich zeigen, dass deshalb eine buchstäbliche Übersetzung nicht immer möglich ist. Um dies zu demonstrieren, widme ich mich dem Werk Это я – Эдичка von Ė. V. Limonov, in dem Matismen vorkommen. Der Schriftstellerin T.N. Tolstaja zufolge sind sie ein sehr gutes und starkes Ausdrucksmittel – aber nur gut dosiert verwendet, wenngleich sie in der Literatur nur vorsichtig angewandt werden dürfen. Und je weniger sie verwendet werden, desto stärker sei ihr Effekt. Bei Limonov, einem Skandalautor, ist genau dies aber nicht der Fall. Es gibt nahezu keine Seite, auf der nicht mindestens ein Matismus auftaucht. Welche Gründe es dafür gibt, welche Funktionen Matismen bei ihm erfüllen und wie man diese ins Deutsche übersetzen kann, versuche ich abschließend zu klären. ← 13 | 14 → ← 14 | 15 →


1       Teksty pesen: Tekst pesni Leningrad – Bez mata.

2       Die aufgeführten Meinungen entstammen einer Befragung von Muttersprachlern über das Internet. Aus Anonymitätsgründen sind in den meisten Fällen nur der Vorname und das Alter angegeben.

3       Timroth (1983), S. 106 f.

2.    Der MAT im Sprachsystem des Russischen

2.1    Versuch einer Definition und Abgrenzung zum obszönen Lexikon

Когда чувство нормы воспитано в человеке,

тогда-то начинает он чувствовать всю

прелесть обоснованных отступлений от нее.

Л.В. Щерба4

In Verbindung mit dem obszönen Lexikon des Russischen wird zumeist der Begriff мат genannt oder auch als Synonym für jenen verwendet5, obwohl die Relation zum obszönen Wortschatz noch nie deutlich war.6 Der Bereich des мат ist von der russischen Sprache nicht zu trennen7, in der Wissenschaft stark umstritten sowie mit einem Tabu belegt. Die Forschung dazu ist gering und die Sprachwissenschaft befasst sich mit Matismen nur karg.8 Die Rektorin der St. Petersburger Universität L. A. Verbickaja meint dazu sogar, dass der мат Gegenstand der Forschung werden müsse. Denn eine wissenschaftliche Untersuchung solcher Lexeme führe näher an ein Verständnis ihres Wesens und ihrer Funktionen im Sprachsystem heran.9 Ungeachtet dessen werden in verschiedenen Wörterbüchern unterschiedliche Definitionen genannt, die weder eindeutig noch einheitlich sind. Die Ungleichheiten im Verständnis von мат beruhen dabei auf zwei Fragestellungen. Zum einen stellt sich die Frage, ob als Mutterflüche lediglich die Wendungen bezeichnet werden, welche invektive Verbindungen aus Koitus und Mutter beinhalten (= матерщина). Und zum anderen ist ungewiss, ob nur genitalsexuelle oder ebenso skatologische Lexeme und die des sexuellen Milieus als Matismen gefasst werden können (= матерные слова).10

In Wörterbüchern finden sich unter dem Begriff мат nur kurze oder gar keine Erklärungen. So beschreibt Ožegov ihn in seinem Wörterbuch als „неприлично-гнусная брань с упоминанием слова `мать´“11, währenddessen im vierbändigen ← 15 | 16 → Wörterbuch von V. I. Dal‘ das Wort nur unter anderen (nicht obszönen) Bedeutungen aufgeführt ist. Für andere Lexikographen steht der Begriff мат für die неприличная брань oder неприличная брань, содержащая слово мать. Мат ist somit nur Synonym für матерщина. Allein die Grammatik der russischen Sprache dehnt den Begriff weiter aus, indem sie ebenfalls von сквернословие spricht, was als „mit unanständigen Lexemen durchsetzte Rede“ übersetzt werden kann, und dem Phänomen мат deutlich näher kommt.12

Für Dreizin und Priestley besteht der мат aus sexuellen und skatologischen Lexemen sowie dem Wort блядь. Sie definieren мат nicht als Wortfeld sondern als System:

Details

Seiten
129
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653067866
ISBN (ePUB)
9783653957761
ISBN (MOBI)
9783653957754
ISBN (Paperback)
9783631674956
DOI
10.3726/978-3-653-06786-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Mat Tabuwortschatz Semantik Etymologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 129 S.

Biographische Angaben

Sebastian Wagner (Autor:in)

Sebastian Wagner studierte Russisch und Philosophie an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg und der Moskauer Staatlichen Universität «M.V. Lomonosov». Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Varietätenlinguistik sowie Morphologie und Lexikologie der russischen Gegenwartssprache.

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